23. Juni 2015

„EBM ist nichts Akademisches”

Foto: BilderBox

PORTSCHACH SPEZIAL – Im Vorfeld der Apotheker-Tagung räumt Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner mit Mythen zu evidenzbasierter Medizin auf und erklärt, warum Aut idem und Medikationsmanagement „fantastisch“ wären.

 

Herr Prof. Gartlehner, wie definieren Sie evidenzbasierte Medizin (EBM)?

 

EBM ist ein ganz einfaches Konzept. Es bedeutet, dass das beste verfügbare Wissen bei klinischen Entscheidungen in der Medizin oder bei Entscheidungen von Apothekern mit einbezogen werden soll. Das ist eigentlich das, was Patienten ohnehin erwarten. Aus der Praxis wissen wir aber, dass das häufig nicht der Fall ist. Meistens aus einem guten Grund – wegen der enormen Informationsflut. Es werden zwei bis drei Millionen medizinische Artikel pro Jahr publiziert und es ist absolut unmöglich, als Einzelner up to date zu bleiben.

 

Aber was ist das beste verfügbare Wissen? Geht es da um die Spitze der Evidenzhierarchie, die Metaanalysen?

 

Ja, da geht es um die Evidenzhierarchie. In der Praxis bei Ärzten und Apothekern besteht das beste verfügbare Wissen meistens aus sogenannten systematischen Übersichtsarbeiten, weil diese viele Studien, manchmal hunderte, zusammenfassen. Wenn man die systematischen Übersichtsarbeiten statistisch auch noch zusammenfasst, dann sind sie Metaanalysen.

 

Wo ziehen Sie die Grenzen der EBM?

 

Wenn ich nochmals zurückkommen darf: Das beste verfügbare Wissen ist nur eine Säule. Die soll natürlich nicht alleinig, sondern gemeinsam mit der Erfahrung des Arztes bzw. des Apothekers sowie mit Werten und Präferenzen des Patienten verwendet werden. Diese drei Säulen – Wissen, Erfahrung, Patientenpräferenzen und -werte – würden die ideale EBM ergeben. In der Praxis ist es aber meistens so, dass Erfahrung dominiert und Patientenpräferenzen sowie das beste verfügbare Wissen außen vor gelassen werden.

 

Die drei Säulen sind also gleichwertig?

 

Na ja, das hängt von der Situation ab. Wenn Sie in einem Notfall jemanden reanimieren, können Patientenwerte oft nicht erhoben und mit einbezogen werden. Bei Vorsorgeuntersuchungen ist das wieder ganz anders, weil es keinen drängenden medizinischen Handlungsbedarf gibt. Da kann man Vor- und Nachteile des Vorgehens mit dem Patienten ausgiebig besprechen.

 

Weshalb sollten sich Apotheker zu EBM fortbilden und die Pörtschacher Tagung besuchen?

 

EBM ist eindeutig die Zukunft der Medizin und die Zukunft des Gesundheitssystems, daran führt kein Weg vorbei. Wir wissen das deshalb, weil Österreich hier 15 bis 20 Jahre hinter internationalen Entwicklungen nachhinkt. Es zeichnet sich jetzt in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern, die uns da schon voraus sind, ziemlich genau ab, in welche Richtung Österreich gehen muss, damit wir mit unserer Gesundheitsversorgung am Puls der Zeit bleiben. EBM oder das Verständnis, was das überhaupt ist, ist auch etwas Notwendiges für Apotheker, um in der Zukunft im Gesundheitssystem gut integriert mitarbeiten zu können.

 

Cochrane Österreich, deren Direktor Sie sind, wurde eingeladen, das Tagungsprogramm zusammenzustellen. Nach welchen Gesichtspunkten sind Sie vorgegangen?

 

Wir versuchen mit dem Programm einen Überblick zu geben: Was ist EBM? Wie geht man effizient an EBM heran? Wir wollen Skills vermitteln, die Apotheker in der Praxis auch brauchen können. Und wir wollen einen Mythos aufklären: EBM ist nichts ‚Akademisches‘, sondern kann und soll in der Praxis angewandt werden. Wir möchten ein bisschen die Berührungsängste nehmen.

 

Zu Ihrem Vortrag „Optimales Medikamentenmanagement braucht das beste verfügbare Wissen“: Wo sehen Sie da die Rolle der Apotheker, die ja nicht verordnen?

 

Ich werde in meinem Vortrag einen Überblick geben, warum es wichtig ist, dass evidenzbasierte Entscheidungen mehr als nur datengetriebene Entscheidungen sind. EBM soll, wie vorhin gesagt, wirklich ein Zusammenspiel von Erfahrung, Patientenwerten und externer Evidenz sein. Ich werde auch darauf eingehen, dass EBM ein Instrument für Wissensmanagement ist, weil man eben mit dem Lesen nicht ‚nachkommt‘. Die systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen sind Instrumente, an denen man nicht mehr vorbei kommt, wenn man halbwegs up to date bleiben will.

Gartlehner: „Medikationsmanagement wäre absolut fantastisch! Im Sinne der Patienten könnten die Apotheker eine extrem wichtige Rolle übernehmen.“
Gartlehner: „Medikationsmanagement wäre absolut fantastisch! Im Sinne der Patienten könnten die Apotheker eine extrem wichtige Rolle übernehmen.“

Zur Rolle der Apotheker: Sie verordnen nicht, das stimmt. Aber es gibt gute Studien, die erhoben haben, wo sich Patientinnen und Patienten in Österreich über Medikamente und medizinische Behandlungen informieren: Apotheker stehen hier nach den Ärzten und der Familie an dritter Stelle. Das heißt, die Bevölkerung sieht die Apotheker schon als extrem wichtige Quelle für Wissen in der Medizin und in der Behandlung. Österreich ist eines der letzten europäischen Länder, in denen es die Aut-idem-Verordnung noch nicht gibt, also wo der Apotheker gleichwertige Medikamente nach bestem Preis-Leistungsverhältnis aussuchen kann.

 

Sie sind also für eine Aut-idem-Regelung?

 

Ja, absolut. Weil wir wissen, wie beeinflussbar die Ärzte bei Verschreibungsmustern sind und wie beeinflussbar die Ärzte durch Pharmavertreter bzw. durch medizinische Meinungsbildner sind. Es gibt über den „Return of Investment“ ganz interessante vertrauliche Dokumente der Pharmaindustrie, die im Zuge von Klagen in den USA bekannt geworden sind: Wenn man einen Euro in einen Pharmavertreter investiert, dann bekommt man im Schnitt zwei Euro an Mehrverschreibungen von den Ärzten zurück.

 

Und das ist bei den Apothekern nicht so?

 

Das ist die Frage … Ich glaube, bei Aut-idem wird – neben der Gleichwertigkeit der Medikamente in Bezug auf Vor- und Nachteile – schon mehr nach dem Kostenaspekt entschieden. Dieser spielt derzeit bei den Ärzten kaum eine Rolle. Was schon auch ein Problem bei Apothekern ist: Sie haben natürlich ein wirtschaftliches Interesse und setzen sehr viel Geld mit nicht verschreibungspflichtigen Präparaten um. In manchen Apotheken ist das der Hauptteil des Umsatzes. Aber auch hier schulden sie ihren Kunden ausgewogene Informationen. Und da sehe ich noch viel Handlungsbedarf bei den Apothekern, dass sie auch kritisch und patientenorientiert denken.

 

Welche Wissensquellen empfehlen Sie?

 

Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Cochrane z.B. (siehe Infokasten) arbeitet in einem Projekt in der Schweiz daran, die wesentlichsten Abstracts professionell ins Deutsche übersetzen zu lassen. Ich glaube, das wird dann eine wichtige Informationsquelle für deutschsprachige Apotheker und auch Ärzte werden, weil medizinisches Englisch für viele eine Barriere ist. Bis dahin gibt es sehr gute, evidenzbasierte Patienteninformationen z.B. beim IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) in Deutschland, auf www.gesundheitsinformation.de. Wir haben www.medizin-transparent.at, wo österreichische Bürgerinnen und Bürger, auch Apotheker, anfragen können, wenn sie in den Medien etwas lesen und von Kunden danach vermehrt gefragt werden (siehe auch Artikel auf Seite 5 und 6).

 

Was halten Sie vom Medikationsmanagement, das jetzt in Deutschland in Form eines „Medikationsplans“ in der heißen Phase ist und in Österreich seitens der Apotheker ebenfalls forciert wird?

 

Ja, das wäre absolut fantastisch! Wir wissen, dass die Ärzte untereinander zu wenig kommunizieren und dass zu viele Medikamente bzw. Medikamente, die Interaktionen haben, verschrieben werden. Da wären die Apotheker ein fantastischer Knotenpunkt, wo das Ganze mit Software oder mit Hilfe der E-Card zusammenläuft. Das wäre auch im Sinne der Patienten eine extrem wichtige Rolle, wenn das die Apotheker übernehmen könnten.

 

Nochmals zur Evidenzhierarchie, an deren Spitze Metaanalysen und systematische Übersichtsarbeiten stehen. Gibt es hier bessere und schlechtere?

 

Bei den systematischen Übersichtsarbeiten gibt es Institutionen wie z.B. die Cochrane Collaboration oder die Campbell Collaboration, die sehr hohe Qualitätsstandards haben und interessenskonfliktfrei arbeiten. Da fließt kein Geld der Industrie hinein. Innerhalb dieser Collaborations gibt es bessere und schlechtere, aber man kann zumindest einen gewissen Standard annehmen. Natürlich finanziert auch die Industrie systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen. In der Praxis kann es wirklich zeitaufwendig sein, die Methoden zu lesen und zu evaluieren. Die Zeit hat niemand, der jetzt klinisch arbeitet oder in der Apotheke steht, daher ist es wichtig auf Institutionen wie Cochrane und Campbell zugreifen zu können und zu wissen, die Qualität ist gut und die Arbeiten sind unabhängig.

 

Und wenn es keine Metaanalysen oder randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) gibt?

 

Wenn es keine Metaanalysen oder überhaupt keine Evidenz gibt, dann werden die anderen beiden Säulen wichtiger, also die eigene Erfahrung und die Patientenpräferenzen. Ein häufiger Irrtum von gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern bzw. Kostenerstattern ist es, dass sie das Nichtvorhandensein von Evidenz mit Nichtwirksamkeit gleichsetzen. Aber wir können nur sagen: Wir wissen es nicht, wir haben keine Studien dazu, es könnte sowohl in die eine oder andere Richtung gehen. Es gibt in der Medizin sehr vieles, nämlich ungefähr 50 Prozent, von dem wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob es wirksam ist. Wir können jetzt aber natürlich nicht 50 Prozent der Medizin abschaffen, nur weil wir keine RCTs dazu haben.

 

Der deutsche Gastroenterologe Prof. Thomas Weinke hat gemeint, nicht alles müsse man mit Evidenz belegen, manchmal reiche der gesunde Menschenverstand. Als Beispiel gab er die „erschreckend dünne“ Datenlage zur Lebensmittelhygiene als Reisediarrhö-Prophylaxe an, aber es gebe ja auch keine Studien zum Flugzeugsprung mit Rucksack vs. Fallschirm …

 

Ja, genau, der Hausverstand soll nicht durch fehlende Evidenz ersetzt werden. Die Pockenimpfung z.B. wurde nie mit RCTs getestet und die Pocken sind trotzdem ausgerottet. Oder wenn man so will: Das Benutzen von Fallschirmen führt zu einem großen Behandlungseffekt, dazu braucht man keine Studien. Studien sind immer dann wichtig, wenn die Behandlungseffekte relativ klein sind, aber doch klinisch wichtig. Dann muss man versuchen, alle möglichen Störfaktoren auszuschließen. Es gibt aber auch viele Interventionen, zu denen es keine Studien geben wird, weil kein finanzielles Interesse dahintersteckt. Mir fallen z.B. die Topfenwickel ein, die gut helfen, wenn bei Gonarthrose das Knie anschwillt. Dazu wird es wahrscheinlich nie eine Studie geben, weil die Topfenindustrie nicht die Mittel hat (lacht) … Das sind aber trotzdem wichtige Informationen und deswegen betonen wir auch immer primär, dass wir das beste verfügbare Wissen benutzen sollen.

 

Zu welcher Intervention hätten Sie persönlich gerne eine RCT?

 

Es gäbe ja viel … Wo wirklich große Lücken im Wissen sind, ist alles, was in Richtung Alternativmedizin geht. Da erfolgt sehr viel Abzocke der Bevölkerung. Alternativmedizin muss sich auch nicht den wissenschaftlichen Kriterien stellen, denen sich z.B. Medikamente stellen müssen. Da wären schon gute, solide Studien notwendig.

 

Das Argument ist immer, dass diese Therapien, z.B. die Homöopathie, so individuell – schon in der Anamnese – sind, dass Studien darüber gar nicht verblindet gemacht werden können. Oder wie würden Sie solche Studien anlegen?

 

Ja, das ist ein häufiges Argument. Aber chirurgische Interventionen können Sie auch nicht verblinden. Man muss jetzt Homöopathie nicht standardisieren, aber man kann natürlich sagen: Wir nehmen zwei Gruppen, die einen bekommen individualisierte Homöopathie lege artis, die anderen bekommen einfach Zuckerkügelchen. Patienten und Ärzte würden es nicht wissen. Und was man immer machen kann: Jene, die die Endpunkte erheben, müssen verblindet sein und dürfen nicht wissen, wer was bekommen hat. Dann hätten wir schon ein viel besseres Studiendesign als das, was es sonst in der Homöopathie leider oft gibt.

 

Warum wird das nicht gemacht?

 

Ich weiß es nicht, keine Ahnung … Es gibt schon auch gut gemachte Studien, die zeigen dann meistens, dass Homöopathie nicht wirkt. Dann gibt es auch viele Studien, die schlecht gemacht sind oder ein wirtschaftliches Interesse haben, die zeigen, dass Homöopathie doch etwas bringt. Im Endeffekt gibt es keine wirklich klare Antwort darauf. Grundsätzlich ist es wahrscheinlich auch eine schwierige ethische Frage: Ist es überhaupt ethisch etwas zu verordnen, wenn bewiesen ist, dass es nicht wirkt? Auf der anderen Seite wissen wir, dass viele Patienten sehr gut auf Placebo ansprechen.

In vielen Fällen ist Homöopathie wahrscheinlich besser, als Antibiotika oder sonstige Medikamente mit Nebenwirkungen für jede Verkühlung zu nehmen. Ich bin mir selber auch irgendwie unklar. Alternativmedizin hat schon einen Stellenwert und eine Wichtigkeit, auch um vielleicht Schaden durch Medikamente zu verhindern. Auf der anderen Seite muss sie sich auch der Wissenschaftlichkeit stellen. Nur die Argumentation, wir sind etwas Besonderes und deswegen brauchen wir keine Studien zu machen, greift zu kurz.

 

Was würden Sie sich sonst noch zum Thema EBM wünschen?

 

Es gibt in Österreich noch viele Widerstände gegen EBM, v.a. vonseiten der Ärztekammer-Funktionäre. Da geht es einfach um Pfründe und sonstige vermeintlich „wohlerworbene Rechte“. Ich würde mir wünschen, dass die Patienten mehr Druck aufbauen und sagen: Wir wollen nach dem besten verfügbaren Wissen behandelt werden. Wir wollen nicht so behandelt werden, wie es die pharmazeutische Industrie den Ärzten sagt, sondern wir wollen kritische Ärzte, die Studien lesen können. Wir wollen nach internationalem Wissen behandelt werden und nicht nach „ärztlicher Kunst“.

 

Wie könnte dieser Druck aufgebaut werden?

 

Als einzelner Patient kann ich das einfordern. Man kann den Arzt fragen: Wie evidenzbasiert ist das jetzt, was sind die Vorteile, die Nachteile? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich darauf anspreche oder dass ich negative Effekte habe? Genauso müssten die Patientenorganisationen einfordern, dass evidenzbasiert gearbeitet wird.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

– ZUR PERSON

Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH, ist Direktor von Cochrane Österreich und Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems.

Was ist Cochrane?

Cochrane ist eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlern, Ärzten, Epidemiologen, Patienten und Konsumenten mit dem Ziel, durch das Zusammenstellen des besten verfügbaren Wissens die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Cochrane ist not-for-profit und interessenskonfliktfrei – es darf kein Geld von der Industrie zu Cochrane fließen. Weltweit gibt es zirka 32.000 Menschen aus 120 Ländern, die bei Cochrane mitarbeiten. „Die meisten machen das unbezahlt in ihrer Freizeit und aus Liebe zur Wissenschaft“, sagt Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner. Nur etwa fünf Prozent der Mitarbeiter werden öffentlich finanziert, z.B. für Koordinationsaufgaben und methodische Begleitung der Arbeiten. Cochrane Österreich (Bezeichnung seit 2015, vorher: Österreichische Cochrane Zweigstelle) gibt es seit 2010 und wird durch das Land NÖ finanziert.

„Wir sind eine der wenigen Cochrane-Einheiten, die nicht vom Staat finanziert werden“, informiert Gartlehner. Dänemark z.B., das vergleichbar klein ist, investiere sogar 3 Mio. Euro ins nordische Cochrane-Zentrum, weil ihnen neutrale Bewertungen medizinischer Behandlungen und objektive Zusammenfassungen wissenschaftlicher Studien so wichtig seien. Um Fehler möglichst auszuschließen, wird fast jeder Schritt durch zwei Personen unabhängig voneinander gemacht. „Wenn es dann in der Bewertung oder im Einschluss von Studien Unterschiede gibt, dann müssen sich die beiden das ausdiskutieren und da stößt man immer wieder auf Fehler, die entstanden wären, hätte es nur einer gemacht“, hebt Gartlehner hervor.

Autor: Mag. Anita Gross