Die Götter der Urologie sind in Aufruhr
Priv.-Doz. Dr. Maria De Santis leitet seit April die neugeschaffene Sektion für interdisziplinäre Uro-Onkologie an der Berliner Charité und ist damit Teil eines Spezialisierungsprozesses, der die „Götter der Urologie“ in ganz Deutschland wachrüttelt. Auf Nachfrage der krebs:hilfe! erklärt De Santis auch, warum die Rückkehr nach Wien derzeit ein Rückschritt wäre. (krebs:hilfe! 6-7/18)
krebs:hilfe!: Was sind Ihre neuen Aufgaben in Berlin?
De Santis: Die Position an der Charité wurde erst mit der Neubestellung von Prof. Thorsten Schlomm als Leiter der Urologie geschaffen. Es ist eine Führungsposition, die – was die Ressourcen betrifft – zwischen den Abteilungen Urologie und Onkologie positioniert ist. Das Ganze ist ein völlig neuartiges Pilotprojekt. Ich bin sehr froh und stolz, dass man mich gefragt hat, diese Aufgabe zu übernehmen.
Was reizt Sie daran?
Der Reiz ist, wirklich interdisziplinär zu arbeiten, das heißt: gemeinsam mit den Urologen die Systemtherapie auf einen neuen Weg zu bringen. Dazu muss man wissen, dass an der Charité und zu einem großen Teil in Deutschland die Systemtherapie hauptsächlich in urologischer Hand liegt. Das bedeutet, dass die unmittelbare Zusammenarbeit mit einer Onkologin – und das ist der interdisziplinäre Aspekt – etwas völlig Neues ist.
Gibt es auch Kritik?
Ja. Man kann fast von Anfeindung durch andere urologische Kliniken in Deutschland sprechen; und über Prof. Schlomm wurden einige untergriffige Artikel verfasst. Darin ist z.B. vom „Niedergang der akademischen Medizin“ die Rede, u.a. weil Prof. Schlomm, der selbst exzellent Prostatektomien durchführen kann, sich für andere Aufgaben weitere urologische Spezialisten holt – und zum Beispiel Blasenkarzinom-Eingriffe nicht mehr selbst macht. Er ist überzeugt, dass das System dadurch nicht nur effizienter ist, sondern insbesondere die Qualität steigt. Das bedeutet, die Urologie wird in Subdepartments unterteilt. Die jeweiligen Department-Leiter entwickeln ihre Konzepte und Qualitätsstandards nur in ihrer eigenen Subdisziplin. Das meint z.B. die Chirurgie der Harnblase, Kinderurologie, Roboter-Chirurgie etc. Es ist eine extreme Spezialisierung mit einem sehr hohen Anspruch. Diese Denkweise ist in Deutschland noch nicht selbstverständlich. Deshalb hat es einen großen Aufruhr gegeben.
Was sind die Kritikpunkte?
In der traditionellen Denkweise nimmt man an, dass ein Ordinarius und Klinikdirektor alles machen und alles abdecken sollte. Prof. Schlomm hat dem widersprochen. Die anderen Urologien fürchten somit um ihren Status als Götter der Urologie, weil ein Chef jetzt plötzlich zugibt, dass er selber nicht alles kann oder am besten kann! Die Debatte ist bereichernd, weil jetzt sehr viele aufgeweckt werden. Bisher ist das ja nie diskutiert worden, bisher wurde nie infrage gestellt: Wer eine Uniklinik übernimmt, hat selber alles perfekt zu können! Schlomm selbst kommt von der Hamburger Martini-Klinik – dort wird ausschließlich Prostatakarzinom behandelt und operiert, sonst nichts. Heute ist das die größte Prostata-Klinik der Welt! Das Thema Prostata ist dort in Subdepartments weiter unterteilt. Und dieses Prinzip will Schlomm in den verschiedenen Bereichen der Urologie an der Charité etablieren. Diese Ideen sind bereichernd, und es macht wirklich Freude, in diesem Team und in dieser Aufbruchsstimmung mitzuarbeiten!
Wie wird das Konzept im Team angenommen?
Sehr, sehr gut! Das Team an der Charité ist jung und enthusiastisch. Das Konzept – und damit auch mein Department – ist finanziell gut ausgestattet worden, um es „lebbar“ und erfolgreich zu machen. Es ist wirklich ein sehr großer Enthusiasmus dahinter, und der Vorstand will, dass dieses Konzept gelingt. Und dafür hat man mich von der University of Warwick abgeworben. Unser neues Logo ist „Hauptstadt Urologie“.
Was ist damit gemeint ?
Es geht darum, ein Netzwerk in Berlin und Brandenburg aufzubauen, um gemeinsam Qualität und Exzellenz in der Uro-Onkologie zu entwickeln. Nicht nur in der Chirurgie sollen die höchsten Standards gelten, sondern auch in der systemisch-onkologischen Therapie und der Einbringung von Patienten in ein Studienportfolio, das ich entwickeln werde. Der Service, den wir bieten möchten, soll alle einschließen: die Niedergelassenen, die Zuweiser und auch andere Häuser. Alle ziehen an einem Strang – für alle eine Win-win-Situation! Im Moment sind wir diejenigen, die das anstarten.
Haben Sie jetzt mehr Zeit als in England, sich auf die klinische Forschung zu konzentrieren?
In England war das Umfeld und der Aufgabenbereich ein anderer. Als „Consultant“ arbeitet man dort völlig eigenverantwortlich – jedoch nicht im Team. Man trifft die Kollegen zwar in Tumorboards – aber der akademische Bereich ist dabei fast separiert vom klinischen. Im österreichischen und deutschen System ist das mehr ineinander verschränkt. Dadurch gewinnt man einerseits starke Synergien, andererseits sind geschützte Zeiten für die akademische Forschung nicht gewährleistet. Und wenn man klinisch sehr getrennt arbeitet, z.B. von den chirurgischen Kollegen, dann funktioniert das schlechter. Jetzt seh’ ich das Team jeden Tag – in England vielleicht alle zwei Wochen.
Welche Synergien ergeben sich?
Es wird die Aufgabe sein, die Synergien zu entwickeln. Man wird Leute gruppieren, die in ähnlichen Gebieten tätig sein wollen. Wir arbeiten wirklich tumororientiert und sehen z.B. am Mittwoch nur Harnblasenkarzinomund am Donnerstag nur Prostatakarzinom-Patienten. Dann kann man sich, sowohl klinisch als auch akademisch, wirklich der Fragestellung um die Entität widmen und die Personen gruppieren, die assoziiert sein wollen. Es ist eine meiner besonderen Bestrebungen, auch über den uro-onkologischen Tellerrand zu schauen und die Projekte von anderen Kollegen an der Onkologie zu unterstützen. Ich schicke z.B. Patienten, für die ich keine Studien habe, in Phase-I-Umbrella-Studien von Kollegen auf der Onkologie. Hier besteht auch über das Comprehensive Cancer Center an der Charité mit Prof. Keilholz eine enge Zusammenarbeit.
An welchen Projekten arbeiten Sie gerade?
Wir wollen bei Prostatakarzinomund später auch Blasenkarzinom-Patienten Whole Genome Sequencing durchführen und die Ergebnisse mit dem Verlauf der Patienten korrelieren – und auch Interventionsstudien daran hängen. Das Besondere ist, dass Prof. Schlomm, also unsere Gruppe, sowohl ein Budget als auch eine große Expertise hat. Die Expertise an der Charité einerseits, aber auch die Expertise von Bioinformatikern und Genetikern, die wir jetzt rekrutieren. Ein wichtiger Name, den ich erwähnen möchte – Joachim Weischenfeldt, Biotech Research & Innovation Centre aus Kopenhagen –, wird unser Team verstärken. Das große Ziel ist die Verbindung von Gensequenzierung und Big Data Management.
Im nächsten Projekt geht es darum, ein Vorhersagemodell für die Entwicklung des Tumors aus einer primären Gensequenzierung heraus zu entwickeln. Das ist das Spezialgebiet von Joachim Weischenfeldt, also für die Biostatistiker, ebenfalls Management of Big Data. Mein Part ist, die Patienten für diese Studien zu rekrutieren und interventionell zu behandeln. Das sind ganz große Projekte, die jetzt starten. In diesem Bereich haben wir schon begonnen, Studien mit PARP-Inhibitoren zu machen, aber da kommt noch einiges mehr, auch Harnblasenkarzinom-Studien, in denen Patienten nach Gensequenzierung selektioniert werden.
Welche weiteren Ziele verfolgen Sie?
Ein weiteres Ziel ist, das Harnblasenkarzinom wieder mehr in den Fokus zu rücken. An der Charité wird perfekt operiert, aber es gibt wenig Urogenital-Studien mit systemischer Therapie. Ich möchte wieder mehr Studien, auch beim frühen Harnblasenkarzinom, hereinbringen. Seit Jahrzehnten gibt es nur BCG für die Hochrisikopatienten mit nicht muskelinvasivem Harnblasenkarzinom. Da werden jetzt die ersten Projekte starten, und ich bin auch als Chief Investigator in einer Studie tätig, um BCG mit Checkpoint-Inhibitoren zu kombinieren bzw. neue Sequenzen und Kombinationszeiträume zu entwickeln. BCG ist oft nicht gut verträglich, und Patienten müssen aufgrund von Nebenwirkungen häufig früher abbrechen. Sie können trotz BCG progredient werden und die Harnblase verlieren oder an Metastasen sterben. Wir versuchen jetzt, durch Zugabe von Checkpoint-Inhibitoren und anderen Kombinationen die Ergebnisse zu verbessern. Schön wäre zum Beispiel, wenn durch die zusätzliche, andere Therapie nur mehr drei oder sechs Monate BCG notwendig wären.
Haben Sie nie daran gedacht, nach Wien zurückzukommen?
Ich denke, dass ich mich so weiterentwickelt habe, dass meine Spezialisierung in einem Krankenhaus der Gemeinde Wien einfach keinen Platz findet. Bisher habe ich keine Signale bekommen, dass eine entsprechend ausgestattete Stelle in Wien entstehen könnte. Eine Aufgabe, die mich interessiert, müsste ermöglichen, dass ein wirklich gutes Konzept auf die Beine gestellt wird – und das muss auch finanziert werden. Denn Medizin und Qualität kosten Geld. Dafür braucht es Verständnis und den Willen, dieses Geld auch bereitzustellen. Ich habe sehr viel gelernt und sehr viele Erfahrungen gemacht. Ich würde nicht zurückkommen wollen in eine Situation, wo ich um zehn Jahre zurückgeworfen werde; in ein Versorgungskrankenhaus, das meine Expertise nicht braucht – gar nicht will.
Wo es wie ein Vorwurf klingt, man würde Patienten anziehen, die „nur Geld kosten“. Vielleicht entsteht etwas in der Zukunft. Das Wiener System wird sich ändern müssen – dann kann es auch attraktiver werden. Nehmen Sie nur ein Beispiel: Noch immer müssen erfahrene Fachärzte, also im meinem Fall Onkologen, in Österreich physisch Nachtdienste machen, das heißt im Spital schlafen. Das ist völliger Wahnsinn! Die Engländer sagen ganz klar: Unsere Consultants sind unsere wertvollsten, heißt teuersten Mitarbeiter und sollen untertags die Patienten sehen und beraten, für die sie spezialisiert sind. Die akuten Fälle werden dort rund um die Uhr in eigenen übergreifenden Teams nach landesweiten Standards versorgt.
Wie hat der BREXIT Ihre Entscheidung beeinflusst ?
Der BREXIT ist natürlich eine Katastrophe für die Wissenschaftslandschaft, drüben und hier. Es ist nicht gesichert, ob und wie große europäische Projekte in UK und in der Zusammenarbeit mit UK umgesetzt werden können. Europäische Forschungsanträge zu stellen wird schwieriger werden, weil die gemeinsame Gesetzesgrundlage für UK plötzlich nicht mehr gilt. Momentan wird in UK darum gerungen, eine neue Gesetzgebung zu entwickeln. Das heißt, im Moment werden auch wenig gesundheitspolitische Entscheidungen getroffen. Das ist eine Unsicherheit, die mir das Weggehen erleichtert hat – es war aber nicht die primäre Motivation. Das Angebot in Deutschland und der Job waren wirklich sehr interessant. Die Charité hat beschlossen, ein neues Konzept zu etablieren und auch die Stellen entsprechend auszustatten. So etwas findet man nicht sehr häufig. Das war für mich eine ganz tolle Möglichkeit, mich nochmal zu verändern!
Vielen Dank für das Gespräch!
Über Priv.-Doz. Dr. Maria De Santis
De Santis ist Sektionsleiterin für interdisziplinäre Uro-Onkologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Privatdozentin an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg sowie der MedUni Wien. Zuvor hatte sie von 2014 bis 2018 eine Professur an der britischen University of Warwick. Sie studierte Medizin in Wien und absolvierte ihre Ausbildung zur Internistin und Onkologin am Wiener Kaiser- Franz-Josef-Spital, unter Prof. Dittrich, wo sie 18 Jahre lang tätig war und von 2004 bis 2015 die onkologische Ambulanz für Uro-Genital-Tumore leitete. 2008 erfolgte ihre Habilitierung und Erteilung der Lehrbefugnis als Privatdozentin. Zum Thema Prostata- und Blasenkarzinom hat De Santis zahlreiche Peer-Reviewed-Publikationen verfasst. Sie ist Mitglied mehrerer internationaler Fachgesellschaften und Panel Member des European Association of Urology Scientific Office and Prostate Cancer Guidelines Board sowie des European Society for Medical Oncology GU-non-prostate scientific board.