11. Nov. 2021Debatte um Patente

Genug Impfstoff für die ganze Welt – aber Verteilungsproblem

Im Vorfeld der WTO-Ministerkonferenz in Genf werden die Rufe nach einer befristeten Freigabe der Patente von COVID-19-Impfstoffen wieder lauter. Mehrere Ex-Gesundheitsminister, Patientenvertreter und Public-Health-Experten unterschrieben einen Offenen Brief der NGO Attac Österreich an die Bundesregierung. Die Pharmig informierte einmal mehr, dass genug Impfstoff vorhanden sei – es hapere an der Verteilung. Tatsächlich belegt dies ein weltweites Impf-Dashboard. Zudem hat die EU ihr Versprechen, viel mehr als nötig einzukaufen, übererfüllt. Österreich spendete bereits 2.143.000 Dosen, darunter mRNA-Impfstoffe. Plus: Die Redaktion erfuhr auch, dass Österreich Kinderimpfstoff bestellt hat.

Ein schwarzafrikanischer Arzt, der mit chirurgischem Peeling und Handschuhen sitzt und eine Durchstechflasche mit Covid-19-Impfstoff in seinen Händen hält

Am Ende stellte sich heraus, dass Attac, nach eigenen Angaben „eine internationale Bewegung, die sich für eine demokratische und sozial gerechte Gestaltung der globalen Wirtschaft einsetzt“, und die Pharmig, nach eigenen Angaben „eine freiwillige, parteipolitisch unabhängige Interessensvertretung der österreichischen pharmazeutischen Industrie“, gar nicht so weit auseinanderliegen: Beide wollen nämlich, dass die gesamte Weltbevölkerung möglichst rasch gegen COVID-19 geimpft wird. Und beide sagen – „aus Eigeninteresse“.

Doch der Reihe nach: Am Montag, dem 8.10.2021, traten fünf prominente Gesichter vor die Youtube-Kamera und fuhren teils schwere Geschütze auf. Die EU sei weltweit „der letzte Blockierer“ gegen die Freigabe von Patenten für Covid-Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung – den sogenannten TRIPS-Waiver, sagt Iris Frey, Attac Österreich, Sprecherin der Kampagne „Patente freigeben – Pandemie beenden“. TRIPS steht für das 1995 in Kraft getretene Abkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums. Dieses sei unter anderem durch „Lobbying“ der Unternehmen Pfizer, Merck und General Motors entstanden.

Indien und Südafrika pochen auf TRIPS-Waiver

Indien und Südafrika pochen nun auf einen temporären, dreijährigen TRIPS-Verzicht, der in der Welthandelsorganisation (WTO) von mehr als 105 Ländern, darunter die USA, unterstützt werde. Für eine nötige Dreiviertelmehrheit bräuchte es aber die Zustimmung der EU-Staaten. Einzelne Länder wie der Vatikan, Spanien, Polen und Italien hätten auch schon Unterstützung signalisiert. Da Österreich nicht dabei ist, schrieb Attac einen Offenen Brief an die Bundesregierung, unterzeichnet von 29 Personen, darunter auch Ärzte, Patientenanwälte sowie drei ehemalige Gesundheitsminister: Rudolf Anschober (Grüne), Maria Rauch-Kallat (ÖVP) und Alois Stöger (SPÖ).

In dem Brief wird die österreichische Regierung aufgefordert, den TRIPS-Waiver bei der WTO-Ministerkonferenz in Genf (30. November bis 3. Dezember 2021) „explizit“ zu unterstützen sowie dazu beizutragen, die „kontraproduktive Blockadehaltung der EU“ zu beenden und alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, „um die tödlichen Auswirkungen dieser Pandemie zügig zu beenden“. Bereits seit Oktober 2020 würden die Länder des globalen Südens den TRIPS-Waiver fordern. Patente, Geheimhaltung und Verdrängungswettbewerb würden die Pandemie verlängern und „zu unzähligen Todesfällen und unermesslichem Leid“ führen.

MSF: „Triage“ bei Impfstoffen schon Realität

„Die Triage ist global schon Realität“, sagt Marcus Bachmann, zuständig für Advocacy und Humanitäre Angelegenheiten bei der Nonprofit-Organisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF). In Nigeria z.B., wo er selbst gearbeitet habe, sind erst drei von 100 zumindest einmal geimpft, im Jemen lediglich einer von 100 und in Burundi gar nur einer von 1.000. Impfstoffe seien ein „globales Mangelgut“, durch die Patentrechte „künstlich herbeigeführt“. MSF habe mindestens sieben Hersteller in Afrika gefunden, die bei Patentfreigabe in der Lage wären, kurzfristig ihre Produktion auf mRNA-Impfstoffe umzurüsten. Gerade bei mRNA-Vakzinen ginge das gut, aber generell sei das Herstellen von Impfstoffen keine „Raketenwissenschaft“ – anders als von der Pharmaindustrie behauptet.

„Profitmaximierung“ auf Kosten öffentlicher Gelder

Noch eines drauf legte Dr. Josef Probst, langjähriger Generaldirektor des ehemaligen Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger (nunmehr Dachverband). Er sprach von „Profitmaximierung“ versus Chancengleichheit, von Menschenrechten und Moral sowie von einer „klugen Wahrnehmung der Eigeninteressen“ – weshalb die EU sich nicht dagegen stemmen solle, „alle“ zu impfen. Dann rechnete er vor, wie viel Umsatz und Gewinn einzelne Pharmafirmen machen, z.B. Pfizer im dritten Quartal 24 Milliarden Dollar Umsatz mit einem Gewinn von 8 Milliarden Dollar, ein Drittel des Umsatzes, bei Moderna seien es gar 66 Prozent (3,3 von 5 Mrd.). Die Impfstoffentwicklung werde aber mit öffentlichen Mitteln mit finanziert.

Österreich spendete bis dato 2.143.000 Dosen. Diese teilen sich auf wie folgt:

  • 500.000 Dosen AstraZeneca nach Bosnien & Herzegowina
  • 50.000 Dosen AstraZeneca nach Costa Rica
  • 1.000.000 Dosen AstraZeneca in den Iran
  • 42.000 Dosen Pfizer nach Montenegro
  • 651.000 Dosen Pfizer in den Westbalkan

Genau das stört auch Priv.-Doz. Dr. Claudia Wild. Die Geschäftsführerin des Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) betont, dass es schon ohne Pandemie zweimal eine öffentliche Finanzierung gebe: einmal bei der Grundlagenforschung, das zweite Mal bei den patentierten Medikamenten. Bei Covid-Impfstoffen käme noch dazu, dass sie „exklusiv“ von den öffentlichen Geldern in Form von „Abnahmegarantien“ und ohne haftungsrechtliche Vorgaben finanziert werden, das habe es noch nie gegeben. „Patente schützen nur die Märkte, die öffentliche Hand steht mit dem Rücken zur Wand“, sagt Wild. Sie wäre für einen „open access pool“, aus dem alle schöpfen können.

Epidemiologisches Interesse: Mutationen vermeiden

Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, Klinischer Epidemiologe, Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation, Donau-Universität Krems, knüpft an Probst an und bringt das „Eigeninteresse“ als wichtiges Argument: „Wir sind erst geschützt, wenn alle geschützt sind.“ Mutationen entstünden, so der Epidemiologe, der seine Grundimmunisierung (drei Teilimpfungen) gegen COVID-19 schon abgeschlossen hat, in den bevölkerungsreichen Ländern mit fehlender Impfung – und nicht, wenn man Kinder nicht teste.

Bereits vor der öffentlichen Attac-Veranstaltung, die von der Pharmig dann mit verfolgt wurde, kündigte diese eine eigene Pressekonferenz an, die nach etwa einer Stunde Pause eher versöhnlich begann. „Wir sind heute schon in der Lage, für alle Menschen Impfstoffe zu haben“, versichert Mag. Alexander Herzog, Generalsekretär der Pharmig, in Europa gebe es sogar zu wenige Impflinge. Bis Ende 2021 würden mindestens 11 Mrd. Dosen Impfstoff produziert worden sein. Es läge nicht an der Produktion, sondern an der Verteilung. Was den Patentschutz angehe, sei dieser „Ermöglicher und Treiber“ der Innovation.

Im Vertrauen auf den Patentschutz seien die Impfungen und Medikamente gegen COVID-19 entwickelt worden. „Der Schutz geistigen Eigentums war ein wesentlicher Faktor, dass Unternehmen auf vorhandenem Wissen aufbauen und innerhalb kürzester Zeit die ersten COVID-19-Impfstoffe auf den Markt bringen konnten“, ergänzt Mag. Renée Gallo-Daniel, Präsidentin des Verbandes der Österreichischen Impfstoffhersteller ÖVIH.

Problem Rohstoffe und Ultratiefkühlgeräte

Gallo-Daniel erinnert außerdem an die Rohstoffe, die nicht in unendlicher Menge vorhanden seien. Auch daran müsse man denken, wenn man über eine Produktionsausweitung diskutiert, und nennt als Beispiel den Impfstoff von Pfizer, für den 280 Komponenten von 86 Zulieferern in 19 verschiedenen Ländern nötig sind. Die ÖVIH-Präsidentin pflichtet aber den Attac-Sprechern bei, dass es „einen gleichen Zugang“ für alle brauche. Dafür seien folgende Punkte wichtig:

  • Produktion weltweit optimieren, was von den Herstellern „in den letzten Monaten“ begonnen worden sei, Gallo-Daniel nennt das Serotherapeutische Institut in Indien und eine Produktionsstätte in Südafrika, aber auch in Südamerika.
  • Barrieren abbauen, sodass es leichter werde, produzierte Impfstoffe weltweit zu verteilen, einerseits was den Handel betrifft, aber auch für Donations (Spenden). Das werde derzeit auf EU-Ebene intensiv diskutiert.
  • Verteilung, Lagerung und Anwendung bzw. Materialien wie Spritzen auch vor Ort optimieren, z.B. durch Ultratiefkühlgeräte gerade in der südlichen Hemisphäre.
  • Weiterhin an Innovationen arbeiten, um adaptierte Impfstoffe bzw. auch Medikamente zur Verfügung zu haben.

Alle diese Punkte seien „unabhängig davon, ob wir Patente aufheben“, bekräftigt Gallo-Daniel. Es brauche vielmehr einen „umfassenden politischen Willen“, betont auch Herzog. Die Pharmig unterstütze auch Initiativen wie COVAX, die Impfstoffdosen in großen Mengen auch in ärmeren Ländern der Welt zur Verfügung stellen. Herzog verweist außerdem darauf, was bisher getan wurde, um eine weltweite Verteilung der Impfstoffe zu unterstützen (siehe Kasten). Und zu den Vorwürfen wegen Gewinnmaximierung unter Verwendung öffentlicher Gelder erinnert der Pharmig-Generalsekretär daran, dass die Industrie enorme Vorleistungen bei der Entwicklung von Medikamenten erbringen müsse – ohne Erfolgsgarantie, mitunter würden bis zu 2 Milliarden pro Produkt in den Sand gesetzt. 

Herzog: „Es stellt sich die Frage, welches Problem man mit einer Patentfreigabe – spitz formuliert, mit einer Enteignung einer gesamten Industrie – lösen möchte?“ Der Verband sei immer konstruktiv, wenn es darum gehe, Probleme zu identifizieren und zu lösen, „wir setzen uns mit allen an einen Tisch“. Aber: „Hier verstärkt sich bei uns ein bisschen der Eindruck, dass man eine Lösung hat und dann ein Problem herbeikonstruiert.“ Die Pharmig sei auch über den europäischen Dachverband auf EU-Ebene eingebunden. Lösungen, wie etwa Fabriken im globalen Süden aufzumachen, würden zeigen, dass die Industrie „sehr bereit ist, sich ihrer Verantwortung zu stellen, dass dieses lebensrettende Vakzin möglichst schnell möglichst vielen Leuten zur Verfügung gestellt wird“. 

Nach Österreich sind laut AGES-Dashboard bis zu Wochenbeginn 18.600.000 Impfdosen geliefert worden, davon 11.800.000 verimpft und 13.150.000 vorbestellt. Auf Nachfrage der Redaktion, was mit den restlichen 5,6 Millionen Impfdosen passiere, versichern Herzog und Gallo-Daniel, dass garantiert nichts verfalle. Die ÖVIH-Präsidentin informiert zudem, dass Österreich bereits mehr als 2 Millionen Dosen gespendet habe, weshalb gar nicht 5,6 Millionen auf Lager seien, es werde auch laufend weiter produziert. Das Ablaufdatum sei von sechs auf neun Monate verlängert worden.

Weltweites Dashboard zeigt EU-Engagement

Auf dem weltweiten COVID-19 Vaccine Market Dashboard der Unicef kann zumindest jeder mit Internet-Zugang mit verfolgen, wie viel Impfstoff von welchen Herstellern produziert, zu welchen Preisen in welchen Ländern verkauft oder gespendet worden ist: Alleine die EU kauft 3,9 Mrd. Dosen (ursprünglich waren 1,6 Mrd. vereinbart) ein – das ist der zweithöchste Wert weltweit (nach der COVAX-Initiative mit 4,3 Mrd. und noch vor den USA mit 3,2 Mrd. Dosen). Österreich hat – im Gegensatz zu einigen anderen EU-Ländern – auch bereits mRNA-Impfstoff gespendet (siehe Kasten). Zu den mRNA-Kinderimpfstoffen informiert Gallo-Daniel auf Nachfrage: „Österreich hat auch im Rahmen des europäischen Kontraktes die Darreichungsform für die Kinder mitbestellt.“

Mückstein würde Patentfreigabe begrüßen

Gesundheitsminister Dr. Wolfgang Mückstein (Grüne) hat bereits am selben Tag der beiden Presseveranstaltungen reagiert. Für die schnellstmögliche Steigerung der globalen Durchimpfungsrate müsse man auch unkonventionelle Wege gehen: „Das vorübergehende Aussetzen von Patenten in dieser Ausnahmesituation ist so ein Weg, den ich begrüßen würde.“

Infografik

Infografik von Vaccines Europe (zur Verfügung gestellt von der PHARMIG), die zeigt, was bisher (Stand Oktober 2021) getan wurde, um die weltweite Verteilung der Impfstoffe zu unterstützen, was dafür notwendig ist, sowie zur Bedeutung des Patentschutzes. (Klicken für die Ansicht als PDF)