Schmerzdiagnostik: „Hinschauen, zuhören und hingreifen“
Früher war man Bittsteller bei der Politik, heute wird die Expertise der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) aktiv gehört, ist die frischgebackene Präsidentin, OÄ Dr. Waltraud Stromer, guter Dinge. Ihr wichtigstes Ziel in näherer Zukunft: Die leitliniengerechte abgestufte Versorgung unspezifischer Rückenschmerzen zu implementieren. Kleinere Pilotprojekte gibt es schon, Strukturpläne müssen noch erstellt werden. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Ausbildung. Doch das Allerwichtigste ist für Stromer, die Patienten ernst zu nehmen. Wie das geht und was es mit dem „Medikament“ Bewegung auf sich hat, erklärt sie im Interview.
Frau Präsidentin, was sind Ihre persönlichen Zielsetzungen an der Spitze der ÖSG?
Waltraud Stromer: Mein Hauptaugenmerk ist, die Leitlinie „Kreuzschmerz“ und den „Qualitätsstandard Unspezifischer Rückenschmerz“, der ja wirklich ein Meilenstein ist, mit den Gesundheitsbehörden, den Sozialversicherungen und der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) in der österreichweiten und vor allem regionalen Strukturplanung zu verankern. Denn nur wenn der Qualitätsstandard niedergeschrieben ist, vor allem im Regionalen Strukturplan Gesundheit (RSG), dann kommt die abgestufte Versorgung betreffend den unspezifischen Rückenschmerz wirklich auch an unsere Patienten ran. Aus diesem Grunde sind wir in engem Kontakt mit den Sozialversicherungen, auch mit der Pensionsversicherungsanstalt (PVA), die die Rehabilitationszentren führt, um hier weiterhin Unterstützung zu bekommen, obwohl ich sagen muss, es hat sich sehr viel verändert. Früher war es so, dass wir Bittsteller waren, jetzt sind wir auch aktiv eingebunden, wir werden um unsere Meinung gefragt und die Leitlinien, die wir gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften vorgegeben haben, werden gesehen und es wird eine Implementierung versucht.
Wie weit ist diese Implementierung gediehen?
Stromer: Es wird derzeit am Österreichischen Strukturplan Gesundheit gearbeitet, parallel dazu sollten schon die Länder hinzugezogen werden. Es gibt auch schon Pilotprojekte, eines im Rahmen der Rehabilitation, wo die PVA in zwei ihrer Zentren, in Bad Schallerbach und in Wien, Schmerzpatienten entsprechend ihrem Bedarf individuell in Behandlungseinheiten einteilt und wo entsprechend gearbeitet wird. Auch die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) hat ein Pilotprojekt zur Primärversorgung, wo es darum geht, dass die Primärbehandler leitliniengerecht behandeln. Wir beginnen mit der Leitlinie zum unspezifischen Rückenschmerz, damit die Patienten, die hier Probleme haben, sehr schnell abgestuft behandelt werden und eine Chronifizierung so weit wie möglich vermieden wird. Es geht auch darum, unnötige Bildgebung, gerade was unspezifischen Rückenschmerz anbelangt, Parallelstrukturen in der Behandlung und damit einen massiven Geldverlust zu vermeiden. Wir brauchen eine Umstrukturierung der Gelder, die durch nichtadäquate Therapie verschwendet werden, in eine gezielte Behandlungsform.
Was soll konkret umstrukturiert werden?
Stromer: Wir brauchen natürlich ambulante und stationäre Schmerzzentren, manches kann auch umgewidmet werden, was schon vorhanden ist. Dann brauchen wir, wenn es um spezialisierte Behandlung in Zentren geht, noch besser ausgebildete Schmerztherapeuten. Und wir brauchen auch noch mehr Ärzte mit dem ÖÄK-Diplom „Spezielle Schmerztherapie“, wir haben jetzt rund 1.400 Ärzte. Eine bessere Ausbildung sollte auch schon universitär beginnen. Das alles geht aber nicht von heute auf morgen, aber eine gute Strukturplanung, eine enge Vernetzung ist in der Schmerzversorgung immer wichtig, ob es der Rückenschmerz ist, die Arthrose, die Halswirbelsäule oder Kopfschmerz. Ein Arzt soll immer eine Leitlinie vorgeben oder sozusagen der Vernetzer sein, damit strukturiert gearbeitet wird. Das Doktor-Shopping passiert ja, weil die Patienten oft auch inadäquat behandelt werden, sie gehen auf die Suche. Rückenschmerz ist wie gesagt unser Hauptanliegen, weil der Qualitätsstandard endlich da ist, aber es betrifft genauso alle anderen Schmerzursachen. Insofern ist es wichtig, dass zum Beispiel arbeitsfähige Patienten im Krankenstand von den Kontrollärzten nach zirka sechs Wochen auch herausgefiltert und schon gezielt einer leitliniengerechten Behandlung zugewiesen werden können. Es braucht auch die Anerkennung und Honorierung der Leistung, wenn der Erstbehandler, der Hausarzt, der Primärversorger hier leitliniengerecht arbeitet. Ich selbst bin niedergelassene Wahlärztin, die Patienten müssen mich bezahlen, es wird ja kaum etwas oder nur ein Teil refundiert.
An welche Leitlinien bzw. Qualitätsstandards denken Sie da als Nächstes?
Stromer: An die Versorgung der geriatrischen Patienten, weil das eine Hauptpopulation ist, aber auch genauso Arthroseschmerz, Kopfschmerz oder Schmerzen ausgehend von der Halswirbelsäule. Prof. Rudolf Likar (ÖSG-Generalsekretär, Anm. der Red.) und ich haben – auch für die Primärversorger – einen Algorithmus zur akuten und chronischen Schmerzbehandlung der geriatrischen Patienten verfasst, damit die Primärversorger da schon etwas in der Hand haben. Wir haben auch schon Konsensusberichte zur Schmerzbehandlung geriatrischer Patienten, aber auch von Kindern und Jugendlichen verfasst, sie sind auf www.pains.at zu finden. Die ÖGK beschäftigt sich jetzt schon sehr mit der Versorgung des geriatrischen Patienten. Wir sind bereits vor zwei Jahren bezüglich der speziellen Schmerzbehandlung dieser Personengruppe hinzugezogen worden, woran man auch das Interesse für die Implementierung der schmerzmedizinischen Versorgung sieht.
Sie haben die vertiefte Ausbildung für Ärzte, welche in Schmerzzentren tätig sind, angesprochen, meinen Sie damit das geplante Zertifikat „Schmerztherapie in interdisziplinären Einrichtungen an Krankenanstalten“?
Stromer: Ja, das ist das, was wir brauchen würden – eine vertiefte Ausbildung. Denn wenn ich als Patient in ein Schmerzzentrum komme, dann erwarte ich mir, dass der Arzt dort noch mehr weiß als der Arzt mit Schmerz-Diplom im niedergelassenen Bereich.
Wie ist da der Status quo?
Stromer: Prof. Likar arbeitet seit Jahren daran, dass das Zertifikat anerkannt und in der Notwendigkeit akzeptiert wird. Er ist der Hauptinitiator, der schon sehr viel Herzblut hineingegeben hat und sich wirklich bemüht, dass diese dringliche Notwendigkeit gesehen wird. Es ist aber oft schwierig, etwas umzusetzen. Ich kann nur von mir sagen, ich mache über 25 Jahre Schmerzmedizin, habe mich von Anfang an sehr bemüht und wollte immer helfen, aber jetzt ist ein Vierteljahrhundert vergangen, und man hat ein ganz anderes Wissen und Know-how. Das versucht man dann an die weiterzugeben, die in Schmerzzentren arbeiten und hier halt noch mehr wissen müssen. Wir brauchen hier eine vertiefte, eine verbesserte Ausbildung hinsichtlich Diagnostik, multimodaler, konservativer, aber auch invasiver Therapie – definitiv.
Seit Anfang Jänner gilt der internationale Diagnosekatalog ICD-11, darin ist im Kapitel MG30 erstmals der Schmerz als eigenständige Erkrankung definiert, was Prof. Likar als großen Erfolg gewertet hat. Können Sie kurz umreißen, warum das so ein Meilenstein ist?
Stromer: Ja, wegen der erstmaligen Nennung der Diagnose „chronischer Schmerz“. Der ICD-11 ist wegen seiner Bedeutung für Gesundheitsberichterstattung, Qualitätssicherung und Abrechnung äußerst komplex und sehr wichtig.
Das heißt, das kommt bald in der Praxis an?
Stromer: Nein, so einfach ist das nicht, bevor der ICD-11 kommt, steckt noch viel Arbeit dahinter. Man muss einzelne schmerzmedizinisch bedeutsame Bereiche erst ausarbeiten, das ist eine Heidenarbeit. In Deutschland arbeiten sie schon mit dem ICD-11, in Österreich überhaupt noch nicht. Aber der ICD-11 ist eben so ein Meilenstein, den wir dringend benötigen.
Dürfen da auch Patienten mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) bzw. PEM (Post Exertional Malaise) auf eine Verbesserung der Versorgung hoffen, insbesondere da diese teils sehr schmerzhaften Krankheitsbilder durch die Covid-19-Pandemie bekannter geworden sind, weil sie bei einem gewissen Prozentsatz auch als Long Covid nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten können?
Stromer: Unser Schwerpunkt ist ja das Thema Schmerz, also dass wir uns als Schmerztherapeuten einbringen in die Versorgung. Covid-Patienten, aber auch Patienten, die geimpft worden sind und ähnliche Schmerzsymptome gehabt haben, oder gut eingestellte Schmerzpatienten, bei denen sich die Symptome verstärkt haben, sind unsere Patienten. Ein Viertel bis ein Drittel aller stationären Covid-Patienten mit schweren Symptomen haben einen Monat nach der Entlassung nach wie vor Schmerzen. Meist handelt es sich um Kopf-, Muskel- oder Gelenksschmerzen. Erste retrospektive Beobachtungen legen nahe, dass auch Neuropathien und neuropathische Schmerzen nach einer überstandenen Covid-19-Erkrankung gehäuft auftreten.
Das heißt, dass man sich in der Long Covid-Versorgung – es gibt ja schon Rehabilitation für Long Covid-Patienten – dem Thema Schmerz sehr wohl auch widmen muss.
Also hat man das Thema am Radar?
Stromer: Ja, das hat man, muss man haben. Wenn ich zu dieser Müdigkeit, die die Patienten nennen, auch noch Schmerzen habe, macht mich das noch viel müder, dann habe ich keine Ressource mehr. Also, auch bei Long Covid-Patienten muss man sich dem Thema Schmerz wirklich stellen und hier eine absolut adäquate korrekte Mechanismen-orientierte Versorgung anpeilen – und zwar so rasch wie möglich, um die Funktionalität, Schlafqualität und vor allem auch die Lebensqualität deutlich und nachhaltig zu verbessern.
Die ÖSG hat auch die breite Kampagne „Beweg Dich©/Move4you©“ gestartet, da Bewegung ein „wirksames Medikament“ sei, wie es ÖSG-Sekretär Prim. Gregor Kienbacher auf der Pressekonferenz formuliert hat. Stimmt der Eindruck, dass es hier einen Paradigmenwechsel gibt, wonach nicht so sehr das „Wie“ oder eine bestimmte Bewegung im Vordergrund steht, sondern einfach, dass jeder sich bewegt, egal wie?
Stromer: Ja, im Prinzip starten wir diese Kampagne jetzt nicht nur, um den zirka 1,8 Millionen chronischen Schmerzpatienten zur Seite zu stehen, sondern auch den Kindern, Jugendlichen und allen Österreichern. Wir sagen einfach: Beweg dich, damit du keine Schmerzen bekommst, bzw. wenn du Schmerzen hast, beweg dich, damit es durch Reduktion der Neuroinflammation, der Entzündung von Nervenstrukturen, leichter wird und du dieses Medikament, das du sozusagen in der Hand hast, noch besser verwenden kannst. Es ist so: Alle, die fit sind, können ja das tun, was ihnen vorschwebt oder was ihnen am liebsten ist, schneller spazieren gehen, schwimmen, Rad fahren, tanzen – wir empfehlen so drei- bis fünfmal in der Woche eine halbe Stunde Bewegung, 140 Minuten pro Woche, das ist auch von der WHO vorgeschlagen. Wenn ich Schmerzen habe, muss man natürlich Rücksicht nehmen auf das, was ich tun kann. Eine Metaanalyse mit über 30.000 Patienten hat gezeigt, dass Patienten, die dreimal pro Woche moderates Training gemacht haben, einen Schutz vor dem Wiederauftreten von Rückenschmerzen hatten. In einer anderen Studie hat man 2.600 Patienten in Großbritannien eine ganze Dekade lang beobachtet. 47 Prozent haben in dieser Zeit Schmerzen bekommen, Frauen mehr als Männer, 53 Prozent aber nicht – und zwar die, die einmal in der Woche ein intensives Training gemacht haben. Und noch besser war das Ergebnis für die Prävention, es gab den Ausdruck „Kraftkammer und Kultur“: moderate Bewegung, soziales Leben und dann noch geistige Forderung wie Museums- und Theaterbesuche. Also das sind schon wirklich wichtige „Medikamente“, wie auch Prof. Jürgen Sandkühler, Leiter des Zentrums für Hirnforschung der MedUni Wien, gesagt hat (siehe dazu auch den medonline-Bericht vom ÖSG-Kongress, Anm. der Red.).
Nachdem die ÖSG nun „gehört“ wird, was sind Ihre weiteren Wünsche an die Politik – im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie und auch im Lichte dessen, dass unser Gesundheitssystem so zersplittert ist, wie es auch beim Auftakt der Schmerzwochen geheißen hat?
Stromer: Im Prinzip haben wir in Österreich schon ein gutes Gesundheitssystem, wenn man sich andere Länder anschaut. Aber das Thema Schmerz muss man festigen, und zwar in der strukturellen, gezielten leitliniengerechten Versorgung festigen. Was ich mir wünsche: Dass die Gesundheitsbehörden, die Sozialversicherungen, die PVA an einer Verbesserung der Schmerzversorgung festhalten, dass sie uns weiter Gehör schenken und mit uns gemeinsam wirklich eine gut strukturierte Schmerzversorgung aufbauen – von der Primärversorgung weg bis zu den spezialisierten ambulanten oder stationären Zentren. Damit der Patient so rasch wie möglich seine Hilfe erhält. Das ist mir wichtig!
Was liegt Ihnen am Herzen für die Ärzte und Apotheker bzw. andere Gesundheitsberufe zum Thema Schmerz?
Stromer: Was mir wichtig ist, dass man Schmerzpatienten wirklich ernst nimmt und ihnen einfach nur mal zuhört. Ein Schmerzpatient erzählt zumeist mit seinen Worten schon, wie der Schmerz lokalisiert ist, wie sich der Schmerz anfühlt und wo es wehtut. Allein durch das Beobachten, wie ein Patient kommt, wie er erzählt und wie er den Schmerz schildert, erhält man schon sehr viel Informationen, was die Ursache und die Diagnose anbelangt. Wenn man gut zuhört, hinschaut und auch hingreift, dann weiß man in der Regel oft ganz schnell, welche Schmerzart dahintersteckt. Wenn man sich dann auch noch an die Leitlinien hält, wie man Schmerzen behandelt, dann kann man dem Patienten sicherlich viel schneller helfen bzw. ihn zu dem oder der Richtigen schicken, die ihm helfen und ein adäquates, individuelles Konzept erstellen können. Das ist es. Hinschauen, zuhören und hingreifen. Ich halte Kurse ab, Tageskurse, wo ich anhand von Fallbeispielen, auch mit Live-Patienten Schmerzmedizin unterrichte. Das macht mir große Freude. Natürlich habe ich viel Erfahrung in all den vielen Jahren gesammelt, die ich auch gerne an Kollegen weitergebe. Wichtig ist und bleibt in der Schmerzbehandlung: dem Patienten gut zuhören, ihn anschauen, in seiner Gesamtheit wahrnehmen, ihn ernst nehmen und angreifen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Zur Person
OÄ Dr. Waltraud Stromer ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und für Anästhesie und allgemeine Intensivmedizin am Landesklinikum Horn, Niederösterreich. Zudem führt sie eine Wahlarztordination für Schmerztherapie in Horn und ist Konsiliarärztin im Moorheilbad Harbach. Seit einigen Jahren ist sie auch im Vorsitz der Sektion Schmerz der ÖGARI (ÖsterreichischeGesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin) tätig.