30. März 2023ÖGN-Jahrestagung 2023

Ist die Stammzelltransplantation bei MS noch ein Thema?

Mit „Flipping the pyramid“ kann man den neuen Ansatz beschreiben, das Behandlungskonzept bei der Multiplen Sklerose (MS) auf den Kopf zu stellen und nicht langsam zu eskalieren, sondern von Beginn an hocheffektive Therapeutika einzusetzen. Damit gerät auch die Stammzelltransplantation wieder ins Blickfeld, eine hocheffektive Therapie, die bisher wegen ihrer Risiken aber nur in Einzelfällen angewendet wurde.

Stammzellen
koto_feja/GettyImages

Die enormen Fortschritte in der Therapie der Multiplen Sklerose (MS) zeigen sich unter anderem darin, dass Behandlerinnen und Behandler sowie Patientinnen und Patienten heute zwischen Medikamenten aus zehn verschiedenen krankheitsmodifizierenden Substanzklassen wählen können. Die Erfolge der hocheffektiven Therapien haben dazu geführt, dass das stufenweise „treat to target“-Konzept, bei dem mit einer moderat wirksamen Therapie (früher auch als Basistherapie bezeichnet) begonnen und bei Bedarf eskaliert wurde, in den letzten Jahren zunehmend gegenüber der Strategie, schon früh hocheffektiv einzusteigen, ins Hintertreffen geraten ist. Ähnlich wie andere Studien zeigte auch eine retrospektive Analyse von Behandlungsdaten zweier MS-Register, die von He et al. 2020 in Lancet Neurology veröffentlich wurde, dass ein früherer Beginn einer hochwirksamen Therapie (innerhalb von zwei Jahren nach Krankheitsbeginn) mit einem geringeren Behinderungsgrad nach sechs bis zehn Jahren assoziiert ist, als wenn diese Medikamente erst nach vier bis sechs Jahren eingesetzt werden.

Hämatopoetische Stammzelltransplantation

Schon vor mehr als 20 Jahren, also lange bevor viele der heute verwendeten MS-Therapeutika auf den Markt kamen, wurde bei der MS bereits eine hocheffektive Therapie diskutiert: Die allogene Stammzelltransplantation ist ein potenziell Heilung ermöglichender Therapieansatz, der aber wegen seiner starken Nebenwirkungen auch mit einem hohen Risiko behaftet ist. „In der ersten Phase bekommen die Patientinnen und Patienten das Peptidhormon G-CSF, um die Leukozyten inklusive Stammzellen zu mobilisieren“, erläutert Priv.-Doz. Dr. Harald Hegen, PhD, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, die Vorgehensweise. Im nächsten Schritt werden diese Zellen mittels Leukapherese entnommen, bevor dann eine Hochdosis-Chemotherapie (Konditionierung) zu einer fast vollständigen Eliminierung aller Blut- und Immunzellen führt. Schließlich erfolgt eine Rekonstitution des Immunsystems aus dem Transplantat.

Überlegenheit nicht klar belegt

Die European Group of Blood and Marrow Transplantation (EBMT) beziffert die Zahl der bisher bei MS durchgeführten hämatopoetischen Stammzelltransplantationen mit ungefähr 1.900. In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 wurden die Ergebnisse von Zulassungsstudien für MS-Medikamente und Arbeiten zur Stammzelltransplantation hinsichtlich des Endpunktes NEDA (No evidence of disease activity) nach zwei Jahren verglichen. Auf den ersten Blick scheint die Stammzelltransplantation deutlich wirksamer zu sein als die medikamentöse Therapie. Limitiert wird die Aussagekraft des Ergebnisses jedoch dadurch, dass die Daten retrospektiv analysiert wurden. Eine randomisiert kontrollierte Studie aus dem Jahr 2019, in der 110 MS-Patientinnen und -Patienten nach Therapieversagen eine höher effektive Immuntherapie oder eine Stammzelltransplantation erhielten, zeigte ebenfalls eine Überlegenheit der Stammzelltransplantation bei den Parametern Zeit bis zu Behinderungsprogression und Zeit bis zum nächsten Schub. Als wesentliche Limitation dieser Studie sieht Hegen, dass in der Vergleichsgruppe nicht nur hocheffektive Therapien, sondern auch noch viele Basismedikamente zum Einsatz kamen. Obwohl auch eine kürzlich veröffentlichte Kohortenstudie dafür spricht, dass die hämatogene Stammzelltransplantation einer hocheffektiven Therapie mit Alemtuzumab hinsichtlich des Erreichens des Endpunktes NEDA überlegen sein könnte, wird der Stammzelltherapie in den aktuellen MS-Leitlinien nur das Potenzial zugesprochen, sich zu einer Therapieoption bei schubförmiger MS entwickeln zu können. Aktuell sei eine Überlegenheit im Vergleich zu hocheffektiven Substanzen nicht klar belegt. Die Stammzelltransplantation gilt immer noch als experimentelles Therapieverfahren. Mehr Evidenz sollen einige derzeit laufende klinische Studien wie BEAT-MS oder RAM-MS liefern.

Ein zentraler Punkt für die zurückhaltende Beurteilung der Stammzelltransplantation sind Sicherheitsbedenken: Neben der Mortalität, die vor 2005 noch bei 3,6% lag und mittlerweile auf 0,3% zurückgegangen ist, sind das vor allem Langzeitprobleme wie ein erhöhtes Risiko für myeloproliferative Erkrankungen oder eine sekundäre Autoimmunität. Wichtig dürfte auch die Patient:innenselektion sein: Als mögliche Kandidaten für eine Stammzelltransplantation gelten derzeit eher jüngere, gehfähige Patientinnen und Patienten mit kurzer Krankheitsdauer und einem schubförmigen sowie hochaktiven Krankheitsverlauf.

Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie, Bregenz, 24. März 2023