16. Mai 2021Entwöhnungssache

So gelingt das Ausschleichen von Opioiden

Die Schmerztherapie mit Opioiden mündet nicht selten in eine Abhängigkeit. Ist ein Absetzen der Substanzen möglich, kann dies in vielen Fällen ambulant erfolgen. Worauf man dabei achten muss, wird in einer neuen Leitlinie erklärt.

Mann hält Hand zur Kamera mit HILFE auf Handfläche geschrieben.
iStock/ligonpix

Vor allem jüngere Patienten zwischen 20 und 40 Jahren, Männer sowie Personen mit psychischen Komorbiditäten laufen Gefahr, von den ihnen verschriebenen Opioiden abhängig zu werden. Auch wer gleichzeitig Tranquilizer oder hohe Tagesdosen von mehr als 120 mg Morphinäquivalent nimmt, trägt ein erhöhtes Abhängigkeitsrisiko. Gleiches gilt bei positiver Familienanamnese, heißt es in der neuen S3-Leitlinie der DGPPN* und der DG-Sucht** zu medikamentenbezogenen Störungen. Diese Faktoren gilt es vor Ansetzen entsprechender Präparate zu beachten. Patienten mit vorbekanntem Abusus (z.B. Alkohol) sollten möglichst keine Opioide erhalten.

Auf Verhalten achten, das für Abhängigkeit spricht

Wiederholt zeigte sich in Studien und Metaanalysen, dass sogar eine medizinisch indizierte Opioidtherapie zu Toleranz und demnach auch zu Entzugserscheinungen führen kann. Allerdings sind die Kriterien einer Abhängigkeit erst erfüllt, wenn neben den körperlichen Symptomen auch psychische Phänomene auftreten, etwa ein pathologischer Drang zum Substanzkonsum – das Craving – oder ein Kontrollverlust (s. Kasten), schreiben die Leitlinien-Autoren.

Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die den Verdacht auf eine Opioidabhängigkeit nähren. Dazu zählen u.a. auffällige Verhaltensweisen, wenn sich ein Patient z.B. trotz offenkundiger Wirkungslosigkeit gegen eine Anpassung seiner Therapie wehrt oder dauernd das Rezept „verliert“.

Auch der Schmerz gibt einen Anhaltspunkt: Die eher langsame Toleranzentwicklung sowie die abrupt einsetzende opioidbedingte Hyperalgesie fördern eine Abhängigkeit. Typisch für die Hyperalgesie ist ein eher diffuser Schmerz. Er breitet sich oft über das ursprünglich betroffene Areal hinaus aus und kann durch eine erhöhte Opioiddosis noch verstärkt werden. Entzugsschmerzen werden in der Regel von anderen Symptomen begleitet, die sich grob anhand der Opioid Withdrawal Scale klassifizieren lassen (vgl. Tabelle).

Punkte-Score für Opioid-Entzugssymptome

Symptom
nein
mild
mäßig
schwer
Spontanschmerz (Waden, Rücken)
0
1
2
3
motorische Unruhe
0
1
2
3
Schlaflosigkeit
0
1
2
3
Gähnen
0
1
2
3
Niesen
0
1
2
3
Augentränen
0
1
2
3
Piloerektion (Gänsehaut)
0
1
2
3
Hitze-/Kältewallungen
0
1
2
3
auffallendes Schwitzen
0
1
2
3
Rhinorrhö
0
1
2
3
Herzklopfen
0
1
2
3
Erschöpfung, Müdigkeit
0
1
2
3
Benommenheit
0
1
2
3
Muskelsteifigkeit
0
1
2
3
spontane Muskelzuckungen
0
1
2
3
Tremor
0
1
2
3
Erbrechen
0
1
2
3
Diarrhö
0
1
2
3
Magenkrämpfe
0
1
2
3
Kältegefühl
0
1
2
3

0–9 Punkte: leichtes Entzugssyndrom; 10–20 Punkte: mittelschwere Ausprägung; ab 20 Punkten: schwere Ausprägung

Quelle: modifiziert nach Bradley BP et al. Br J Addict 1987; 82: 1139–1142

Um Entzugssymptome sowie die verbreitete Angst von Patienten, bei Absetzen der Präparate ein unmittelbares Wiederaufflammen der Schmerzen zu erleiden, zu minimieren, sollte man die Medikation unbedingt langsam ausschleichen. Bei regelmäßiger Einnahme kann es bereits nach zwei bis drei Wochen Therapie zu Entzugserscheinungen kommen, wenn die Substanzen abgesetzt werden. Patienten mit körperlicher Toleranz ohne Abhängigkeit bzw. gravierende psychische Komorbidität können die Substanzen ambulant ausschleichen, z.B. bei einem Schmerztherapeuten. Misslingt dies, sollte eine stationäre Behandlung angeboten werden.

Im Fall einer Abhängigkeit genügt ein körperlicher Entzug nicht. Betroffene brauchen zusätzlich psychotherapeutische Hilfe, um langfristig abstinent zu bleiben. Die Autoren plädieren in solchen Fällen, ebenso wie bei Patienten mit psychischen Begleiterkrankungen, für einen stationären Entzug in einer suchtmedizinischen, psychiatrischen Einrichtung.

In der Entzugsphase setzen die behandelnden Kollegen auf eine motivierende Gesprächsführung, um die Bereitschaft der Patienten für eine dauerhafte Verhaltensänderung zu fördern. Zusätzlich oder alternativ wird im Rahmen einer Psychoedukation ein tieferes Verständnis der Störung und der damit einhergehenden Probleme geschaffen.

Hilfreich sind zudem kurzfristig entlastende Maßnahmen wie Entspannungstechniken oder ein Schmerzbewältigungstraining. Auch in der Postakutbehandlung kommen Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie zum Einsatz, die sich bereits bei anderen substanzbedingten Störungen bewährt haben.

Eine symptomorientierte Pharmakotherapie kann den Entzug für Betroffene erleichtern. Sie sollte aber nur adjuvant zu psychotherapeutischen Verfahren eingesetzt werden. Außerdem können und wollen die meisten Patienten durch eine Dosisreduktion desjenigen Analgetikums entzogen werden, von dem sie abhängig sind. Ein Wechsel zu einem höherpotenten Opioid kann dann sinnvoll sein, wenn zuvor ein niederpotenter Wirkstoff in hohen Dosen eingenommen wurde.

Diese Zeichen deuten auf eine Abhängigkeit hin

unspezifische Hinweise

  • starker Ruheschmerz, Diskrepanz zwischen Schmerzangabe und Verhalten
  • Fordern eines bestimmten Opioids
  • Einnahme v.a. zur Linderung anderer Symptome wie Unruhe, Schlafstörung, Angst oder Depression

spezifische Hinweise

  • Widerstand gegen Therapieänderung trotz Wirkungslosigkeit oder negativer psychotroper Effekte (z.B. Konzentrationsstörungen, Müdigkeit)
  • grundloses Horten von Pillen
  • Borgen/Stehlen von Opioiden
  • Rezeptfälschung
  • intravenöse und orale Anwendung transdermaler Präparate

Bei Kombination mit SSRI droht ein Serotoninsyndrom

Zur Behandlung leichterer Entzugssymptome (und ggf. additiv) eignet sich das trizyklische Antidepressivum Doxepin. Es ist für diese Indikation ebenso zugelassen wie zur Behandlung der Depression. Als Initialdosis mit anschließender Reduktion werden 3 × 50 mg/d empfohlen. Die Komedikation von SSRI/SNRI-Antidepressiva mit Opioiden, insbesondere Tramadol, ist mit einem erhöhten Risiko für ein Serotoninsyndrom verbunden.

In begründeten Einzelfällen können auch Schmerzpatienten eine Substitutionsbehandlung erhalten. Voraussetzung ist eine nachgewiesene Opioidabhängigkeit mit fortgesetztem Missbrauch dieser Analgetika. Außerdem müssen zuvor alle schmerz- und suchttherapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sein. Eine Schwangerschaft stellt bei opioidabhängigen Frauen ebenfalls eine Indikation zur Substitution dar.

* Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
** Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie

S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen, AWMF-Register-Nr. 038-025

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune