Greatest Black Briton: Mary Seacole
Wie eine schottisch-jamaikanische Krankenschwester zur „Mother Seacole“ für verwundete Soldaten auf der Krim und zur „Greatest Black Briton“ wurde.

Mary Seacole kommt am 23. November 1805 als Mary Jane Grant in Jamaika als Untertanin des Britischen Empire zur Welt. Ihr Vater stammt aus Schottland und ist Offizier in der britischen Armee. Ihre Mutter ist eine freie Jamaikanerin und Heilerin mit Kenntnissen in kreolisch- und afro-karibischer Medizin, die bei ihren Patientinnen und Patienten als eine angesehene Doctress bekannt ist. Marys Mutter führt ein Gästehaus für kranke oder invalide Menschen, vor allem solche, die an Gelbfieber leiden.
Frühe Jahre in Jamaika: Zwischen Heilkunde und britischer Armee
Mary lernt schon früh Lesen und Schreiben von ihrem Vater und interessiert sich brennend für die Heilkunst ihrer Mutter, von der sie aufmerksam lernt. Mit zwölf Jahren hilft sie im Gästehaus und pflegt dort untergebrachte Menschen, unter ihnen viele britische Soldaten und Matrosen. Mit 15 reist sie mit Verwandten nach England und bleibt für ein Jahr dort. Sie vertieft ihre Kenntnisse in europäischer Medizin und ergänzt damit ihr Wissen über traditionelle Medizin. Es ist die erste von vielen Reisen, die sie im Laufe ihres Lebens unternimmt. In ihrer Autobiografie beschreibt sie ihre Leidenschaft für die Fremde so:
“As I grew into womanhood, I began to indulge that longing which will never leave me while I have health and vigour. I was never weary of tracing upon an old map the route to England; and never followed with my gaze the stately ships homeward bound without longing to be in them, and see the blue hills of Jamaica fade into the distance.”
In ihren Jugendjahren reist sie wiederholt und lebt drei Jahre lang in London, bevor sie die Bahamas, Haiti und Kuba besucht. Auf ihren Reisen kauft sie Waren, die sie später in Kingston verkauft.
1836 heiratet sie Edwin Horatio Hamilton Seacole, den sie als Patenkind von Admiral Lord Nelson beschreibt. Gemeinsam eröffnen sie ein Geschäft in Black River. Doch Edwin erkrankt kurz darauf, und das Geschäft läuft schlecht. Das Paar kehrt zum Gästehaus ihrer Mutter zurück, wo Edwin 1844 stirbt – nur acht Jahre nach der Hochzeit. Im selben Jahr stirbt auch Seacoles Mutter. Der doppelte Verlust trifft sie schwer. Von nun an widmet sich Seacole verstärkt dem Reisen und der Pflege. Ende der 1840er-Jahre etabliert sie sich wie ihre Mutter als Doctress, vorwiegend für die Soldaten der lokalen britischen Garnison. 1850 bricht in Jamaika eine Choleraepidemie aus. Mary Seacole beobachtet die Symptomatik der Krankheit und verfolgt aufmerksam, wie westlich ausgebildete Ärzte sie behandeln.
Medizinisches Engagement in Panama: Kampf gegen Cholera und Vorurteile
Nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Mutter reist Seacole nach Panama. Dort betreibt sie gemeinsam mit ihrem Bruder ein Hotel und eröffnet gegenüber davon einen Laden, in dem sie mit Dingen des täglichen Bedarfs handelt. Ihre Kundschaft sind Goldsucher auf dem Weg nach Kalifornien, die die gefährliche Umfahrung von Kap Hoorn an der Südspitze Südamerikas vermeiden wollen.
Panama wird zum Knotenpunkt für den interozeanischen Reiseverkehr und ist die schnellste Route nach Kalifornien. Jahrzehnte vor dem Baubeginn des Panamakanals überqueren Reisende den an der schmalsten Stelle ca. 60 km breiten Landstreifen der damals noch zu Kolumbien gehörenden Provinz Panama auf dem Landweg.
Als eine Person aus dem Umfeld ihres Bruders erkrankt und kurz darauf stirbt, erkennt Seacole die Symptomatik der Cholera wieder, die sie bereits aus Kingston kennt. Als weitere Menschen erkranken, beginnt sie, diese mit Senferbrechen, warmen Umschlägen, Senfpflastern auf Bauch und Rücken sowie mit Kalomel (einem selten vorkommenden Mineral aus der Mineralklasse der „Halogenide“ mit der chemischen Zusammensetzung Hg2Cl2, chemisch gesehen Quecksilber(I)-chlorid) zu behandeln. Brechmittel und Kalomel sind heute als ineffektive, schädliche Behandlungen bekannt. Seacole wendet sie, wie viele andere Mediziner auch, an. Im Gegensatz zu den meisten anderen geht sie mit diesen Behandlungsfehlern im Nachhinein aber offen um und benennt sie in ihrer Autobiografie. Neben der Cholera verursachen auch noch Gelbfieber und Malaria großes Leid. Seacole behandelt unzählige Patienten und erkrankt selbst auch leicht an Cholera.
In der lokalen Bevölkerung erwirbt sich Mary Seacole große Beliebtheit. Bei ihrem Abschied aus Panama wird zu ihren Ehren ein Fest ausgerichtet. Einer der Festredner postuliert während seiner Erörterungen, dass Seacole noch angesehener wäre, wenn ihre Hautfarbe weiß wäre. Seacole weist diese Aussage umgehend zurück und betont, dass ihre Arbeit unabhängig von ihrer Hautfarbe besteht – und dass sie selbst mit noch dunklerer Haut den Respekt jener Menschen, die ihr wichtig sind, nicht verlieren würde.
Einsatz im Krimkrieg: Mother Seacole an der Front
1853 kehrt Seacole nach Kingston zurück und erfährt von dem Krieg, den Großbritannien und Frankreich gemeinsam mit dem Osmanischen Reich und Sardinien auf der Krim gegen das Russische Zarenreich zu führen begonnen haben. Seit den 1830er-Jahren tritt Großbritannien in dem heute als Great Game bezeichneten diplomatisch-politischen Konflikt dem Zarenreich entgegen, dessen Südexpansion in Richtung Zentralasien als Bedrohung für Britisch-Indien empfunden wird. Obwohl der Konflikt auf der strategisch wichtigen Halbinsel im Schwarzen Meer in keinem unmittelbaren oder auch nur geografischen Zusammenhang mit dem Great Game steht, muss sein Ausbruch in diesem Kontext verstanden werden.
Seacole kennt viele Regimenter der britischen Armee und deren Angehörige aus der Zeit im Gästehaus ihrer Mutter. Viele ihr persönlich vertraute Armeeangehörige ziehen nun an das andere Ende der Welt in den Krieg.
Während eines geschäftlichen Aufenthalts in London entdeckt Seacole Anzeigen, mit denen Krankenschwestern für die Krim gesucht werden, und beschließt, sich dieser Aufgabe zu widmen. Doch ihre Bewerbung als Krankenschwester für britische Militärkrankenhäuser wird vom Kriegsministerium abgelehnt. Eine Bewerbung im Stab von Florence Nightingale (vergleiche medonline Medizingeschichte #24 über Florence Nightingale) wird von einer ihrer Assistentinen ebenfalls abgewiesen. Nichtsdestotrotz hält sie an ihrem Plan fest und kündigt ihre Intention an, am 25. Jänner 1855 in Richtung Krim abzureisen, um dort ein Lazarett für kranke und rekonvaleszente Soldaten zu eröffnen. Da sie nicht in offizieller Funktion reist, finanziert sie die Reise, gemeinsam mit Thomas Day, einem Verwandten ihres verstorbenen Mannes, selbst.
Am Weg auf die Krim machen die beiden einen Halt in Scutari bei Konstantinopel, um Versorgungsgüter aufzunehmen. Dort, im heutigen Üsküdar bei Istanbul, befindet sich das Lazarett, in dem Florence Nightingale verwundete Soldaten behandelt und sich ihren Ehrentitel Lady with the Lamp erarbeiten wird. Es kommt zu vielen freudvollen Wiederbegegnungen mit britischen Soldaten, die sie noch aus ihrer Zeit in Kingston, Jamaica, kennt. Sie begegnet auch Nightingale selbst und beschreibt sie folgendermaßen:
A slight figure, in the nurses’ dress; with a pale, gentle and withal firm face, resting lightly in the palm of one white hand, while the other supports the elbow – a position which gives to her countenance a keen inquiring expression, which is rather marked.
Während sich Nightingales Hospital am anderen Ende des Schwarzen Meeres, hunderte Meilen entfernt von den Frontlinien des Krimkriegs, befindet, etabliert Seacole ihre neue Wirkungsstätte bei Balaklawa, keine zwei Meilen hinter der Front. Sie nennt dieses Etablissement British Hotel, konzeptioniert es als eine Mischung aus Offiziersclub und Genesungsheim für erkrankte wie verwundete Soldaten. Seacole eröffnet wieder einen Laden und versorgt die Soldaten mit den Dingen des täglichen Bedarfs. Immer wieder besucht sie die Frontlinien, behandelt verwundete Soldaten und liefert spezielle Sick Rations an sie aus. Oft ist sie am sogenannten Sick Wharf – jenem Kai, von dem aus verwundete Soldaten in Richtung Scutari eingeschifft werden – anzutreffen, wo sie Verwundete auf ihre Seereise zu Florence Nightingale vorbereitet. Mit ihrem aufopferungsvollen Dienst an den alliierten Soldaten erwirbt sie sich im Lauf der Zeit den nom de guerre Mother Seacole.

Skizze von Mary Seacoles "British Hotel" auf der Krim-Halbinsel nahe Balaklawa, angefertigt von Lady Alicia Blackwood (1818-1913).
Seacoles Bedeutung sowohl für die medizinische Versorgung als auch für die Moral der Soldaten auf der Krim kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein Arzt der britischen Armee beschreibt ihre Tätigkeit am Sick Wharf folgendermaßen:
The acquaintance of a celebrated person, Mrs. Seacole, a coloured women who out of the goodness of her heart and at her own expense, supplied hot tea to the poor sufferers while they are waiting to be lifted into the boats…. She did not spare herself if she could do any good to the suffering soldiers. In rain and snow, in storm and tempest, day after day she was at her self-chosen post with her stove and kettle, in any shelter she could find, brewing tea for all who wanted it, and they were many. Sometimes more than 200 sick would be embarked in one day, but Mrs. Seacole was always equal, to the occasion.
Als 1856 ein Friedensvertrag geschlossen wird und der Krieg auf der Krim endet, stellen Seacole und Day ihre Tätigkeit bei Balaclava ein und kehren nach London zurück – völlig ohne finanzielle Mittel, weil sie alle Gewinne aus dem Handelsgeschäft in die Pflege der verwundeten und kranken Soldaten reinvestiert haben.
Späte Jahre und Vermächtnis: Mary Seacole wird zur Ikone
Finanziell ist Mary Seacole am Ende, sie erfährt aber große Anerkennung durch die Soldaten des Empire. Der Kriegsberichterstatter der Times, Sir William H. Russell, schreibt 1857:
I trust that England will not forget one who nursed her sick, who sought out her wounded to aid and succour them, and who performed the last offices for some of her illustrious dead.
Eine vier Tage dauernde Fundraising-Gala zugunsten von Seacole zieht im selben Jahr über 80.000 Menschen an, bringt aber trotz prominenter Spender nur wenig Geld ein und Seacoles finanzielle Situation bleibt angespannt. Als im Mai 1857 die Indian Rebellion (oder, je nach Perspektive, der Indian War of Independence) beginnt, plant Seacole, dorthin zu reisen und ihrer traditionellen Tätigkeit nachzugehen. Ihre finanziellen Probleme wie auch Lord Panmure, der neue Secretary of War, halten sie aber von diesem Vorhaben ab.
In der Folge beweist Seacole erneut, wie wenig sie sich für die Geschlechternormen und die rassistischen Vorurteile ihrer Zeit interessiert, und legt mit The Wonderful Adventures of Mrs. Seacole in Many Lands die erste autobiografische Erzählung einer schwarzen Frau vor, die sofort zu einem Bestseller wird.

Eine von zwei bekannten Fotografien von Seacole, aufgenommen für eine Carte de Visite von Maull & Company in London, ca. 1873.
Um 1860 tritt Mary Seacole der katholischen Kirche bei und kehrt nach Jamaika zurück, das während ihrer Abwesenheit einen wirtschaftlichen Niedergang erlebt hat. Als ihre Finanzen 1867 wieder ein kritisch niedriges Niveau erreichen, ruft Queen Victoria höchstselbst, gemeinsam mit dem Duke of Edinburgh und dem späteren King Edward VII, einen zweiten Seacole Fund ins Leben. An diesem beteiligt sich eine große Anzahl prominenter Adeliger und Militärs. Er sichert Seacole bis an ihr Lebensende ein komfortables Einkommen, von dem sie ein Grundstück in Kingston erwerben und einen Bungalow darauf errichten kann.
1870 kehrt sie nach London zurück. Es ist nicht auszuschließen, aber auch nicht belegbar, dass sie das Vorhaben, im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zu helfen, zurück an die Themse geführt hat. In London erreicht sie die Peripherie royaler Kreise. Prince Victor, ein Neffe der Königin, der auf der Krim gedient und Seacole dort kennengelernt hat, lässt eine Marmorbüste von ihr anfertigen und bei der Sommerausstellung der Royal Academy präsentieren. Seacole selbst avanciert zur persönlichen Masseuse der Princess of Wales, die an Phlegmasia alba dolens und Rheumatismus leidet.
Am 14. Mai 1881 stirbt Mary Seacole in London. Ihr Nachlass geht größtenteils an ihre Schwester.

Mary Seacole-Statue von Martin Jennings, am Vorplatz des St Thomas' Hospital, London.
Beigesetzt wird sie auf dem katholischen Kensal Green Cemetary in London. Im Gegensatz zu ihrer Zeitgenossin Nightingale geraten Seacoles Leistungen in Vergessenheit, bevor sie in den 1980er-Jahren von Historikern „wiederentdeckt“ wird. Heute behauptet Mary Seacoles Vermächtnis ihren Platz in der Geschichte, den sie, 2004 zum Greatest Black Briton gewählt und vielfach als Pionierin des Krankenpflegewesens geehrt, innehat.
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