9. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Eine rätselhafte Krankheit

Die ersten AIDS-Fälle sorgten Anfang der 1980er Jahre für Ratlosigkeit unter den Medizinern. Ein Rückblick auf die Geschichte des Kampfes gegen das HI-Virus – der letztendlich durchaus zu einer Erfolgsgeschichte wurde. (Medical Tribune 26/18)

AIDS bewegte lange Zeit auch die Medical Tribune – die Sprache der Berichterstattung war ein Produkt ihrer Zeit.

Homosexuelle – eine rätselhafte Krankheit rafft sie dahin“: Unter diesem Titel berichtete die Medical Tribune in ihrer Ausgabe vom 19. Feber 1982 erstmals über ein „vorher unbekanntes Problem sehr oft tödlicher Infektionen mit eher harmlosen Keimen bei männlichen Homosexuellen“. Gerade eben war im „New England Journal of Medicine“ ein Bericht über vier Patienten publiziert worden, die unter unaufhaltsam sich ausbreitenden perianalen Ulzerationen, unbeeinflussbarem Fieber, zunehmendem Gewichtsverlust und generalisierter Lymphadenopathie litten. Zu jener Zeit hatte die US-Seuchenbehörde bereits 160 Fälle dieser geheimnisvollen Erkrankung registriert, wöchentlich kamen fünf oder sechs neue dazu. Die Erkrankung sollte bald den Namen „Acquired Immune Deficiency Syndrome“ („Erworbenes Immundefektsyndrom“) erhalten – kurz: AIDS.

„Als ich damals den Artikel im ,New England Journal of Medicine‘ gelesen habe, fand ich das so interessant, dass ich kurz bereut habe, das Fach Dermatologie gewählt zu haben“, erinnert sich Univ.-Prof. Dr. Robert Zangerle. Doch er blieb der Dermatologie treu und wurde schließlich trotzdem beziehungsweise gerade deswegen zu einer der österreichischen Koryphäen auf diesem Gebiet. Im Jahr 1985 nämlich verfügte der damalige Gesundheitsminister Dr. Kurt Steyrer – übrigens ein Dermatologe –, dass alle dermatologischen Abteilungen an den österreichischen Spitälern AIDS-Sprechstunden einrichten sollen. „So habe ich doch noch mit dieser Krankheit zu tun bekommen“, erzählt Zangerle, der mittlerweile bereits emeritiert ist, aber noch immer Senior Scientist an der Innsbrucker Universitätsklinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie und auch Obmann der großen österreichischen HIV-Kohortenstudie (OEHIVKOS) ist.

Ursprung in Afrika

Von der Erstbeschreibung der Krankheit im Sommer 1981 bis zur Entdeckung des HI-Virus, die im Mai 1983 in „Science“ publiziert wurde, vergingen keine zwei Jahre. Es stellte sich heraus, dass der Erreger zur Familie der Retroviren gehört und eine unbehandelte HIV-Infektion nach einer meist mehrjährigen symptomfreien Latenzphase in der Regel zum Krankheitsbild AIDS führt. Im Nachhinein kam auch heraus, dass HIV bereits Jahrzehnte zuvor in Afrika entstanden sein muss. Das älteste pathologische Material, in dem das Virus nachgewiesen werden konnte, stammt aus dem Jahr 1959. „Rückgerechnet ist die Krankheit ungefähr 100 Jahre alt“, erklärt Zangerle.

Lange Durststrecke

Der nächste Meilenstein war der erste HIV-Test, der 1985 patentiert wurde. Zwei Jahre später wurde Zidovudin (auch Azidothymidin, kurz AZT) als erstes Medikament zur Behandlung HIV-infizierter Patienten zugelassen. Die Therapie war allerdings mit schweren Nebenwirkungen verbunden – vor allem aufgrund der in den ersten Jahren noch sehr hohen Dosierung –, sodass viele Patienten die Behandlung abbrachen. Außerdem kam es rasch zur Bildung von Resistenzen. Nach einer Durststrecke von zehn Jahren ging es dann in der HIV-Therapie Schlag auf Schlag: 1995 konnte gezeigt werden, dass eine Kombinationstherapie aus zwei Nichtnukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) deutlich wirksamer ist als eine Monotherapie. 1996 schließlich wurde eine Kombinationstherapie aus zwei NNRTI und einem Proteaseinhibitor entwickelt.

„Da war klar: Man kann die Virusreplikation stoppen“, erinnert sich Zangerle. Als schließlich 2007 Integraseinhibitoren zugelassen wurden, die das Schlüsselenzym Integrase von Retroviren wie HIV hemmen, war die Kombinationstherapie, wie sie heute noch verwendet wird, geboren. Die große Mehrheit der HIV-Patienten wird heute mit einer Kombination aus Integraseinhibitoren und zwei unterschiedlichen NNRTI behandelt. Knapp unter zehn Prozent der österreichischen Patienten bekommen allerdings noch immer eine Kombination mit einem Proteaseinhibitor und zwei NNRTI. Derzeit sind in Österreich 6.600 Patienten unter Therapie. „Früher war die Therapie schwierig einzunehmen und nebenwirkungsreich“, weiß Zangerle. Die heutzutage verfügbaren Kombinationstherapien sind jedoch gut verträglich und mittlerweile so effektiv, dass es bei HIV-positiven Menschen nicht mehr zum Ausbruch von AIDS kommt. Die Vermehrung des Virus wird vollständig unterdrückt. Dank des medizinischen Fortschritts kann man heute mit einer HIV-Infektion durchaus mit einer hohen Lebenserwartung rechnen.

Voraussetzung dafür sind eine frühe Diagnose, eine zeitgerecht einsetzende Behandlung mit regelmäßiger Medikamenteneinnahme. Eine Heilung ist freilich bis heute nicht möglich. Das HI-Virus nämlich baut sich während seiner Replikation in das Genom der Wirtszellen ein, also in die menschlichen Erbanlagen, wo es gewissermaßen schlummert und jederzeit wieder produziert werden könnte. „Sie können 30 Jahre lang eine HIV-unterdrückende Therapie machen – wenn Sie die Therapie absetzen, ist das Virus ist in zwei Wochen wieder da“, sagt Zangerle. Allerdings ist das Virus, solange es nur in die Erb anlagen eingebaut ist, nicht übertragbar. Ein HIV-Infizierter, bei dem die Viruslast aufgrund der Behandlung seit mindestens einem halben Jahr unter der Nachweisgrenze liegt, kann niemanden mehr mit HIV anstecken.

Kontroversielle Diskussion

Weltweit stagniert die Zahl der HIV-Neuinfektionen. Seit etwa zehn Jahren stecken sich jährlich immer noch 2,5 Millionen Menschen mit dem HI-Virus an, drei Viertel davon in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. „Derzeit gibt es Hinweise, dass die Anzahl der Neuinfektionen in manchen westlichen Großstädten trotz gleichbleibender Diagnosezahlen zurückgeht“, berichtet Zangerle. Dieses Thema allerdings werde kontroversiell diskutiert. „Je mehr Infizierte behandelt werden und somit nicht ansteckend sind, desto weniger Neuinfektionen“, erklärt der Innsbrucker HIV-Experte den Zusammenhang. Damit sich ein Rückgang der Neuinfektionen auch in einem Rückgang der Diagnosen widerspiegle, müssten laut mathematischen Modellen 90 Prozent aller HIV-Infizierten unter Therapie stehen. So weit ist es allerdings noch nicht: „In Österreich zum Beispiel sind zirka 80 Prozent aller HIV-Infizierten unter Therapie“, rechnet Zangerle vor.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune