Retschitzegger: Sprache schafft Wirklichkeit

Vor einigen Tagen besuchte ich als Konsiliararzt eine schmerzgeplagte Tumorpatientin. Sie wohnt in einer Einrichtung betreubaren Wohnens. Während meiner Visite wurden der Patientin entgegenkommenderweise von einer Mitarbeiterin der Apotheke mit „Hier ist Ihr Suchtgift!“ ihre Medikamente gebracht. Da wurde mir wieder dieses oft bedachte Thema der Sprachwahl bewusst. Was heißt das für einen Menschen, wenn er – im übertragenen Sinne – alle paar Tage hört, hier ist „Ihr Gift“, hier sind die Medikamente „für Ihre Sucht“? Was wird den PatientInnen – und den involvierten Angehörigen – damit si­gnalisiert? Im Krankenhaus kennen wir den – oftmals zu lauten – Ruf durch die Gänge oder im Stationszimmer: „Wer hat denn den Suchtgiftschlüssel?“ Und wir haben einen Suchtgiftschrank und ein Suchtgiftheft …

Natürlich haben wir offiziell ein „Suchtmittelgesetz“ in Österreich – und das ist gut, wichtig und richtig. Ob wir aber gleichzeitig täglich PatientInnen, Angehörige und auch Professionelle aller Berufsgruppen damit ansprechen sollen, dass „Suchtgifte“ verordnet, verabreicht und eingenommen werden, stelle ich sehr infrage. Es ist wissenschaftlich gut belegt, dass korrekte und kompetente Anwendung von opiathaltigen Schmerzmitteln zu keiner Sucht (im klassischen Sinne) führt. Aber die „Suchtangst“ (oder sogar vermeintliche -gewissheit) ist bei PatientInnen und auch ÄrztInnen immer noch weit verbreitet.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune