Digitale Hausaufgaben für Europa

BIG DATA – Neue Technologien bergen zwar Gefahren, aber die Chancen überwiegen – dahingehend herrscht unter Experten ein breiter Konsens. Die Frage ist nur, wie man die riesigen Datenmengen strukturiert und wer sie überwacht. (Medical Tribune 42/17)

Die digitale Revolution eröffnet der Medizin immense Chancen – zunächst ist aber die Politik gefordert.
Die digitale Revolution eröffnet der Medizin immense Chancen – zunächst ist aber die Politik gefordert.

Wer sich mit der Zukunft beschäftigt, der kommt um einen Themenkomplex nicht herum: digitale Innovationen und Big Data. Prompt wurde auch am diesjährigen European Health Forum im Gastein (EHFG) ein Fokus darauf gelegt. Über 500 führende Gesundheitsexperten aus Politik, Forschung und Wirtschaft aus ganz Europa debattierten dort die größten gesundheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit.

Drei Szenarien für eine gesunde Zukunft

Und zum 20-jährigen Bestehen des Forums präsentierte dessen Generalsekretärin, Dorli Kahr-Gottlieb, das „Health Futures Projekt“. Darin wurde der Frage nachgegangen, wie die gesundheitliche Versorgung Europas in 20 Jahren aussehen könnte. Als Ergebnis wurden drei Szenarien herausgearbeitet: Im ersten spielen die Gemeinden und Städte eine wesentliche Rolle für eine gesunde Zukunft, im zweiten steht die Eigenverantwortung des Individuums im Mittelpunkt und im dritten bestimmt technologische Innovation die Gesundheit. All diese Szenarien erfordern eine Transformation der Systeme und neue Rahmenbedingungen. Das erste Szenario erfordert beispielsweise eine Abkehr vom zentralisierten System, wie Francesca Colombo von der OECD betonte.

Dr. Clemens Martin Auer, Sektionschef im österreichischen Bundesministerium für Gesundheit und Präsident des Forums in Gastein, glaubt, dass das Ziel einer besseren Gesundheit in Europa letztendlich nur durch eine Mischung aus verschiedenen Ansätzen gelingt. Manches müsse lokal organisiert werden, manches überregional und manches individuell. Umso wichtiger sei, dass auch andere Ressorts in gesundheitspolitische Prozesse eingebunden werden. „Gesundheitsminister sind nicht allein verantwortlich für Prävention“, betont Auer: „Das betrifft auch Bereiche wie beispielsweise Umweltpolitik, Städteplanung oder die Lebensmittelproduktion.“

Chancen für effizientere Gesundheitssysteme

Big Data ist in jedem Fall ein wichtiges Thema, dem zunehmende Bedeutung zukommt. Dass gesammelten Daten nicht nur für Forschung und Entwicklung enorme Chancen mit sich bringen, sondern auch die Effizienz der Gesundheitssysteme entscheidend verbessern können, ist jedem klar. Big Data birgt freilich auch Risiken, zumal Gesundheitsdaten höchst sensibel sind. „Regierungen müssen in Daten-Governance-Systeme investieren, sodass die Daten verknüpfbar, aber trotzdem privat und persönlich sind. Ohne diese Systeme sind die Daten nicht nutzbar, wodurch wertvolle Möglichkeiten verpasst würden“, sagt OECD-Expertin Colombo. Auch Martin Seychell, der bei der Europäischen Kommission für den Gesundheitsbereich zuständige Generaldirektor, betont die Notwendigkeit eines strukturierten und nicht zuletzt auch länderübergreifenden Vorgehens. „Die gesammelten Datenmengen helfen uns nichts, wenn wir sie nicht organisiert einsetzen“, sagte er in Gastein.

„Wenn wir aber die vielen, bereits jetzt im Gesundheitsbereich gesammelten Daten wirklich gut nützen und auswerten, dann haben wir in Europa das Potenzial, zum Weltmarktführer bei Innovationen zu werden.“ Die öffentliche Hand wie auch politische Entscheidungsträger könnten dann auf Basis von tatsächlichen Fakten handeln. „Wir können von seltenen Krankheiten lernen, denn sie zeigen die Möglichkeiten von grenzüberschreitender Zusammenarbeit auf“, sagt Terje Peetso, Head of Sector eHealth and Ageing policy in der EU-Kommission. Dies setzt allerdings politischen Willen sowie angemessen Datenund Rechtsschutz voraus. „Big Data unachtsam zu nutzen, ist unethisch, Big Data nicht zu nutzen, ist aber ebenfalls unethisch“, betonte wiederum Prof. Reinhard Riedl, der Leiter des transdisziplinären BFH-Zentrum Digital Society in Bern.

„Ein Hack ist wie eine Naturkatastrophe“

Über Chancen und Risiken datengesteuerter Medizin wurde vor Kurzem auch in Wien diskutiert. „Durchschnittlich wissen 69 Prozent der Betroffenen gar nicht, dass sie gehackt wurden,“ sagte der Ethical Hacker Ralph Echemendia auf einer Veranstaltung von Forbes in Kooperation mit IBM und Pfizer. „Ein Hack ist wie eine Naturkatastrophe, man kann ihn nicht verhindern, man kann nur versuchen, ihn möglichst schnell zu entdecken und dagegen vorzugehen.“ Der Amerikaner betonte die besondere Sensibilität von medizinischen Daten und Internet-of-Things-Devices. „Wir haben es getestet: Man kann Herzschrittmacher hacken und könnte theoretisch tatsächlich jemanden damit töten.“ Das allgemeine Bewusstsein für Datensicherheit sei noch nicht sehr ausgeprägt, so der Experte. Vielen ist die Regulierung auch zu langsam und nicht mehr zeitgemäß. Dass die Chancen für Forschung und Behandlung die Risiken im Zusammenhang mit dem vermehrten Aufkommen von Daten überwiegen, dazu bestand aber auch auf der Forbes-Veranstaltung ein breiter Konsens. „Big Data macht die medizinische Versorgung besser und günstiger“, betonte etwa John Crawford, EMEA Healthcare Solutions Leader bei IBM (siehe Interview mit John Crawford).

Hintergrund
Big Data steht für das stark ansteigende Volumen digitaler Datenmengen, die in verschiedenen Bereichen anfallen und derart groß, komplex, schnelllebig und unstrukturiert sind, dass sie nur begrenzt durch klassische Datenbanken verarbeitet werden können. Der Begriff wird häufig als Sammelbegriff für digitale Technologien verwendet und oft auch als Synonym für den Umgang mit solchen, mitunter sensiblen Daten.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune