„Bluttests werden Früherkennung von Krebs revolutionieren“
Univ.-Prof. Dr. Martin Widschwendter, der im März mit dem ERC Advanced Grant einen der wichtigsten und höchstdotierten Forschungspreise erhalten hat, baut derzeit gemeinsam mit und an der privaten Gesundheitsuniversität UMIT in Hall die Infrastruktur für die Entwicklung eines neuen Bluttests auf. Die krebs:hilfe! sprach mit dem Krebsforscher, der zwischen Tirol und London pendelt, über den aktuellen Stand des Pilotprojektes. (krebs:hilfe! 8-9/17)
krebs:hilfe!: Sie wurden im März 2017 als erster österreichischer Kliniker mit dem ERC Advanced Grant ausgezeichnet und haben damit eine Förderung von 2,5 Millionen Euro auf fünf Jahre erhalten. Wofür konkret haben Sie diese Mittel erhalten?
Widschwendter: Mein Forschungsschwerpunkt sind Prävention und Früherkennung von gynäkologischen Tumorerkrankungen, speziell Brust-, Gebärmutter-, Eierstock- und Eileiterkrebs. Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Am University College London, kurz UCL genannt, haben wir vier Schwerpunkte in der Krebsforschung, die sich mit der Kurzformel P4-Medizin – für Prävention, Prädiktion, Personalisiert und Partizipatorisch – zusammenfassen lassen: Wir wollen wissen, warum und wie Brust- und Eierstockkrebs entstehen, und wir wollen wissen, welche Frauen Brust-, Gebärmutter- oder Eierstockkrebs bekommen. Wir wissen heute, dass nur etwa zehn Prozent aller Brust- und Eierstockkrebsfälle einer vererbten Mutation im BRCA-1- oder -2 Gen geschuldet sind. Diese Genveränderungen kann man nachweisen. Bei den allermeisten anderen Frauen können wir allerdings derzeit noch nicht im Vorhinein sagen, ob sie im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken oder nicht. Die Identifikation von Frauen, die ein hohes Risiko haben, an Krebs zu erkranken, ist aber eine Voraussetzung für gezielte Vorbeugung und Prävention. Wir arbeiten an vollkommen neuen Strategien, um Krebs vorzubeugen. Wir möchten diejenigen Krebserkrankungen, die sich nicht verhindern lassen, zumindest in einem möglichst frühen Stadium entdecken. Das ist speziell beim Eierstockkrebs sehr komplex, weil – wie wir heute wissen – die meisten Krebszellen nicht vom Eierstock gebildet werden, sondern von den Eileitern.
Sie haben einen Bluttest für ein Früherkennungsscreening entwickelt …
Das UCL hat bereits unter meinem Vorgänger Professor Ian Jacobs begonnen, nach Alternativen in der Früherkennung zu forschen, und den Bluttest ROCA (Risk of Ovarian Cancer Algorithm) entwickelt, dem der zeitliche Verlauf des Tumormarkers CA125 zugrunde liegt. 2001 wurde die größte jemals durchgeführte Langzeitstudie UKCTOCS (UK Collaborative Trial of Ovarian Cancer Screening) gestartet, an der ich ab 2005 beteiligt war. Über 200.000 Frauen wurden zufällig in drei Gruppen eingeteilt: 50.000 Frauen erhielten einmal im Jahr eine Ultraschalluntersuchung, 50.000 machten einmal pro Jahr den ROCA-Test, und 100.000 Frauen umfasste die Kontrollgruppe. Das Ergebnis ist tatsächlich sensationell. Während wir mittels Ultraschall keine Verbesserung im Vergleich zur Kontrollgruppe erreichten und nur 25 Prozent der Karzinome im Stadium I oder II entdeckten, konnten wir mit dem ROCA-Test beinahe 40 Prozent bereits in diesen beiden Stadien diagnostizieren. Außerdem entdeckten wir mit ROCA 86 Prozent der Karzinome, und mit dem Ultraschall nur 63 Prozent.
Der Erfolg von Screeningprogrammen wird unter anderem auch daran gemessen, dass es möglichst wenig falsch-positive Ergebnisse gibt. Wie viele gibt es beim ROCA-Test?
Das ist natürlich gerade beim Ovarialkarzinom wichtig, weil hier die Konsequenz eines positiven Befundes eine Operation der Eileiter und des Eierstocks – in den allermeisten Fällen in Allgemeinnarkose – ist. Das heißt, wir brauchen eine besonders hohe Spezifität. Auch hier schneidet der ROCA- Test deutlich besser ab als Ultraschall- Screening. Während beim Ultraschall 14 bis 16 Frauen operiert werden müssen, um ein Karzinom zu entdecken, sind es beim ROCA-Test nur noch drei bis vier.
Kommt in Tirol dieser vom UCL entwickelte ROCA-Test zum Einsatz?
Nein, dieser Test war uns noch nicht präzise genug. In den letzten Jahren haben wir – auch dank EU-Förderungen – große Fortschritte bei der Entwicklung und dem Einsatz der Liquid Biopsy gemacht. Wir sind davon überzeugt, dass sie die Früherkennung von Tumoren revolutionieren wird. Wir weisen im Blut epigenetische Veränderungen der DNA, die vom Tumor abgegeben wird, nach. Wir haben festgestellt, dass die DNA-Methylierung im Krebsgewebe stark verändert ist, und können mittels Flüssigbiopsie nach diesen Markern suchen. In Kombination mit dem ROCA bietet das wahrscheinlich eine noch präzisere Möglichkeit bösartige Tumore im Frühstadium zu detektieren. In Westösterreich werden wir diese Kombination erstmals in einem Pilotprojekt anbieten.
Warum hier und nicht in London?
Ein Screeningprogramm kann nur dann erfolgreich ausgerollt werden, wenn die Bevölkerung relativ stabil ist und eine entsprechende Infrastruktur vorhanden ist. Beides ist in Tirol optimal. Das UMIT mit seinem Schwerpunkt auf Prävention und Gesunderhaltung hat bereits einen großen Teil der notwendigen Infrastruktur vorrätig. Außerdem gibt es niedergelassene Fachärzte, die es in London nicht gibt. Das macht die Durchführung viel einfacher.
Wie ist der aktuelle Stand des Projektes?
Wir sind intensiv dabei, Gespräche zu führen. Der ERC-Grant ist ein gutes Startkapital, aber die Gelder reichen bei Weitem nicht aus, um dieses ambitionierte Projekt weiter zu finanzieren. Deshalb reden wir gerade mit allen Stakeholdern, um das Screeningprogramm nachhaltig zu finanzieren. Und wir bereiten die Infrastruktur vor, also die Labors, die Dokumentation und die Implementierung verschiedenster Parameter, um das Screeningprogramm im Rahmen dieser klinischen Evaluationsstudie qualitätsgesichert anbieten zu können. Wenn alles nach Plan läuft, und davon gehe ich jetzt einmal optimistisch aus, dann könnten wir in einem Jahr, also im Herbst 2018, starten.
Sie leiten das Department of Womens’ Cancer in London und arbeiten jetzt für dieses Forschungsprojekt mit der Privatuniversität UMIT in Hall zusammen? Wie funktioniert das?
Die Zusammenarbeit ist sehr problemlos. In diesem Rahmen planen wir auch, mit der Medizinischen Universität und anderen Institutionen intensiv zusammenzuarbeiten. Im Moment geht das meiste noch online – via Mail und Skype-Konferenzen. Das funktioniert sehr gut. Ich pendle aber ohnedies jede Woche zwischen London und Innsbruck, weil meine Familie in Tirol ist. Sobald die ersten Bluttests starten, werde ich fix einen Tag pro Woche in Tirol sein. Bis dahin gibt es allerdings noch viel zu tun. Neben dem Aufbau der Infrastruktur müssen wir alle von den langfristigen Vorteilen des Screenings überzeugen.
Das klingt so, als erwarteten Sie Skepsis vonseiten der Ärzte?
Ich denke schon, dass es hier Überzeugungsarbeit braucht. Österreich hat aus meiner Sicht eine perfekte Infrastruktur im Gesundheitswesen. Ein Beispiel: In dem Krankenhaus in London, in dem ich arbeite und welches eines der größten Krankenhäuser Europas ist, gibt es pro Zimmer 60 Betten nebeneinander, nur durch Vorhänge getrennt. Im Vergleich dazu bietet Österreich seinen Patienten Luxus. Der Nachteil ist, dass das österreichische System an sich vielleicht etwas behäbiger ist und Neuerungen länger brauchen.
Sie sind bereits seit vielen Jahren in Großbritannien und haben den Vergleich. Was ist dort anders als in Österreich?
Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile. In UK ist das Gesundheitswesen zentralisiert. Es gibt keine niedergelassenen Fachärzte, die Patienten können entweder zum Hausarzt gehen oder in ein Zentrum. Für mich als Kliniker und Forscher hat das einen großen Vorteil, weil diese Zentren ein extrem großes Patientenvolumen haben. Speziell für den Bereich des Unterleibskrebs hat London mit seiner großen jüdischen Gemeinde eine große Fallzahl, weil jüdische Frauen ein höheres Risiko haben, Eierstockkrebs zu entwickeln. Die dafür verantwortliche Genmutation BRCA 1 bzw. 2 trägt bei ihnen eine von 40 Frauen. In der nicht jüdischen Bevölkerung nur etwa eine von 800. Dadurch war das Forschungsinteresse sehr stark. Und das ist auch der zweite große Vorteil – dass England viel Wert auf Forschung legt. Ich habe am University College London eine zweigeteilte Rolle. Einerseits operiere ich noch viel. Ich habe fixe Operationstage, wo ich durchgehend von 8.00 morgens bis 7.00 abends operiere. Dazu kommt noch Visite und Nachbetreuung. Aber der Rest der Woche ist frei für meine Forschung. Ich arbeite derzeit rund 30 Prozent im klinischen Bereich, 70 Prozent meiner Arbeitszeit kann ich mich ganz auf die Forschung konzentrieren.
Wie wird die Forschung finanziert?
Auch das ist ein Unterschied zu Österreich. In UK werden 98 Prozent der Forschungsgelder nicht von den Universitäten aufgebracht, sondern über Drittmittel finanziert. Eine sehr große Unterstützung sind dabei etwa EU-Forschungsgelder und -preise, wie etwa der ERC Advanced Grant. Außerdem gibt es in UK eine lange Tradition der Charities, Organisationen, die unter anderem die Forschung unterstützen. Das bedeutet: Wir Forscher müssen für unsere Projekte werben. Das ist höchst kompetitiv und nicht immer einfach, aber es fördert die Qualität.
Wie wird sich die Forschung in den UK nach dem Brexit entwickeln?
Bis jetzt ist noch alles gleich geblieben. In den letzten Wochen hat es einen Schwenk gegeben in der Regierung, dass der Brexit eventuell doch nicht so hart vollzogen wird wie ursprünglich geplant. Aber natürlich sind wir alle angespannt. Rund 30 Prozent der Chirurgen in England sind europäisch und haben keine britische Staatsbürgerschaft; die Engländer werden sich deshalb sehr genau überlegen, wie sie mit den Europäern im Land in Zukunft umgehen. Ich persönlich glaube, dass der Brexit eine dramatische Fehlentscheidung war. Vielleicht hat das auch mit dazu eigetragen, dass die UMIT noch attraktiver ist für mich, als sie eh schon war.
Zieht es Sie langfristig wieder nach Österreich zurück?
Wir haben als Familie viele Jahre lang gemeinsam in London gelebt und sind erst vor Kurzem nach Tirol zurückgegangen. Jetzt pendle ich jedes Wochenende, und werde durch die Kooperation mit der UMIT auch mehr in Österreich sein. Es ist gut, ein europäisches Standbein zu haben.
Was sind die wichtigsten Dinge, die Sie in London gelernt haben?
Man muss immer positiv bleiben und in die Zukunft blicken; das bringt mehr als raunzen. Zusammenarbeit ist essenziell für den Erfolg. Ich muss sagen, ich bin in London tatsächlich sehr positiv transformiert worden. Wer in einem derart wettbewerbsorientierten System lebt, muss immer weiter gehen und braucht eine hohe Frustrationstoleranz. Und auch einen Pragmatismus, um neue Wege zu entdecken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Über Univ.-Prof. Dr. Martin Widschwendter
Martin Widschwendter arbeitete nach seiner Promotion an der Universität Innsbruck 1992 ein Jahr in der Forschung, bevor er sich zur Facharztausbildung als Gynäkologe an der Frauenklinik Innsbruck entschloss. Nach dem Abschluss und seiner Habilitation in Gynäkologie ging er einige Monate für eine Hilfsorganisation nach Ghana, bevor er nach Los Angeles ans dortige Comprehensive Cancer Center berufen wurde. 2003 kehrte er nach Innsbruck zurück und baute dort das erste zertifizierte Brustgesundheitszentrum in Österreich auf. 2005 ging er ans Department of Women’s Cancer am University College, eines der europaweit größten Zentren für frauenspezifische Tumorerkrankungen. Dort arbeitet er seither als Krebsspezialist und Tumorchirurg und forscht zu Früherkennung und Krebsprävention. 2007 wurde er Consultant, 2009 Professor und 2011 schließlich Leiter und Chairman des Departments. Widschwendter ist Autor von mehr als 145 Papers in hochrangigen wissenschaftlichen Journalen. Seine Arbeit ist viele Male ausgezeichnet worden. Seit Herbst 2016 arbeitet er am Aufbau einer Forschungseinheit zur Früherkennung von Brust- und Unterleibskrebs an der UMIT in Hall. Aktuell laufen dort die Vorbereitungen für ein Pilotprojekt zur Früherkennung von Eierstockkrebs mittels Bluttest.