Rare Diseases Dialog: Rezepte für eine raschere Diagnose
Anhand von Erfahrungen von Betroffenen und Ärzten sowie neuen Ansätzen der Politik wurde auf einer Veranstaltung in Wien diskutiert, wie seltene Erkrankungen rascher diagnostiziert werden können. (Medical Tribune 16/2017)
Nach wie vor irren viele Patienten mit seltenen Erkrankungen von Pontius zu Pilatus, um eine verlässliche Diagnose zu erhalten. 16 Verdachtsdiagnosen hatte Jennifer Bocek, heute Leiterin der Österreichischen Narkolepsie Gesellschaft, erhalten, bevor feststand, dass sie an der seltenen Erkrankung des Schlaf-Wach-Rhythmus leidet. Auch bei Morbus Fabry dauere es manchmal 20 Jahre, bis die korrekte Diagnose gestellt ist, weiß Iris Strillinger, Leiterin der Morbus-Fabry-Selbsthilfegruppe Österreich. Mag. Dominique Sturz vom Forum für Usher-Syndrom musste sich bei Experten im Ausland Wissen über die Erkrankung ihrer Tochter aneignen. Obwohl sie taub geboren wurde und eine Sehstörung folgte, dauerte es an die zehn Jahre, bis erstmals an das Usher-Syndrom gedacht wurde. Doch es gebe auch Fortschritte, so die engagierte Mutter: „Ansatzweise werden mittlerweile die Fachbereiche HNO, Augen und Genetik in Österreich vernetzt und Frühdiagnosen etabliert.“
Durch die Seltenheit der einzelnen „Rare Diseases“ (per Definition max. 0,05 Prozent der Bevölkerung) sind die Betroffenen nicht nur oft jahrelang mit unklaren Diagnosen und Therapien konfrontiert, sondern stoßen auch häufig auf begrenzte Unterstützung durch das Gesundheitssystem. „Eine korrekte Diagnose ist für viele ein grundlegender Wendepunkt in ihrem Leben“, weiß Dr. Rainer Riedl, Obmann von Pro Rare Austria. „Sie erklärt und bestätigt Betroffenen und ihrer Umwelt die Ursache für ihr oft so lange unerkanntes Leid und ermöglicht, zielgerichteter zu handeln, sich in der Selbsthilfe zu engagieren usw.“
Je seltener Krankheiten vorkommen, desto geringer ist jedoch meist die „Awareness“. Insbesondere dann, wenn die involvierten Ärzte nicht an einem spezialisierten Zentrum arbeiten. Denn für die frühzeitige Diagnose wären oft Spezialkenntnisse und interdisziplinäre Expertise notwendig. Deshalb plädiert Pro Rare Austria seit Jahren dafür, seltene Erkrankungen immer an einem spezialisierten Zentrum oder zumindest in Kooperation mit einem solchen zu betreuen. Verbesserungen soll in diesem Zusammenhang die Auswahl bzw. der österreichweite Aufbau von Expertisezentren bringen. „Sie werden in Zukunft als Anlaufstellen dienen, wir wollen sie entsprechend sichtbar machen“, hebt Ass.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Till Voigtländer, Leiter der 2011 gegründeten Nationalen Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen, hervor. 20 bis 25 solcher Zentren seien bundesweit geplant. In diesen wird das entsprechende Know-how gebündelt sein und – durch enge Vernetzung mit Experten anderer medizinischer Disziplinen – die Qualität der Versorgung nachhaltig sichergestellt werden.
Scharren in Startlöchern
Zur nationalen kommt noch eine internationale Dimension: Die entstehenden Expertisezentren schließen sich gerade auf europäischer Ebene – fachspezifisch – zu 24 sogenannten Europäischen Referenznetzwerken (ERN) zusammen. Auch diese Netzwerke sollen einerseits die Bündelung der Expertise sicherstellen. Andererseits geht es darum zu gewährleisten, dass Patienten aus Staaten ohne eigenes Zentrum für eine bestimmte Erkrankung eine gute medizinische Versorgung im Ausland zuteil wird.
In Österreich wurden bisher erst zwei Kompetenzzentren designiert: eines für Genodermatosen mit Schwerpunkt Epidermolysis bullosa und eines für pädiatrische Hämato-Onkologie. Die weiteren rund 25 Kandidaten scharren quasi in den Startlöchern und werden in nächster Zeit den Designationsprozess durchlaufen. „Wir stellen Qualität vor Quantität“, rechtfertigt Voigtländer, warum es langsamer als in anderen europäischen Staaten vorwärtsgeht. Es müssten auch die Kapazitäten aufgestockt werden, fügt Dr. Magdalena Arrouas vom Gesundheitsministerium, Vorsitzende des Beirates für Seltene Erkrankungen, hinzu. Derzeit sei allein das Gesundheitsressort zuständig. Auch Länder und Sozialversicherungsträger sollten sich (finanziell) beteiligen.
Genetische Screenings
Keinerlei Verständnis für das „Nachhinken“ Österreichs hat Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Sperl, Vorstand der Univ.-Kinderklinik Salzburg und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ): „Wir wollen die besten Zentren, aber es darf nichts kosten und keiner ist zuständig“, übt er heftige Kritik. „Österreich ist im Europa-Netzwerk für seltene Erkrankungen ein weißer Fleck – weil’s so langsam geht – obwohl wir die besten Experten haben!“ Gleichzeitig ist es Sperl wichtig, eine Lanze für die Ärzte zu brechen: Es können heute nicht nur Neugeborene, sondern auch unklare Patienten genetisch gescreent werden, verweist er auf Riesen-Fortschritte der vergangenen fünf Jahre. Die Trefferquote liege bei 40 Prozent, das sei ein toller Fortschritt, diese Patienten seien schnell diagnostiziert.
Trotzdem bleiben 60 Prozent weiter unklar. „Betroffene sollten an eine passende Abteilung einer Universitätsklinik überwiesen werden“, rät Sperl niedergelassenen Kollegen. In Wien werden unklare Fälle bereits mit dem CeRUD (Wiener Zentrum für Seltene und Undiagnostizierte Erkrankungen) besprochen, in anderen Bundesländern in Disease Boards. „Die Awareness wird wachsen“, gibt sich der Experte optimistisch.
„Rare Diseases Dialog“ der Pharmig Academy: Der lange Weg zur Diagnose; Wien, April 2017