Wie Corona auf die Nerven geht

Anfangs galt Corona als reine Lungenerkrankung. Doch nach und nach mehrten sich die Hinweise, dass SARS-CoV-2 auch schwere neurologische Erkrankungen hervorrufen kann. Prim. Priv.-Doz. Tim J. von Oertzen, Leiter der Klinik für Neurologie 1 am Neuromed Campus, Kepler Universitätsklinikum (KUK) in Linz begann als Mitinitiator der COVID-19-Taskforce der europäischen Akademie für Neurologie, Ende März ein Ressourcenzentrum aufzubauen und ruft im medonline-Interview zur Mitarbeit auf. Im Hausarztbereich wiederum hatte Dr. Oliver Lammel in Ramsau am Dachstein, Steiermark, den richtigen Riecher: Ende Februar fielen ihm schon Geruchs- und Geschmacksstörungen bei Infektpatienten auf. Er führte eine Studie durch, die sich gerade im Reviewprozess befindet.
medonline: Herr Prim. von Oertzen, Sie sind Mitinitiator der COVID-19-Taskforce der Europäischen Akademie für Neurologie und haben bereits Ende März ein Ressourcenzentrum aufgebaut. Was war der Ausschlag für den Aufbau dieses europaweiten Netzwerkes?

Tim J. von Oertzen: Der Ausschlag für den Aufbau dieses europaweiten Netzwerkes war die Überlegung, dass Neurologen die aktuellsten Informationen zur COVID-Erkrankung bereitgestellt werden müssen. Auch ist es wichtig Empfehlungen für den Umgang mit Erkrankungen zu erstellen. Damit ist dies eine der Kernaufgaben der wissenschaftlichen Gesellschaften für Neurologie, deren europäische Dachgesellschaft die European Academy of Neurology (EAN) ist. Innerhalb der EAN, die 45.000 Neurologen aus 47 Mitgliedsländer vertritt, sind Prof. Claudio Bassetti, Bern, Prof. Elena Moro, Grenoble, Dr. Thomas Jenkins, Sheffield und ich auf die Idee gekommen, die EAN Core COVID-19-Initiative zu gründen.
Im Zuge dessen haben Sie auch eine Online-Umfrage durchgeführt, an der sich mehr als 5.000 Ärzte beteiligten. Von welchen Erkenntnissen aus der Umfrage, aber auch aus der klinischen Erfahrung wurden Sie persönlich als Neurologe bisher am meisten überrascht?
Die größte Überraschung und Erkenntnis ist die umwerfende Unterstützung und Hilfsbereitschaft innerhalb der ärztlichen Community, die wir mit dieser Initiative erleben konnten. Selbst Neurologen aus extrem angespannten COVID-Hotspots wie Lombardei, Madrid und Straßburg waren trotz ihrer enorm hohen Arbeitsbelastungen bereit, uns Berichte von ihrer Arbeit an der COVID-Front zu schicken. Auch die Anfrage an unsere 29 Experten-Gremien (Scientific Panels), die verschiedene Gebiete der Neurologie repräsentieren, zeigte eine umwerfende und rasche Resonanz zu diesem Thema. Im Rahmen der neurologischen Mitbeteiligung sind sowohl der Verlust des Riechens als auch die entzündlichen Reaktionen im Hirnstamm überraschend. Die Online-Umfrage hat uns bestätigt, dass viele COVID-Patienten neurologische Symptome aufweisen, auch wenn die häufigsten eher unspezifischer Natur sind, wie Kopfweh und Abgeschlagenheit.
Infektiologe Univ.-Prof. Dr. Florian Thalhammer, MedUni Wien, hat im Mai in einer Pressekonferenz davor gewarnt, dass das Virus auch neurotrop sein könnte, da Schädel-MRTs einen „etwas verdickten Riechnerv“ zeigen (siehe Artikel auf medonline). Haben Sie das ebenfalls beobachtet und was bedeutet das speziell für Patienten, die teils noch nach Monaten eine Anosmie aufweisen?
Die Anosmie ist auf eine Mitbeteiligung des Riechnervs bzw. Riechkolbens zurückzuführen und der verdickte Riechnerv zeigt und belegt, dass dies eine Mitbeteiligung des neurologischen Systems ist und nicht eine reduzierte Ventilation der oberen Nasenmuschel, die auch mechanisch einen solchen Effekt haben könnte. Wir wissen, dass erstens die Anosmie meistens auf einen milden Verlauf hindeutet und zweitens, dass die Symptome der Anosmie häufig mehrere Wochen oder sogar Monate andauern können. Ob sich hier alle Symptome zurückbilden werden, muss wahrscheinlich klinisch abgewartet werden, wäre aber eigentlich zu erwarten.
Neben milderen Verlaufsformen wies Prim. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr, Vorstand der Klinik für Neurologie 2 am Med Campus III, KUK, auf schwere Erkrankungen wie Schlaganfälle, Hirn- und Hirnstammentzündungen sowie entzündliche Erkrankungen im peripheren Nervensystem wie das Guillain-Barré-Syndrom hin. Bei wie vielen Patienten treten deutlichere neurologische Symptome auf und wie ist der Verlauf?
Wir gehen davon aus, dass bei einem Drittel der Patienten deutlichere neurologische Symptome auftreten. Hier insbesondere die vermehrte Rate von Schlaganfällen. Einschränkungen des Bewusstseins, psychomotorische Agitiertheit im Sinne einer Enzephalopathie sind etwas seltener. Die häufigsten Symptome sind Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Geschmacks- und Geruchseinschränkungen. Den Verlauf der Erkrankung können wir noch nicht zu 100 Prozent beurteilen. Auch hier sind Verlaufsbeobachtungen der Patienten, die die Krankheit überwunden haben, sehr wichtig.
Sie berichten auch von Patienten mit schwerer, aber stabiler Lungenentzündung, die sich plötzlich rasch verschlechtern und versterben. Vermutet wird ein Versagen des zentral gesteuerten Atemantriebs. Weiß man da schon mehr und wie könnte man dies verhindern?
Ob der vermutete beeinträchtigte Atemantrieb für diese plötzlichen Todesfälle verantwortlich ist, ist noch nicht vollends geklärt. Insofern kann auch noch nicht gesagt werden, ob und wie man dies behandeln bzw. verhindern kann. Es ist aber als Pathomechanismus entweder eine virale Affektion des Hirnstamms oder der sogenannte Zytokinsturm als entzündliche Begleitreaktion als Ursache denkbar. Hier haben wir auch Vorerfahrungen von den Infektionen mit SARS-CoV-1 und MERS, wo man ähnliche Beobachtungen machte.
Sind Patienten mit neurologischen Erkrankungen im Falle einer SARS-CoV-2-Infektion besonders gefährdet, also eine neue Risikogruppe?
Patienten mit neurologischen Erkrankungen selbst sind insbesondere dann gefährdet, wenn die Atemfunktion von vorneherein durch die neurologische Erkrankung vermindert ist. Dies gilt vor allen Dingen für neuromuskuläre Erkrankungen, die die Atemmuskulatur mitbetreffen, oder auch Querschnittsyndrome oder ähnliches.
Zusätzlich sind potenziell Patienten, die immunmodulatorisch und insbesondere immunsuppressiv behandelt werden müssen, höher gefährdet eine COVID-Infektion zu bekommen. Allerdings lernen wir hier mehr und mehr, welche Immunsuppressiva bzw. Immunmodulationen welcher Risikogruppe angehören.
Was ist die wichtigste Botschaft an Ihre ärztlichen Kollegen im Sinne der Patienten? Wie können sie sich in die Task Force einbringen?
Den neurologischen Kollegen kann ich empfehlen die Website der European Academy of Neurology unter www.ean.org und hier das EAN Core COVID-19-Zentrum zu besuchen. Hier gibt es vielfältige Informationen über Literatur, klinische Handlungsanweisungen, neueste Artikel und weitere nützliche Links zu diesem Thema. Des Weiteren haben wir ein Consensus Statement für Best Medical Practice mit Neurologie und COVID-19 in einer extrem kurzen Zeit von zweieinhalb Monaten entwickelt. Diese ist derzeit zur Publikation eingereicht und sollte hoffentlich in den nächsten Monaten erscheinen.
Es ist wichtig, dass wir mehr und genauere Informationen über die Patientenverläufe zusammentragen können. Daher haben wir das Neuro-COVID-19-Register erstellt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn möglichst viele Zentren dazu beitragen, dieses Register mit Informationen zu füllen, in dem auch Informationen für den weiteren Verlauf der Erkrankung gesammelt werden und damit auf Ihre oben gestellte Frage zukünftig Antwort liefern werden. Dieses Register ist unter maßgeblicher Mitarbeit von Priv.-Doz. Dr. Raimund Helbok, Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck, mitentwickelt worden, wo auch das Datenmanagement erfolgt. All diese Schritte wurden mit der EAN Core COVID-Task Force erarbeitet, die aus 23 hochkarätigen Experten der Neurologie aus ganz Europa besteht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Testung im hausärztlichen Setting mit überraschenden Ergebnissen
Seit vielen Jahren gehört die Praxis von Dr. Oliver Lammel, Ramsau am Dachstein, Bezirk Liezen, dem diagnostischen Influenzanetzwerk Österreich (DINÖ, Leitung Priv.-Doz. Dr. Monika Redlberger-Fritz, Zentrum für Virologie, Medizinische Universität Wien) an.

Im Rahmen des DINÖ wird seit 25.02.2020 in durchgeführten Nasen-Rachenabstrichen auch auf das Vorhandensein von COVID-19-Virus-RNA mittels PCR getestet. Hier sei auch über die Möglichkeit von Geruchs- und Geschmacksstörungen gesprochen worden. „Wir haben dann einen Fragebogen entworfen und alle Patienten mit viralen Infektionen getestet und befragt“, schildert Lammel, „aus diesem Fragebogen ist nun auch eine sehr spannende Studie entstanden, die sich gerade im Reviewprozess befindet.“
Strikte räumliche Trennung und Infektteam
Mit Beginn der zweiten Märzwoche habe man die Patienten strikt in Infektpatienten und andere Patienten getrennt: Leicht realisierbar durch einen bereits vorhandenen Infektraum für Kinder, der durch eine Doppeltüre von der restlichen Praxis abgetrennt und von außen eigens zugänglich ist. Im Raum selbst arbeitet ein Team aus DGKP und Arzt. An diagnostischen Hilfsmitteln stehen neben der Grundausstattung auch ein Blutbild- und CRP-Messgerät zur Verfügung. Im Bedarfsfall können ein EKG und eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt werden.
Das Infektteam (Bild am Anfang des Beitrags) trägt einen Schutzanzug und darüber eine Plastikschürze mit langen Ärmeln, zwei Paar Schutzhandschuhe, FFP2- oder FFP3-Maske sowie eine Schutzbrille. „Für das An- und vor allem Auskleiden haben wir einen eigenen Algorithmus entworfen, um eine akzidentielle Selbstinfektion zu vermeiden“, berichtet Lammel, „einmal pro Woche führen wir dahingehend bei uns selbst Nasen-Rachenabstriche durch.“
Patienten mit typischen Symptomen wie Husten, Fieber > 38°, Kurzatmigkeit bzw. Kontakt mit COVID-19-Patienten wurden bereits am Telefon an das Gesundheitstelefon 1450 verwiesen.
Jeder zweite Geruchsstörung, zwei Drittel mit Geschmacksstörung
Im Zeitraum von 24.02. bis 03.04.2020 wurden 72 Rachen-Nasenabstriche durchgeführt. Die Ergebnisse der Testung auf SARS-CoV-2-Infektionen bei oligosymptomatischen Patienten im hausärztlichen Setting*: Bei 16 Patienten (22 %) wurde eine COVID-19-Infektion nachgewiesen. Auffällig erscheint hier, dass bei zwei Dritteln aller positiv getesteten Patienten eine Geschmacksstörung und bei der Hälfte auch eine Störung des Geruchssinns auftrat. In einem Fall war diese Geschmacks- und Geruchsstörung neben einem diffusen Krankheitsgefühl überhaupt das einzige Symptom, das erhoben werden konnte. Fieber trat hingegen nur bei einem Viertel aller Patienten auf.
Rund ein Fünftel positiv: Hohe Dunkelziffer
Die hohe Anzahl an positiv getesteten Patienten (22 %) bei bereits vorselektiertem Patientengut zeige eine hohe Dunkelziffer an COVID-19-positiven Patienten, unterstreicht Lammel die Notwendigkeit eines eigenen Infektraumes (Container, Zelt) oder einer Infektsprechstunde in der niedergelassenen Praxis, um sich nicht selbst oder andere Patienten in Gefahr zu bringen. „Wir konnten durch unsere Vorgehensweise viele virale Infekte anderer Genese, bakterielle Infekte und auch Erkrankungen mit der Konsequenz einer Spitalseinweisung detektieren, entsprechend behandeln und/oder triagieren“, sagt Lammel. Damit habe man nachgeschaltete Gesundheitseinrichtungen sowohl deutlich entlasten als auch vorinformieren können, „hierin zeigt sich die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Erstuntersuchung von Patienten vor Ort in einer allgemeinmedizinischen Praxis“.
Lammel bestätigt auch die Beobachtung, dass eine Anosmie eher bei Patienten mit milden Symptomen auftritt. Seinen hausärztlichen Kollegen empfiehlt er: „Auf die Symptome achten und eine Testung veranlassen!“
*Häufigkeit der SARS-CoV-2-Symptome in absteigender Reihenfolge: Krankheitsgefühl (100 %), Husten (68,8 %), Geschmacksstörung (68,8 %), Glieder-/Muskelschmerzen (62,5 %), Kopfschmerzen (62,5 %), Geruchsstörung (56,3 %) Temperatur 37,5–38°C (50,0 %), Schnupfen (50,0 %), Schüttelfrost (50,0 %), Übelkeit/Erbrechen (37,5 %), Halsschmerzen (37,5 %), Durchfall (31,3 %), Atemnot (31,3 %), Auswurf (31,3 %), Temperatur > 38°C (25,0%).
Zum preprint der Studie:
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.07.13.20152439v1