„Corona bringt Familien an ihre Grenzen“

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Für eine gesunde seelische Entwicklung brauchen Kinder und Jugendliche ein soziales Umfeld auch außerhalb der Familie. Schulen, Sportvereine oder Ferienbetreuungen müssten daher umgehend wieder den Vollbetrieb aufnehmen, betont Kinder- und Jugendpsychiaterin Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sevecke. (CliniCum neuropsy 3/20)

Die einschränkenden Maßnahmen während der Coronakrise haben die Alltagsstruktur von Kindern und Jugendlichen drastisch verändert, berichtete der ORF Tirol kürzlich unter dem Titel „CoV-Krise hinterlässt bei Kindern Spuren“. Konkrete Hinweise auf die seelischen Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder soll nun eine Studie bringen; geleitet wird sie von Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sevecke, Vorständin der Klinik Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, LKH Hall und MedUni Innsbruck sowie Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP). „Kinder und Jugendliche brauchen den sozialen Austausch in allen Entwicklungsphasen vom dritten bis zum 18. Lebensjahr“, erklärt Sevecke gegenüber CliniCum neuropsy.

Schulen oder anderer Betreuungseinrichtungen müssten daher ebenso wie Sportvereine wieder in vollem Ausmaß öffnen, wie auch die ÖGKJP fordert. Kindergarten und Schule haben laut Sevecke für Kinder und Jugendliche eine vergleichbare Bedeutung wie für Erwachsene die Arbeitswelt. Speziell Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familiensituationen – etwa durch psychische Erkrankung eines Elternteils oder häusliche Konflikte – sollten rasch wieder in ihre Alltagsstrukturen kommen, erläutert Sevecke weiter. „Dort können sie Abstand von zu Hause bekommen und gleichermaßen in ihre eigenen Welten eintauchen.“ Zudem habe die Corona-Krise gezeigt, dass sich Lernen zu Hause um einiges schwieriger gestaltet als in der Schule, auch weil die Unterstützung durch Eltern und/oder Lehrpersonal nicht immer ausreichend vorhanden ist.

Nicht nur Kinder mit seelischen Leiden betroffen

Sevecke: „Wir müssen sehr genau hinsehen.“

Das Augenmerk von Sevecke und ihrem Team liegt allerdings nicht nur auf Kindern, die bereits eine psychiatrische Diagnose haben, obwohl diese auch durch Therapieunterbrechungen während der Corona-Krise besonders betroffen sind. „Einige Therapeuten haben zwar telefonische oder Online-Angebote gemacht, das ersetzt aber nicht den persönlichen Kontakt“, sagt Sevecke. „Wir gehen davon aus, dass die Corona-Situation in hohem Ausmaß Stress verursacht hat, unter dem nicht nur besonders vulnerable bzw. Kinder und Jugendliche mit diagnostizierten seelischen Erkrankungen leiden“, betont Sevecke.

„Corona hat alle Familien an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht und nicht nur jene mit psychosozialen Risikofaktoren.“ Die noch schwer abschätzbaren Belastungen ergeben sich z.B. durch mehrere Kinder gleichzeitig im Homeschooling genauso wie durch den Wegfall der Betreuungsmöglichkeit durch die Großeltern. „Die Gesamtlage wird es nötig machen, die einzelnen Risikofaktoren neu zu betrachten. Wir müssen also sehr genau hinsehen, welche Auswirkungen die Situation für einzelne Familien gebracht hat“, meint die Kinder- und Jugendpsychiaterin.

Land Tirol fördert Studie

In der nun anlaufenden Studie werden zunächst Eltern und Kinder zwischen drei und zwölf Jahren in den Corona-Hotspots in Süd- und Nordtirol wie dem Paznaun-Tal mittels eines Online-Fragebogens zu ihrem Stress-Erleben befragt. „Kinder ab acht füllen den Fragebogen selbst aus, bei jüngeren machen die Eltern die Angaben“, erklärt dazu Sevecke. Zusätzlich werden Lehrer und Lehrerinnen befragt und Leiter von pädagogischen Einrichtungen geben in einer Taskforce Auskunft über ihre Erfahrungen. Ziel ist die Entwicklung eines Früherkennungsinstruments von Belastungssymptomen bei Kindern zur Verwendung für Pädagoginnen, mit welchem diese abschätzen könnten, ob ein Kind an Stress-Symptomen leidet und gegebenenfalls weitere Unterstützung benötigt. Perspektivisch ist eine Spezialsprechstunde und Telefonhotline an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall in Tirol für stark belastete Kinder und deren Eltern geplant.

Sobald das Screening-Instrument fertig entwickelt ist, könnte es auch österreichweit eingesetzt werden, meint Sevecke. Immerhin fühlten sich Familien bundesweit weitgehend im Stich gelassen. „Bevor wir über den weiteren Ausbau psychosozialer Betreuungsangebote für Familien bzw. Kinder und Jugendliche reden können, müssen wir zunächst einmal auf das Angebot vor der Corona-Krise kommen.“ Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche müssten zudem noch besser medial bekannt und damit niederschwellig erreichbar gemacht werden. So verweist die ÖGKJP auf ihrer Website etwa auf das Infoportal „Corona und Du“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Es soll Kindern und Jugendlichen Wege zeigen, „psychisch gestärkt“ durch die Corona-Zeit zu kommen. Laut Sevecke laufen bereits Gespräche dieses Portal für Österreich anzupassen.

oegkjp.at; www.coronaund-du.info

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy