Geriatrische Patienten: „Es dreht sich alles um den Schmerz“
Die Schmerztherapie älterer Menschen braucht einen exakten Blick, oft aber auch ein Hineinhorchen in die Lebensgeschichte, weiß Palliativmediziner OA Dr. Johann Zoidl vom Ordensklinikum Linz. (Medical Tribune 49/18)
Herr Dr. Zoidl, worauf soll man bei geriatrischen Patienten in der Schmerztherapie a priori achten?
Zoidl: Es braucht gerade beim älteren, multimorbiden Patienten ein sehr exaktes Assessment für eine gute Nutzen-Risiko-Abschätzung der Medikamente. Es gibt Veränderungen in der Physiologie, das Körperwasser ist reduziert, das Fettgewebe relativ erhöht, die Verteilungsvolumina verändert. Wir müssen uns gut die Organfunktionen anschauen: Leber, Niere, Darmresorption, Herz-Kreislauf-Funktionen, weil auch Nebenwirkungen durch Polypharmazie sehr schnell eine Rolle spielen können. Was mir noch sehr wichtig ist, auch für den Allgemeinmediziner: Schmerztherapie braucht Betreuung und den Blick darauf, also eine kontinuierliche Evaluierung auch der Funktionalitäten, die sich verändern können.
Wo besteht das größte Interaktionspotenzial bei Multimedikation?
Dr. Zoidl: Beim alten Menschen wird man am häufigsten über Psychopharmaka stolpern: Antidepressiva, Antipsychotika, Beruhigungsmittel, Benzodiazepine. Wir haben auch häufig Interaktionen mit Aggregationshemmern wegen Gefäßerkrankungen: Blutungsgefahr im Gastrointestinaltrakt, Nierenprobleme, Veränderungen im Elektrolythaushalt – was wir nicht so selten sehen – mit einer Hyponatriämie. Bei Beginn einer Schmerztherapie soll man daher schauen: Was kann ich eventuell weglassen?
Gibt es Analgetika, die tabu sind?
Zoidl: Na ja, eigentlich haben wir beim alten Menschen keine sehr große Auswahl. Ein gutes Abschätzen der Indikation ist bei den NSAR gefordert, wobei hier beim älteren Menschen vor allem Ibuprofen und Diclofenac zum Einsatz kommen. Hier gilt es, die geringstmögliche effektive Dosis nur über eine begrenzte Zeit zu verordnen. NSAR gehören zu jenen Medikamenten mit der höchsten Komplikationsrate und auch Todesrate, was Gastrointestinaltrakt, Nierenversagen, Organversagen betrifft. Wir sind immer wieder konfrontiert mit Menschen mit chronischen Schmerzen, die sagen: „Paracetamol und Metamizol hilft mir nicht, es hilft nur Diclofenac.“ Dann kann man zwar unter Beobachtung der Nierenfunktion und ausreichend Trinken eine begrenzte Zeit Diclofenac geben, weil man sonst im Bereich der Nicht-Opioide ansteht. Der nächste Schritt wäre die Opioidtherapie, die aber auch nur ein kleiner Teil im Konzert der Schmerztherapie ist. Man kommt also manchmal sehr in die Enge, was die Medikamente betrifft. Daher ist es so wichtig, dass die Leute in einer Betreuung sind und auch nicht-medikamentöse Therapien besprochen werden.
In der Palliativmedizin ist der Schmerz mitunter Ausdruck seelischen Leids. Soll man das von organisch bedingtem Schmerz trennen?
Zoidl: Die Mehrdimensionalität des Schmerzes ist ein zentrales Thema. In der allgemeinen Schmerztherapie laufen Menschen oft Gefahr: Sie werden untersucht, man findet nichts und dann kommt schnell: „Wahrscheinlich ist es psychisch bedingt.“ Das ist etwas, was die Leute beleidigt oder verunsichert. Es braucht eine andere Zugangsweise, es geht um das Gespräch, das Wahrnehmen der Kranken- und Lebensgeschichte: Was ist da drinnen, das jetzt etwas verändert? Man glaubt gar nicht, was es manchmal auslöst, den Menschen wahrzunehmen. Ich muss nicht immer unbedingt ein Medikament finden. Vor kurzem hat eine Patientin, bei der ich in der Schmerztherapie trotz Schmerzpumpe fast gescheitert bin, gesagt: „Es tut mir gut, wenn Sie in aller Ruhe dasitzen und ich mit Ihnen reden kann und Sie mich verstehen.“ Oder die Angst vor Kontrollverlust bei Opiaten, das sind lauter Reaktionen aus einer psychischen Not heraus.
Wie nehmen Sie diese Angst?
Zoidl: Als Arzt kann ich aufklären und sagen, dass das nicht so ist. Wir haben Leute mit hochdosierten Opiaten, die Auto fahren. Ich sage auch immer: Der Schmerz hat oft mehr Nebenwirkungen als die Schmerzmittel, die wir geben. Denn es dreht sich alles um den Schmerz, die Leute essen weniger, werden schwächer und haben auch einen Kontrollverlust! Für mich ist es ganz wichtig, dem Patienten zu sagen, dass wir mit Opioiden einmal grundsätzlich die „gesünderen“ Schmerzmittel in der Hand haben, weil sie kaum eine Organtoxizität haben. Natürlich müssen wir uns mit Nebenwirkungen beschäftigen, z.B. Obstipation. Da braucht es eine ganz klare Aufklärung. Der wesentliche Teil einer Schmerztherapie ist Aufklärung, Information, Gespräch.
Den „OÖ Nachrichten“ haben Sie gesagt, Hoffnung geben sei wichtig – wie geht das auf der Palliativ?
Zoidl: Das Interessante ist – und da kann ich schon Jahrzehnte zurückschauen –, das mit dem „Hoffnung nehmen“ ist die Angst des Arztes. Hoffnung ist nicht die Überzeugung, wie Vaclav Havel sagt, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. Ich spreche mit den Menschen sehr offen und man glaubt gar nicht, wie dankbar sie auch bei diesen „Breaking Bad News“ sind. Mir gefällt, was Hoffnung betrifft, ein Zitat, ich weiß nicht von wem: An Krebs erkrankt zu sein ist ein Gefühl, mit seinem ärgsten Feind in einem dunklen Zimmer eingesperrt zu sein. Da frage ich: „Wie geht es Ihnen da, es ist finster und der Feind ist im Raum. Ist es nicht besser, wir drehen das Licht auf und Sie können Ihrem Feind ins Gesicht schauen?“
Manche befürchten, durch die Ärztegesetz-Novelle komme es vorschnell zur einer Opiattherapie, damit Sterbende „Ruhe geben“ – zu Recht?
Zoidl: Ein wichtiger Punkt: Ein Patient, der keine Schmerzen hat, braucht auch kein Schmerzmittel. Was mich geärgert hat bei der Präsentation dieser Novelle, die sicher gut ist und mehr Rechtssicherheit gibt, ist die verquere Darstellung in manchen Medien: entweder Leben erhalten oder frühzeitig Opiate geben. Aber: Eine gute Schmerztherapie in dieser Situation lindert Symptome und hat nichts damit zu tun, dass jemand früher stirbt. Wenn jemand vom Schmerzmittel in der entsprechenden Dosierung ruhiger wird, dann hat der wirklich Schmerzen gehabt und es ist die Linderung dieser, die Ruhe einkehren lässt. Das braucht eine interprofessionelle Begleitung, um das gut einzuschätzen. Sonst laufen wir Gefahr, dass man automatisch Schmerzmittel gibt – und das steht hinter dieser Novelle überhaupt nicht! Sondern wir haben mehr Rechtssicherheit, wenn wir angemessen Morphine verwenden. Es gibt viele Fälle, wo es keine braucht, und auch Untersuchungen*, dass sie am Lebensende nicht mehr, sondern manchmal sogar weniger gebraucht werden.
Ihre wichtigste Botschaft an Ärzte?
Zoidl: Dass wir den Menschen sehen, wahrnehmen und ernst nehmen. Den Schmerz, den er leidet, auch im Lichte seiner Krankengeschichte sehen: Was ist dahinter? Was muss ich medikamentös machen, was sind andere Komponenten?
* Sathornviriyapong A et al.: The association between different opioid doses and the survival of advanced cancer patients receiving palliative care. BMC Palliat Care 2016; 15: 95. DOI: 10.1186/s12904-016-0169-5
Zur Person
OA Dr. Johann Zoidl, FA für Radioonkologie, leitet seit 2000 die Palliativstation „St. Louise“ am KH der Barmherzigen Schwestern, heute Ordensklinikum Linz. Jährlich betreut das Team rund 240 Patienten.
Genau nachfragen
Bei Non-Compliance müsse man manchmal in die Lebensgeschichte hineinhorchen, bringt OA Dr. Johann Zoidl ein Beispiel: Eine Patientin lehnte Opiate trotz starker Schmerzen ab. Er fand heraus, was dahintersteckte: Ihr Sohn ist an einer Überdosis Heroin gestorben. „Ich habe immer so geschimpft mit ihm“, rückte sie heraus, „und wenn ich das jetzt nehme, höre ich den Heinzi sagen: Mich hast du immer geschimpft, aber du nimmst dieses Zeug auch!“ Sie hat dann die Therapie akzeptieren können, weil ihr aufgrund des Aussprechens klar wurde: Sie muss sich nicht „aufopfern“, sondern kann auch an sich selber denken und für sich sorgen.