24. Sep. 2021Leitlinie Kompakt

Medikamentenbezogene Störungen

Bei der Verwendung von Medikamenten besteht ein fließender Übergang zwischen dem Einsatz in der Heilbehandlung und einem schädlichen Gebrauch bis hin zur Sucht. Durch die erstmals eigenständige S3-Leitlinie „Medikamenten- bezogene Störungen“ soll diese Problematik mehr Aufmerksamkeit erfahren.1 Neben dem Erkennen und der Behandlung von Medikamentensucht wird hier auch auf die Prävention ein Hauptaugenmerk gelegt.

Anhäufung verschiedenster farbiger Medizinpräparate, Kapseln und Pillen auf weißem Untergrund
peterschreiber.media/iStock

Aus medizinischen Gründen verordnete Arzneimittel werden von den Patienten nicht immer bestimmungsgemäß eingesetzt; zu unterscheiden ist dabei ein Fehlgebrauch von einer missbräuchlichen Verwendung, wobei Letztere schließlich zu einer Medikamentensucht führen kann. Diese ist Schätzungen zufolge die dritthäufigste Sucht in Österreich: Etwa 150.000 Menschen sind von Medikamentensucht betroffen, wobei gleichzeitig eine hohe Dunkelziffer zu vermuten ist.2 Die meisten Betroffenen sind von Benzodiazepinen oder Opioiden abhängig, aber auch der Missbrauch von Cannabinoiden, Gabapentinoiden, nicht-opioiden Analgetika und Stimulanzien ist relevant.

Diagnostik

Die Diagnose einer Medikamentenabhängigkeit soll den Kriterien der ICD-10 folgen (siehe Kasten). Drei der Kriterien müssen innerhalb eines Jahres immer wieder oder während eines Monats dauernd erfüllt sein. Die Kriterien für die Diagnose des schädlichen Gebrauchs bzw. der Abhängigkeit sind erfüllt, wenn der Patient Medikamente fortgesetzt eigenständig konsumiert oder die verschriebene Dosis steigert und dies ohne ärztliche Empfehlung sowie unter Inkaufnahme negativer Konsequenzen. Eine körperliche Abhängigkeit liegt bei Erfüllung von Kriterien 3 und/oder 4 vor. Im speziellen Falle der Abhängigkeit von Opioiden reicht aufgrund der Eigenschaften dieser Wirkstoffe das Auftreten eines Entzugssyndroms oder einer Toleranzentwicklung allein für die Diagnosestellung nicht aus; vielmehr muss ein Drang, die Substanz zu konsumieren, und ein Kontrollverlust hinzutreten.

Diagnostische Kriterien für eine Medikamentenabhängigkeit

1. Starker Wunsch oder Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren

2. Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums

3. Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung bzw. Reduktion des Konsums

4. Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen der Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich.

5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen

6. Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher oder psychischer Art, wenn der Konsument sich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder zumindest davon auszugehen ist.

Hinweise auf eine Medikamentenabhängigkeit ergeben sich aus dem Verhalten der Patienten z.B. Abwehr von Therapieänderungen, Drängen auf Dosiserhöhung oder Verschreibung weiterer psychotroper Substanzen, Wesensveränderungen unter der Therapie, verheimlichter Bezug des Medikaments von weiterem Arzt oder aus der Internetapotheke, bis hin zu Rezeptfälschungen oder Diebstahl von Medikamenten.

Prävention der Medikamentensucht

Um medikamentenbezogenen Störungen vorzubeugen, spricht die Leitlinie unter anderem folgende generelle Empfehlungen aus:

  • Zwischen Arzt und Patient sollen Therapieziele vereinbart werden.
  • Nicht mehr indizierte Arzneimittel sollen nicht weiter verschrieben werden.
  • Werden Arzneimittel mit einem Potenzial für schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit verordnet, sind Nutzen und Risiken sorgfältig abzuwägen und Indikation und Wirksamkeit regelmäßig zu überprüfen.
  • Auf Anzeichen eines schädlichen Gebrauchs oder einer Abhängigkeit ist besonders zu achten bei:

•Arzneimitteln mit kurzer Halbwertszeit oder schnellem Anfluten,

•Patienten mit psychischen Komorbiditäten,

•Anwendung von Benzodiazepinen bei geriatrischen Patienten.

Speziell bei der Verordnung von Opioiden soll immer die mögliche Entwicklung eines schädlichen Gebrauchs bzw. einer Anhängigkeit bedacht werden, insbesondere bei

  • jüngerem Lebensalter (20–40 Jahre),
  • männlichem Geschlecht,
  • Vorliegen psychischer Störungen,
  • gleichzeitiger Verschreibung von Tranquilizern,
  • Hochdosistherapie (>120mg Morphinäquivalent/Tag),
  • vorbekannter Abhängigkeitserkrankung,
  • positiver familiärer Suchtanamnese.

Ein höheres Abhängigkeitsrisiko besteht bei nicht retardierten Arzneiformen, wie z.B. von Tramadol oder bei schnell anflutendem Oxycodon. Daher ist auch die zunehmende Verordnung von schnell freisetzendem Fentanyl, zum Beispiel als Nasenspray oder Lutschtablette, wegen möglicher Suchtentwicklung kritisch zu bewerten. Solche Darreichungsformen sollen nicht zur Basisanalgesie, sondern nur zur Akutbehandlung von starken Schmerzen, zum Beispiel bei Tumorpatienten, eingesetzt werden.

Bezüglich der Verordnung von Benzodiazepinen und Z-Substanzen wird auf die 5-K-Regel hingewiesen:

1. Einsatz nur bei klarer Indikation

2. Anwendung der kleinsten möglichen Dosis

3. Anwendung über den kürzest möglichen Zeitraum

4. Kein abruptes Absetzen

5. Kontraindikationen sind zu beachten.

Bei therapeutischer Indikation von Cannabinoid-haltigen Arzneimitteln sollen primär Rezeptur- und Fertigarzneimittel verordnet werden, die nicht inhalativ angewandt werden.

Vor der Verordnung oder Abgabe von nicht-opioiden Analgetika, nicht steroidalen Antirheumatika, Triptanen oder Ergotamin soll die bisherige Häufigkeit der Einnahme und Dosierung, auch einer Selbstmedikation, erfragt werden. Auf eine möglichst kurzfristige Anwendung in der niedrigst wirksamen Dosis soll hingewiesen werden. Patienten mit regelmäßigen Kopfschmerzen oder Migräne sollen durch Ärzte und Apotheker darauf hingewiesen werden, dass zur Vermeidung von Medikamentenübergebrauchskopfschmerz nicht-opioide Analgetika und nicht-steroidale Antirheumatika nicht häufiger als an zehn Tagen im Monat angewendet werden sollen.

Vor Verordnung von Stimulanzien sollen die bekannten Risikofaktoren für einen missbräuchlichen Konsum erhoben werden. Die Medikamente dürfen nur im Rahmen der zugelassenen Indikationen (z.B. ADHS, Narkolepsie) verordnet werden. Ein regelmäßiges Monitoring soll erfolgen, um eine missbräuchliche Einnahme rechtzeitig erkennen zu können. Verordnung und Monitoring sollten möglichst in einer Hand liegen.

Behandlung der Medikamentenabhängigkeit

Grundsätze. Das klinische Vorgehen bei Medikamentensucht hängt vom Einzelfall ab. Zu differenzieren ist zunächst zwischen:

  • Patienten mit neurologischen, somatischen oder psychischen Erkrankungen, bei denen sich aus der verordneten Pharmakotherapie heraus eine medikamentenbezogene Störung entwickelt hat, und
  • Patienten mit primärer Suchterkrankung, zum Beispiel Alkoholabhängigkeit, bei denen die sekundäre Medikamentensucht nur eine weitere Facette ihres süchtigen Fehlverhaltens ist und die ursprüngliche Sucht ergänzt oder ersetzt hat.

Bei Patienten, die eine Abhängigkeit gegen ein Medikament entwickeln, das ursprünglich wegen einer medizinischen Indikation verschrieben wurde (z.B. Angst, Depression, Schmerz oder neurologische Störungen) bedeutet ein Entzug auch die Beendigung der Therapie mit einem Arzneimittel. Die Indikationsstellung für das Fortführen oder Beenden einer Therapie mit einem bestimmten Medikament ist daher vom Arzt in Absprache mit einem Psychiater oder erfahrenen Suchtmediziner zu treffen. Patienten mit sekundärer Medikamentensucht sind dagegen therapeutisch in suchtmedizinischen Einrichtungen meist besser aufgehoben als in medizinischen oder psychiatrischen Settings.

Die Indikation für das Absetzen eines Medikaments ist individuell zu treffen, wobei die gemeinsame Entscheidungsfindung sehr wichtig ist. Therapeutisches Vorgehen und Management von Entzugserscheinungen sind zwischen den einzelnen Medikamenten sehr unterschiedlich; in der Regel ist das jeweilige Medikament langsam auszuschleichen. Unkomplizierte Entzüge können ambulant durchgeführt werden, schwere Entzüge erfolgen im stationären Rahmen.

Opioide. Opioid-Arzneimittel sollen langsam ausschleichend abgesetzt werden. Liegen kein Abhängigkeitssyndrom oder gravierende psychische Erkrankungen vor, kann dies wahlweise ambulant oder stationär erfolgen. Bei Vorliegen von Abhängigkeit oder gravierenden psychischen Erkrankungen sollte der Entzug dagegen in einer suchtmedizinischen, psychiatrischen Einrichtung erfolgen.

Da ein körperlicher Entzug allein keine hinreichende Therapie der Abhängigkeitserkrankung darstellt, sollen niederschwellige Angebote zu einer psychosozialen Begleitung erfolgen. In der Entzugsphase sollen Motivational Interviewing bzw. Psychoedukation und kurzfristig entlastende Maßnahmen (z.B. Entspannungstechniken, Schmerzbewältigungstraining) angeboten werden. In der Postakutbehandlung ist z.B. Kognitive Verhaltenstherapie wirksam. Im Rahmen eines Entzugs von Opioid-Arzneimitteln kann bei Bedarf eine symptomorientierte Pharmakotherapie eingesetzt werden. Zum Ausschleichen wird entweder das Opioid, von dem der Patient abhängig ist, verwendet, oder aber eines der Medikamente Methadon oder Buprenorphin (Letzteres oft kombiniert mit Naloxon). Wirksam in der Reduktion von Entzugssymptomen sind der Alpha-2-Agonist Clonidin (off-label im stationären Setting) und das trizyklische Antidepressivum Doxepin. Zur Rückfallprävention kann z.B. Naltrexon eingesetzt werden, welches die Opioidrezeptoren für etwa 24 Stunden blockiert, sodass eine Einnahme eines Opioidmedikamentes ohne Effekt bleibt.

In seltenen Fällen kann die Notwendigkeit einer analgetischen Therapie mit Opioiden trotz Anhalten von Abhängigkeit und Missbrauch gegeben sein. Dann soll die Opioidtherapie als Schmerztherapie mit suchtmedizinischer Begleitung fortgesetzt werden.

Wenn die suchtmedizinischen und schmerztherapeutischen Maßnahmen zur Begrenzung des unkontrollierten Gebrauchs versagen, soll die Indikation für eine Substitutionsbehandlung geprüft werden. Die Substitutionstherapie soll schmerzmedizinisch begleitet werden.

Benzodiazepine und Z-Substanzen. Das Absetzen dieser Wirkstoffklassen nach regelmäßiger, längerer Einnahme soll in schrittweiser Dosisreduktion erfolgen. Die Dosisreduktion sollte dabei mit mittel- oder langwirksamen Benzodiazepinen erfolgen; sie sollte erst nach einem kurzen Zeitraum der Stabilisierung mit einer festen Dosis über wenige Tage beginnen. Gegen Ende der Entzugsbehandlung sollte die Dosisreduktion in kleineren Schritten erfolgen als zu Anfang. Das Ausschleichen von Benzodiazepinen soll in Verbindung mit einer geeigneten psychosozialen Intervention angeboten werden.

In der hausärztlichen Praxis soll bei Verdacht auf einen schädlichen oder abhängigen Gebrauch von Benzodiazepinen als erster Schritt eine Beratung erfolgen. Bei zu erwartenden somatischen oder psychischen Komplikationen oder bei Nichterreichen des Abstinenzzieles soll der Entzug im stationären Rahmen angeboten werden. Unterstützend sollen hier unter anderem Psychoedukation, Entspannungsverfahren und Kognitive Verhaltenstherapie eingesetzt werden. Auch eine begleitende Pharmakotherapie kann erwogen werden, wobei die Evidenzqualität für verschiedene Begleitmedikamente (wie Pregabalin, Valproat, Paroxetin, trizyklische Antidepressiva) gering erscheint.

Cannabinoide. Potenzielle Risikogruppen für einen schädlichen oder abhängigen Gebrauch von Cannabinoid-haltigen Arzneimitteln sind unter anderem Patienten mit komorbider Suchterkrankung, Angststörung, Depression, Suizidalität, Bipolarer Störung und Psychose sowie Kinder und Jugendliche. Wenn eine Behandlung indiziert ist, sollen in erster Linie Elemente der Psychotherapie (z.B. Motivational Interviewing, Psychoedukation, Kognitive Verhaltenstherapie) eingesetzt werden. Besteht eine ausgeprägte psychische oder somatische Komorbidität, so soll ein qualifizierter Entzug angeboten werden.

Gabapentinoide – Gabapentin und Pregabalin werden häufig zur Behandlung neuropathischer Schmerzen eingesetzt. Besteht der Verdacht auf schädlichen Gebrauch dieser Medikamente, soll eine entsprechende ärztliche Beratung angeboten werden; der Einsatz alternativer Substanzen sollte geprüft werden. Wenn es trotz Ausschöpfen der Alternativoptionen weiterhin zum Missbrauch von Gabapentinoiden kommt, soll Patienten eine suchtmedizinische Beratung angeboten werden.

Gabapentinoide sollen langsam ausschleichend abgesetzt werden. Der Entzug sollte in Anlehnung an die Inhalte und den Ablauf des Qualifizierten Entzugs bei der Alkoholabhängigkeit erfolgen.

Nicht-opioide Analgetika. Die häufige Einnahme von Medikamenten zur Behandlung akuter Kopfschmerzen kann zu einer Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit und zum Übergang von episodischen zu chronischen Kopfschmerzen führen. Die Behandlung erfolgt in drei Stufen:3

  • Aufklärung und Beratung über die mögliche Entwicklung des chronischen Kopfschmerzes durch häufige Einnahme von Schmerz- und Migränemitteln. Ziel ist, die Einnahme auf weniger als zehn (coffein- bzw. codeinhaltige Kombinationsanalgetika) bzw. 15 Tage pro Monat (Monoanalgetika) zu begrenzen,
  • Einleitung einer medikamentösen und nicht medikamentösen Prophylaxe der primären Kopfschmerzen,
  • Medikamentenpause (Entzug); ambulant, in Tageskliniken oder stationär.

Stimulanzien. Relevante Substanzen sind Methylphenidat, Dexamfetamin, Lisidexamfetamin und Modafinil, von denen manche in Indikationen wie ADHS und Narkolepsie zugelassen sind, die aber oft auch off-label bei Depression oder Erschöpfungssyndromen verschrieben werden. Als Risikofaktoren für einen Missbrauch gelten männliches Geschlecht, aktueller/früherer Missbrauch anderer psychotroper Substanzen, depressive Symptomatik, Aufmerksamkeitsstörungen und die Einnahme von Stimulanzien in Familie oder Freundeskreis. Die Missbrauchsgefahr von kurz wirksamen Stimulanzien ist höher als diejenige von lang wirksamen. Bei Verdacht auf einen schädlichen Gebrauch von Stimulanzien soll eine entsprechende suchtmedizinische Beratung angeboten werden. Stimulanzien sollen langsam ausschleichend abgesetzt werden.

Abschließend weist die Leitlinie auch darauf hin, dass viele Patienten einen multiplen Konsum von psychotropen Substanzen (Medikamenten bzw. Suchtstoffen) betreiben (Polytoxomanie). ❙

  1. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen (Stand 12.01.2021). Online: https://www.dgppn.de/leitlinien-publikationen/leitlinien.html
  2. https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20180601_OTS0057/medikamentensucht-150000-betroffene-in-oesterreich- hohe-dunkelziffer
  3. Diener HC, et al., Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln, S1-Leitlinie. AWMF-Registernummer: 030/131, 2018
Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy