20. Sep. 2023Psychologische Booster Teil 5

Nähe und Distanz in der Praxis

Ärzte und Ärztinnen aller Fächer benötigen eine Balance zwischen therapeutischer Nähe und professioneller Distanz zu ihren Patientinnen und Patienten. Gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern heißt es, mit Distanz als Führungskraft auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Christina Lechner Psychologische Booster TSP Praxisgründung
Maria Stavreva/GettyImages

Betrachten Sie einmal aufmerksam, in welchem Abstand Sie die Stühle in Ihrem Sprechzimmer platziert haben. Unbewusst werden Sie dabei eine für Sie angenehme persönliche Distanz gewählt haben. In der Proxemik (Begründer: Edward T. Hall) geht es darum, welche Rolle Nähe und Distanz in der Kommunikation spielen: die intime Distanz – also gefühlt sehr, sehr nahe bis Körperkontakt – bleibt üblicherweise Paar- oder Eltern-Beziehungen vorbehalten, in ärztlichen oder manuell-therapeutischen Berufen fällt ihr jedoch eine grundlegende Rolle zu. Der Arzt oder die Ärztin muss und darf die Patientin bzw. den Patienten berühren, umgekehrt aber nicht! Gerade Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen oder kognitiven Beeinträchtigungen fehlt oft dieses Distanzgefühl und sie versuchen womöglich im Gespräch immer wieder, Ihnen nahe zu kommen. Weisen Sie in solchen Situationen freundlich, aber bestimmt auf den Abstand hin.

Menschen mit psychotischen Erkrankungen halten dagegen körperliche Nähe nur schwer aus. Gehen Sie dabei äußerst behutsam vor und respektieren Sie den Wunsch nach größtmöglicher Distanz so weit wie möglich: Bei einem Zuviel an Nähe oder beim überraschenden Einnehmen ihres persönlichen Raumes könnte es zu Abwehrreaktionen kommen, die keinesfalls in eine Spirale der Gegenwehr münden sollten.

Wie sensibel das ärztlich begründete Eindringen in die Intimdistanz sein kann, zeigt sich spätestens dann, wenn Patientinnen bzw. Patienten aus Schamgefühlen oder religiösen Gründen Schwierigkeiten haben, sich berühren zu lassen. Sprechen Sie wahrgenommene Hemmschwellen an und suchen Sie nach alternativen Möglichkeiten, um etwa eine Tastuntersuchung durchführen zu können. Das kann ein klug platzierter Paravent sein oder die Unterstützung der Ordinationshilfe. Nehmen Sie Schamgefühle jedenfalls ernst.

Gehen auf schmalem Grat

Zugleich werden Sie merken, dass es unter Ihren Patientinnen und Patienten vielleicht solche gibt, die an Kontaktarmut und Einsamkeit leiden und für die ihre chronische Erkrankung vielleicht ein Vehikel ist, um mit Ihnen und Ihrem Team als vertraute Bezugspersonen in Kontakt zu kommen. Auch hier kann es mitunter erforderlich sein, auf die Einhaltung der professionellen Distanz zu achten und keinesfalls Signale zu senden, die von Patientinnen und Patienten falsch interpretiert werden könnten.

Doch wie sollten Sie reagieren, wenn Patientinnen und Patienten in ihrem Bedürfnis nach Zuneigung tatsächlich einen Schritt zu weit gehen, Gefühle auf Sie projizieren oder gar Verliebtheit entwickeln? Es ist sicher ratsam, derartige Wahrnehmungen vorsichtig anzusprechen und klarzustellen, dass Berührungen nur im Rahmen der ärztlichen Untersuchungen oder Therapien stattfinden dürfen. Bzw. können Sie die Patientinnen und Patienten sogar motivieren, diese Themen mithilfe einer psychologischen Beratung oder Psychotherapie zu bearbeiten.

Kommt es tatsächlich zu einem ernst zu nehmenden und von beiden Seiten gewollten Beziehungsangebot zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin, sollte jedenfalls sofort die Zusammenarbeit auf der Behandlungsebene beendet werden. Das Machtgefälle zwischen der ärztlichen und der Patientinnen-/Patientenseite darf niemals ausgenützt werden!

Emotionale Nähe und Distanz

Fakt ist bei alledem, dass Aspekte von Nähe und Distanz Eckpfeiler in jeder ärztlichen/therapeutischen Beziehung sind und viel Gutes zu gelingenden Behandlungen beitragen können. Wie sieht es aber nun mit Ihrer eigenen emotionalen Nähe zu Patientinnen und Patienten aus? Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen Schicksale zu nahe gehen? Bei vielen Ärztinnen und Ärzten ist dies gerade in der Zeit des Berufseinstieg eine enorme Herausforderung. Darauf folgt oft eine Phase mit zu viel innerer Distanz, sodass es Zeit und Erfahrung braucht, um ein gutes Distanzgefühl zu entwickeln. Es ist zudem davon abzuraten, eigene Partnerinnen bzw. Partner, Kinder oder nahe Angehörige zu behandeln, denn hier kommen Mechanismen der psychischen Abwehr zum Zug: Das Risiko „nicht zu sehen, was nicht sein darf“ ist sehr groß. Aus diesem Grund gelten Angehörige von Ärztinnen und Ärzten sogar als gesundheitlich nicht gut versorgte Gruppe.

Trauen Sie sich jedenfalls, über belastende Erfahrungen aus der Praxis zu reden: Nehmen Sie sich Zeit für einen „Chillout-Kaffee“ mit Kolleginnen und Kollegen und nutzen Sie die Möglichkeiten von Fallbesprechungen, Intervision oder Supervision. Es ist wertvolle investierte Zeit, um eine Außensicht zu bekommen, ob Sie vielleicht zu nahe an Patientinnen und Patienten dran sind oder sich zu stark abgrenzen. Die richtige Distanz ist wichtig, um die Situation der kranken Menschen in ihrer Emotionalität erfassen zu können. Sie gewinnen damit mehr Ruhe und Kompetenz in Ihrem ärztlichen Tun. Machen Sie nach sehr belastenden Ereignissen wie z.B. einer nicht erfolgreichen Reanimation immer bewusst eine Pause.

Nähe im Team

Neben der Nähe zu Patientinnen bzw. Patienten und Angehörigen sollten Sie auch der Nähe zu Ihrem Team Aufmerksamkeit schenken. Als Arzt oder Ärztin sind Sie Führungskraft und Ihre Führungsposition erfordert es zu leiten, denn Sie tragen die Letztverantwortung und haben Entscheidungen zu treffen. Zugleich dürfen und sollen Sie auf Augenhöhe kommunizieren. Dabei zählt Ihr Verhalten mehr als Ihre Aussagen. Wer als Führungskraft vom wertschätzenden Umgang mit anderen Menschen nicht nur spricht, sondern ihn gerade in stressigen Situationen vorlebt, ist authentisch und findet damit jedenfalls Beachtung und Nachahmung – auch wenn er/sie gerade nicht anwesend ist.

Abschließend noch ein Tipp für den Umgang mit Nähe und Distanz zu Ihren Fachkolleginnen und -kollegen, die Sie vielleicht bald bei einer Fortbildung oder einem Kongress treffen. Sind zwei Personen in ein Gespräch vertieft und Sie möchten sich dazugesellen, dann können Sie diese Situation nutzen, um die passende Distanz zu spüren. Stehen Sie zu weit weg, werden Sie womöglich nicht wahrgenommen. Dringen Sie in die persönliche Zone zwischen den sich im Gespräch befindlichen Personen ein, dann weichen diese mit Sicherheit zurück und der Gesprächsverlauf stockt. Treten Sie unmittelbar darauf wieder einen Schritt zurück, werden Sie erleben, wie Sie die Diskussion von einem Zweiergespräch auf einen Gesprächskreis zu dritt erweitern können.

Unser Gastautor ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeut sowie Präsident von pro mente Austria; zudem Obmann der Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit Graz und der Psychosozialen Dienste Steiermark – Dachverband der sozialpsychiatrischen Vereine und Gesellschaften.

Priv.-Doz. Dr. Günter Klug
Medizinisch fachliche Geschäftsführung

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