27. März 2024ÖGGG-Jahrestagung

ÖGGG fordert Geriatrie als eigenes Fach

Altersgerechte Medizin ist ein „Grundrecht“ und der Facharzt für Geriatrie muss auch in Österreich her, fordert die Geriatrie-/Gerontologie-Gesellschaft ÖGGG im Vorfeld ihres DACH-Kongresses vom 4.–6. April 2024 in Wien. Denn die Mehrzahl der Älteren zähle eben nicht „zu den fröhlichen Best Agers aus der Werbung“ – es bräuchte mehr geriatrische Expertise.

Take Home Messages

  • Geriatrie soll im Modell der integrierten Versorgung in allen Strukturen von Bund, Ländern und der Sozialversicherung mitgedacht werden.
  • Die altersgerechte Versorgung ist ein Grundrecht und steht im Zentrum, wenn es um Chancengleichheit aller Altersgruppen geht.
  • Die ÖGGG fordert die Etablierung einer Fachärztin bzw. eines Facharztes für Geriatrie, wie es in den meisten europäischen Ländern der Fall ist.
 
APA-Fotoservice/Juhasz
v.l.n.r.: Univ.-Prof.in Dr. Regina Roller-Wirnsberger, Kongresspräsidentin ÖGGG; Prof. Dr. Giovanni Maio, M.A. (Freiburg); Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder, Präsident ÖGGG

Bereits mehr als 1,8 Millionen Menschen sind in Österreich laut Statistik Austria1 über 65 Jahre alt. Ab diesem Alter steige häufig der geriatrische Handlungsbedarf, betont die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG). Wobei die Mehrzahl jener, die von geriatrischer Medizin profitieren, über 80 Jahre alt sind. Umgekehrt müsse man viel früher beginnen „vorausschauend“ zu denken, nämlich schon ab 50.

Dementsprechend wählte die ÖGGG-Jahrestagung vom 4. bis 6. April in der Universität Wien das Motto „Geriatrie und Gerontologie – keine Frage des Alters!“ Der Kongress werde wieder „in bewährter Kooperation mit den befreundeten deutschen und schweizerischen Fachgesellschaften“ (DGG, DGGG, SFGG und Gerontologie CH) abgehalten, heißt es im Vorwort des Programms.

„Chancengerechtigkeit“ für alle

Die „altersgerechte medizinische Versorgung“ bezeichnen Kongresspräsidentin Univ.-Prof. Dr. Regina Roller-Wirnsberger (Graz), ÖGGG-Präsident Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder (Salzburg) und Prof. Dr. Giovanni Maio, M.A. (Freiburg) sogar als „Grundrecht“. Die Forderung danach stehe im Zentrum, wenn es um die Chancengerechtigkeit für alle Altersgruppen in Österreich gehe.

Und weiter: „Wir wollen, dass die Geriatrie im Modell der integrierten Versorgung in allen Strukturen seitens des Bundes, der Länder und der Sozialversicherung mitgedacht wird.“ Die Expertinnen und Experten setzen dabei explizit auf die Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Medizin, Pflege, Physio- und Ergotherapie, Sozialarbeit, Logopädie, Psychologie, Diätologie bis hin zur Soziologie.

Die Geriatrie nutze – wegen der häufig komplexen Problemkonstellationen – zusätzlich zu den klassischen ärztlichen Untersuchungsmethoden das „geriatrische Assessment“. Damit bilde man alterstypische Mehrfacherkrankungen, körperlich-funktionelle Defizite, aber auch mentale und psychische Probleme sowie das soziale Umfeld der Patientinnen und Patienten ab.

Mangelernährung und Probleme beim Sehen, Hören, Gehen

Welche altersspezifischen Probleme auftreten, zeigt eine Gesundheitsbefragung in Privathaushalten2:

  • Trotz Sehhilfe haben rund 13% der 60- bis 74-Jährigen Probleme beim Sehen, ab 75 liegt der Anteil sogar bei 29%.
  • Ebenfalls 29% der über 75-Jährigen geben an, trotz Hörhilfe Hörprobleme in ruhigen Räumen zu haben, bei den Frauen und Männern zwischen 60 und 74 liegt der Anteil bei rund 9%.
  • Etwas mehr als 45% der über 75-Jährigen haben ohne Gehhilfe Probleme beim Gehen auf ebener Strecke, knapp 50% beim Treppensteigen.

Zu den Sehproblemen merkt Iglseder an: „Für die Betroffenen kann das mit Gleichgewichtsproblemen und einem höheren Sturzrisiko einhergehen.“ Und die Folgen sowohl schlechteren Hörens als auch unsicheren Gehens seien „vielfach sozialer Rückzug und Isolation“. Als typisches Problem nennt er auch die Mangelernährung, die im Krankenhaus „zu einer signifikant höheren Verweildauer, zu mehr Komplikationen wie z.B. Infektionen und Wundheilungsstörungen, zu höheren Kosten und zu einer erhöhten Mortalität“ führe.

Die Akutgeriatrie und die Remobilisation sind Iglseder zufolge zwar im Ausbau: Mittlerweile gebe es mehr als 50 Standorte mit insgesamt etwa 2.200 Betten in fast allen Bundesländern, „wir befinden uns also auf dem richtigen Weg“. Dennoch sei es oft schwierig, „rasch“ eine adäquate medizinische Versorgung zu erhalten.

Gebrechlichkeit: Auch Notfallambulanzen sollen hinschauen

Wichtig wäre, „dass akute Versorgungsstrukturen wie Erstaufnahmen oder Notfallambulanzen gleich zu Beginn Aspekte wie Funktionalität oder Gebrechlichkeit untersuchen“, betont der ÖGGG-Präsident. Die Geriatrie biete eine umfassende medizinische Betreuung – zugeschnitten auf die spezifischen Bedürfnisse. Auf Basis der Ergebnisse des vorhin erwähnten geriatrischen Assessments werde die multiprofessionelle Therapie geplant und laufend evaluiert.

Geriatrie-Teams würden oft eng mit anderen Spezialdisziplinen zusammenarbeiten, um eine „nahtlose Versorgung“ zu gewährleisten. Das sei besonders bei älteren Menschen mit mehreren medizinischen Problemen und unterschiedlichem Unterstützungsbedarf wichtig. „Die Zusammenarbeit mit Entlassungsmanagement, Überleitungspflege und Sozialarbeit sichert die langfristige Entlassung in das gewohnte Umfeld und verhindert rasche Wiederaufnahmen“, unterstreicht Roller-Wirnsberger.

Akutgeriatrie: Plätze nicht gerecht verteilt

Doch: „Aktuell ist aufgrund der Kapazitäten die Chance auf einen Platz in einer Akutgeriatrie oder Remobilisation nicht gerecht verteilt“, konstatiert Roller-Wirnsberger. Mobile Teams und Telemedizin könnten zwar „da und dort“ eine Option sein. „Wir sollten uns aber fragen: Welche Zukunft wollen wir für die österreichische Bevölkerung? Soziale und gesundheitspolitische Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Mehrklassenmedizin?“

Aus Sicht der ÖGGG sollte es stattdessen ein Bekenntnis zu einer adäquaten und gesicherten Versorgung für alle Altersgruppen geben – inklusive Etablierung der dafür notwendigen Voraussetzungen. „Die Zahlen sagen uns: Die Mehrzahl der älteren Menschen in Österreich zählt nicht zu den fröhlichen ‚Best Agers‘ aus der Werbung“, sagt Roller-Wirnsberger.

Für diese Mehrheit brauche es Investitionen in die Prävention sowie ein solidarisches und wertschätzendes soziales Umfeld im Sinne von sogenannten „Caring Communities“, bringt Roller-Wirnsberger ein Beispiel. Nachsatz: „Und wir brauchen auch in Zukunft stationäre Einrichtungen mit altersgerechter Medizin.“

Alte Menschen „in die Mitte der Gesellschaft rücken“

Das unterstreicht auch Maio, der beim ÖGGG-Kongress – direkt nach der Eröffnung durch Gesundheitsminister Johannes Rauch – die Keynote halten wird. In dieser stellt der Medizinethiker die Frage: „Die Industrialisierung unseres Gesundheitssystems, was bedeutet das für die Betreuung unserer alten Mitmenschen?“

Nach Maios Einschätzung erschweren derzeit „falsche ökonomische Anreize“ die „Beziehungsarbeit“ – die aber eine elementare Voraussetzung für die Altersmedizin ist: „Die Menschen, die am meisten medizinische Versorgung benötigen, werden derzeit am ehesten vernachlässigt.“ Eine humane Gesellschaft dürfe eine derartige strukturelle Unterversorgung nicht zulassen. Ziel sei vielmehr, alte Menschen „nicht weiter an den Rand zu drängen, sondern sie in die Mitte der Gesellschaft zu rücken“.

Roller-Wirnsberger und Iglseder nutzen zudem die Gelegenheit, noch eine weitere Forderung zu erneuern, nämlich jene nach der Etablierung einer Fachärztin, eines Facharztes für Geriatrie. Diese sei in den meisten europäischen Ländern ein eigenständiges Fach oder ein Sonderfach der Inneren Medizin mit entsprechender Repräsentation an den Medizinischen Universitäten. In Österreich sei die Geriatrie nur eine Spezialisierung unterschiedlicher Quellfächer. Außerdem brauche es auch mehr Professuren.

Quelle: Pressekonferenz „Altersgerechte medizinische Versorgung ist ein Grundrecht“ der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG), 21.3.2024