Nürnberger Kodex: Ein Meilenstein für die Entwicklung bioethischer Grundlagen
Die MedUni Wien lud zu einem internationalen Symposium über den vor 70 Jahren in Nürnberg stattgefundenen Prozess gegen Mediziner, die in nationalsozialistischen Konzentrationslagern Menschenversuche durchführten, und die nachhaltigen Folgen für das ärztliche Selbstverständnis. (CliniCum 3/2017)
Im August 1947 wurden im „Ärzteprozess“ von Nürnberg die Urteile gesprochen. Den 20 angeklagten Ärzten (und drei Verwaltungskräften) wurden medizinische Experimente in den Konzentrationslagern zur Last gelegt, unter anderem Höhenversuche in Unterdruckkammern, Unterkühlungsversuche, Fleckfieber-, Sulfonamid- und Giftexperimente sowie Experimente zur Trinkbarmachung von Meerwasser. Sieben der Angeklagten wurden am Ende vom amerikanischen Militägericht zum Tod verurteilt, fünf zu lebenslanger Haft, vier zu langjährigen Haftstrafen. Rektor Univ.-Prof. Dr. Markus Müller erinnerte im Rahmen eines 70 Jahre danach von der MedUni Wien veranstalteten Symposiums an die „besondere Grausamkeit“ dieser Verbrechen, da Mediziner einer der zentralen Grundsätze ihrer ärztlichen Tätigkeit, nämlich Menschen niemals zu schaden, „auf das Gröbste“ verletzt hatten.
Unter dem Eindruck der 140 Verhandlungstage formulierte das US-Gericht zehn Grundsätze für „Permissible Medical Experiments“, die unter dem Namen Nürnberger Kodex die Entwicklung der medizinischen Forschung bis heute nachhaltig prägen sollten. Viele der hier erstmals formulierten Grundsätze wurden später übernommen bzw. weiterentwickelt, unter anderem von den Kodizes der UNESCO, des Weltärztebundes („Deklaration von Helsinki“) und des Europarates. „Seit dem Nürnberger Kodex gelten Bioethik, Menschenwürde und Menschenrechte gemeinsam als Grundlage jeder medizinischen Forschung. Damit ist gesichert, dass die heutige Medizin auf bioethischen Grundlagen basiert und das auch bleibt“, erläutert Univ.-Prof. Dr. Christiane Druml, UNESCO Lehrstuhl für Bioethik an der MedUni Wien und Vorsitzende der Österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt.
Das Symposium an der MedUni Wien sollte aber nicht nur dieses bedeutende Kapitel der Medizingeschichte beleuchten, sondern auch an eine dunkle Phase der eigenen Geschichte erinnern. „Im März 1938 wurde ein Großteil des Fakultätskollegiums vertrieben, die jüdischen Kollegen haben Furchtbares durchmachen müssen“, erzählt Müller. Das sei nicht nur „ein schreckliches Verbrechen, sondern auch eine massive Dummheit gewesen“, weil damit ein großer Teil der Intelligenz für Generationen verloren ging.
Erst spät, Mitte der 1990er Jahre, hat sich die MedUni Wien ihrer Geschichte aktiv gestellt. Besonders verdient gemacht habe sich dabei Müllers Vorgänger Wolfgang Schütz. Für seine Verdienste wurde der ehemalige Rektor erst vor zwei Jahren mit der Marietta-und-Friedrich-Torberg-Medaille der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ausgezeichnet.
1. Freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.
2. Der Versuch darf nicht willkürlich oder überflüssig sein, muss fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft erwarten lassen.
3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen, dass die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen werden.
4. Unnötige körperliche und seelische Leiden und Schädigungen müssen vermieden werden.
5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein angenommen werden kann, dass es zum Tod oder dauernden Schaden führen wird, jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient.
6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.
7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.
8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen durchgeführt werden.
9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.
10. Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er aufgrund des von ihm verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten muss, dass eine Fortsetzung eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.Auszüge aus dem Originaldokument. Quelle: Mitscherlich, A. und Mielke, F. (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt a.M. 1960, S. 272f.