Im Schatten von SARS-CoV-2: Sorgen von Menschen mit seltenen Erkrankungen
Eingeschränkte Arzt- und Therapeutenkontakte, verschobene Termine, verzögerte Diagnosen – dazu die Angst vor einer Corona-Infektion und/oder Triage. Die Rede ist von einer Bevölkerungsgruppe so groß wie in Vorarlberg: Rund 400.000 Menschen leben bundesweit mit einer seltenen Erkrankung. Der von der Pharmig Academy organisierte 7. Rare Diseases Dialog (RDD) nahm sich mit einer hochrangigen Online-Diskussionsrunde samt Betroffener des Themas an und versuchte, Antworten darauf zu finden, wie sich mögliche „Kollateralschäden“ im Schatten der COVID-19-Pandemie verhindern lassen. Mit Exkurs zum Kawasaki-like-Syndrom.
Eines war allen Diskussionspartnern wichtig: Es gehe nicht um Vorwürfe, sondern um eine Analyse der vergangenen Wochen, um daraus zu lernen und es künftig besser zu machen. Zu lernen gibt es viel, geht es nach einer Umfrage1 samt Statement mit Forderungen (siehe unten) von Pro Rare Austria – Allianz für seltene Erkrankungen unter mehr als 70 Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen mit Beteiligung der europäischen Patientenorganisation EURORDIS.
Die Ergebnisse der Umfrage zeigten ein „erschütterndes Bild“, sagt Claas Röhl, Vertreter von Pro Rare Austria, auf der mit mehr als 180 Teilnehmern gut besuchten Online-Veranstaltung Ende Juni mit sieben Diskussionspartnern, u.a. aus Patientenorganisationen, Politik, Behörde und Wissenschaft. Wobei der Vater einer Tochter mit Neurofibromatose (NF) und Obmann von NF Kinder sowie des globalen Netzwerks NF Patients United die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen (RD) schon vor dem Lockdown als „schwierig“ bezeichnet, da es für 95 Prozent noch keine spezifische Therapieoption gebe.
„Die Sorge vor dem Lockdown war sehr groß“, weiß Röhl. Nicht zu Unrecht: Tatsächlich hat einer von sieben Befragten berichtet, dass die Therapien „komplett“ eingestellt wurden. Neun von zehn nahmen in den letzten Monaten Unterbrechungen ihrer Versorgung wahr.
Arbeits- und sozialrechtliche Verunsicherung, Angst vor diskriminierender Triage
Die Problemkreise waren laut Aussendung zur Umfrage u.a. vorübergehende Engpässe bei Medikamenten, Verschiebungen von Untersuchungen, Operationen und Behandlungen sowie regelmäßiger Kontrollen, mangelnde Schmerzbehandlungen, Einschränkungen begleitender, kontinuierlicher Therapien, eingeschränkter ärztlicher Kontakt oder auch eine arbeits- und sozialrechtliche Verunsicherung.
Dazu kam die Angst im Fall einer Triage: EURORDIS zeigte auf, dass in anderen Ländern COVID-19-erkrankte Patienten mit RD durch Triage-Richtlinien diskriminiert wurden. In Österreich seien zum Glück die Kapazitätsgrenzen „bislang“, hieß es Ende April, nicht erreicht worden. Laut EURORDIS wurde zudem mehr als ein Drittel der klinischen Studien pausiert oder angehalten. In Österreich konnten jedoch laut Dr. Sylvia Nanz, stellvertretende Vorsitzende des Standing Committee Rare Diseases der PHARMIG, alle klinischen Studien (auch zu Nicht-COVID-19) unvermindert weitergeführt werden.
Manche der seltenen Erkrankungen seien auch betreuungsintensiver und bräuchten engmaschigere Kontrollen als andere, sagt Röhl. Als Beispiel bringt er die bei Neurofibromatose neu auftretenden Tumoren. Auch im Bereich Diagnostik war laut Röhl mitunter die „Verzweiflung“ groß, weil Eltern bei fragwürdigen Symptomen keinen Arzt, kein Labor etc. für Untersuchungen gefunden hätten.
No-Go für die Zukunft: „Gehen Sie ja nicht ins Krankenhaus!“
Dass Zusatztherapien wie psychologische Betreuung und Beratung oder Physiotherapien „weggebrochen“ seien, bestätigt auch Univ.-Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer, MBA, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien. Hier stoße auch die sonst sehr hilfreiche Telemedizin an ihre Grenzen. Das andere große Problem: die (anfangs) fehlende Schutzausrüstung.
Die Kinderklinik habe „intensivst“ versucht, sich bei den Familien zu melden und ihnen zu helfen. Viele Patienten hätten angegeben, die Spitäler aus Angst vor einer Infektion zu meiden. Laut Greber-Platzer bekamen die Patienten immer wieder zu hören: „Gehen Sie ja nicht ins Krankenhaus, auch wenn Sie Symptome haben, und warten Sie ab, was Ihnen 1450 sagt.“ Doch die Hotline sei zum Teil überhaupt nicht erreichbar gewesen, weil überlastet: „Das sind Szenen, die wir verbessern müssen“, betont die Kinderärztin, nur alles auf Corona zu fokussieren, „das geht gar nicht“.
Ganz wichtig sei es daher, nicht mit den Reduktionen fortzufahren, damit RD-Patienten nicht zu Schaden kommen. Im Falle einer möglichen zweiten Welle appelliert sie: „Bitte melden Sie sich, kommen Sie bei allen Symptomen, die nicht normal sind, zu uns Experten, wir sorgen für den Schutz und sind für Sie da!“ Was gut funktioniert habe, war das Übermitteln elektronischer Rezepte direkt an die Apotheke. Eine „organisatorische Challenge“ sei das Fortlaufen klinischer Studien zu RD gewesen, die man aber geschafft habe. Was es brauche, sei auch die Unterstützung und (weitere) Anerkennung von Expertisezentren, die in Österreich hauptsächlich an den Medizinischen Universitäten angesiedelt sind.
Kawasaki-like-Syndrom bei einem Kind aus Graz
Zur Nachfrage von medonline.at, ob es sich bei dem mit COVID-19 assoziierte Kawasaki-like-Syndrom angesichts steigender Zahlen intensivpflichtiger Kinder in manchen Ländern um eine neue RD handle, erläutert Greber-Platzer, dass die genaue Ursache des Kawasaki-Syndroms bis heute nicht geklärt sei. Man wisse aber von einer genetischen Prädisposition vor allem asiatischer Kinder. Die Symptome: hohes Fieber, Augenentzündung, Rachenentzündung, geschwollene, entzündete Mandeln und Lippen, Exantheme und Schwellungen an Hand- und Fußflächen mit Hautablösungen im Verlauf.
Auslöser dürften Infektionen sein, die die Erkrankung sozusagen „anstacheln“, veranschaulicht die Kinderärztin. COVID-19 könne anscheinend ein ähnliches Bild auslösen: eine Hyperinflammation mit überschießender Immunreaktion und vor allem auch Gefäßentzündungen im Bereich des Herzens, mit möglichen Folgeschäden der Koronarien – oft erst nach Wochen und Monaten. Ob diese befürchtete Nebenwirkung auch beim Kawasaki-like-Syndrom (oder Multisystem Inflammatory Syndrome in Children, kurz MISC, Anm.) auftrete, wisse man daher noch nicht, werde aber genau beobachtet.
Was man bisher weltweit aus Berichten zu Kindern und COVID-19 sehe: Ein schwerer Verlauf mit Hyperinflammation trete häufiger bei Kindern mit afrikanisch-karibischer als mit europäisch-kaukasischer Ethnizität auf. In Österreich habe es bisher einen Fall gegeben, ein schwer erkranktes Kind aus Graz mit afrikanischer Herkunft.
Föderale Unterschiede: Bundesweite Hotline 1450 „wünschenswert“
Dass es für RD-Patienten die angesprochene „Unterversorgung“ in manchen Bereichen gegeben habe, davon weiß auch DI Martin Brunninger, MSc, Büroleiter des Dachverbands der österreichischen Sozialversicherungen. Man habe „einiges gelernt“, auch einiges „sehr gut gelöst“. Vor allem im Bereich e-Health lobt er die Zusammenarbeit von Ärzteschaft, Apotheken, pharmazeutischer Industrie und anderen Stakeholdern. Zudem ortet Brunninger Potenzial für Gesundheitsmodelle, die eine Daheim-Betreuung für Menschen mit seltenen Erkrankungen durch medizinisches Personal ermöglichen könnten.
Die am Anfang der Krise in Österreich eigens eingerichtete „Triagierungshotline“ 1450 habe zur Entlastung des Gesundheitssystems beigetragen. Allerdings bestätigt Brunninger auf Nachfrage von medonline Unterschiede zwischen den Bundesländern, wonach in der Steiermark die Hotline 1450 – über einen medizinischen Algorithmus – auch den ärztlichen Bereitschaftsdienst (141) samt Arztvisiten triagiert, während etwa in Oberösterreich auf den hausärztlichen Notdienst (HÄND, 141) weiterverwiesen wird, der dann selbst über Arztvisiten entscheidet. Brunninger spricht hier das „sehr komplexe System“ des Föderalismus an: „Die Entscheidungsfindung ist eine sehr langsame, weil es neun verschiedene Bedürfnisse gibt.“ Aus seiner Sicht wäre aber eine „konsensuale Entscheidung“ für eine bundesweit einheitliche Gesundheitshotline „wünschenswert“.
„Das Gesundheitstelefon 1450 ist in erster Linie für eine gewisse Triagierung geschaffen worden, sodass nicht jeder sofort wegen jeder Unsicherheit in die Spitalsambulanz kommt, sondern die erste Abklärung durch die Niedergelassenen erfolgt“, erläutert dazu Mag. Dr. Christian Stöckl, Landeshauptmann-Stellvertreter in Salzburg, zuständig für Finanzen und Gesundheit. Dass es hier unterschiedliche Algorithmen in den Ländern gebe, sei für ihn neu. Er nehme dies aber gerne mit in die nächste Gesundheitsreferentenkonferenz, deren Vorsitz er im zweiten Halbjahr 2020 hat.
Quersubventionierung von Orphan Drugs durch Aufschlag bei häufigen Arzneien?
Zur Sorge von Menschen mit RD, dass wegen der Corona-Wirtschaftskrise teure Orphan Drugs nicht (mehr) bezahlt würden, informiert Stöckl über den Beschluss eines gemeinsamen Topfes, in den jährlich zehn Millionen Euro einbezahlt werden. Er stehe auch dazu, dass Mitte Juni ein fast zwei Millionen Euro teures Medikament erstmals in Österreich zur Behandlung eines Kindes mit Spinaler Muskelatrophie am Uniklinikum Salzburg zum Einsatz kam. Freilich müsse man sich auch etwas auf der Einnahmenseite überlegen, etwa via Finanztransaktionssteuer oder eine „Quersubventionierung“ durch einen Aufschlag von „ein bis zwei oder auch zehn Cent“ auf andere, häufig verschriebene Medikamente.
Ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), weist auf die logistischen Herausforderungen der Corona-Krise hin und bezeichnet die Vorbereitungen des Gesundheitssystems für die erste Phase als proaktiv und vorausschauend: Spitalsbetten standen jederzeit ausreichend zur Verfügung, nicht dringende Operationen und medizinische Eingriffe wurden je nach aktuellem COVID-19-Infiziertenstatus aufgeschoben. Auch im onkologischen Bereich habe es in Österreich keine Unterbrechung gegeben. Allerdings hätten niedergelassene Ärzte einen teils markanten Patientenrückgang verzeichnet, der – so wie in den Spitälern – der Angst vor Infektionen geschuldet sein könnte. Eine logistische Herausforderung werde auch der Herbst, wenn Grippe und COVID-19 zusammenfallen.
Nach „beherzten Maßnahmen“ im März Runder Tisch zu „blinden Flecken“
„Wir haben uns Mitte März entschieden, sehr beherzte Maßnahmen zu ergreifen“, hält Ostermann wenig von „Was-wäre-wenn“-Überlegungen und ist stattdessen dafür, eine Gesundheitsfolgenabschätzung – eine „360-Grad-Evaluation“ – mit Betroffenen und allen Stakeholdern am Runden Tisch zu machen: „Wo waren die Schwachstellen und die blinden Flecken?“ Alle seien gemeinsam im Dialog gefordert, das Beste daraus zu machen, da man als nächstes die „Normalversorgung“ inklusive RD brauche.
Elisabeth Jodlbauer-Riegler, Obfrau von Cystische Fibrose Hilfe Oberösterreich, berichtet ebenfalls davon, dass viele RD-Patienten aus „Angst vor Ansteckung lieber keine Routinekontrollen“ wahrnehmen wollten. Sie möchte diesbezüglich eine Lanze für Patientenschulungen brechen: Wer seine seltene Erkrankung gut kenne, könne auch besser einschätzen, ob es sich bei gewissen Symptomen um eine Verschlechterung handelt. Im Zusammenhang mit Verschlimmerungen durch unterbrochene Behandlungen plädiert die Patientenvertreterin dafür, mehr Registerforschung zu betreiben und die therapeutische Vernetzung voranzutreiben.
„Grandioses geleistet für uns Menschen mit seltenen Erkrankungen“
Im Schlusswort, dass passenderweise die Patientenvertreterin bekam, bedankt sich Jodlbauer-Riegler für das „beherzte Vorgehen“ der einzelnen Ärzte, Abteilungen, Therapeuten Pflege, etc., „die Grandioses geleistet haben für uns Menschen mit seltenen Erkrankungen“ sowie bei den Stakeholdern für die Versorgung. Dem Vorschlag Ostermanns für einen Runden Tisch schließt sie sich an. Man habe die Grenzen des Systems gesehen, aber das habe auch Positives: „Wir haben gelernt, als Patienten mehr dafür einzutreten, dass wir etwas brauchen, auch hartnäckig zu sein, unsere Betroffenen zu ermuntern, sich Hilfe zu holen, diese Hilfe auch aktiv einzufordern – ich glaube, wir sind als Patienten auch ein Stück weit selbstständiger geworden.“ Sie hofft, dass die durch die Krisensituation entstandene Zusammenarbeit weitergeführt werde, „dass man uns weiterhin hört und wahrnimmt“.
Forderungen von Pro Rare Austria und Lobby4kids*
Das Mitte April publizierte Statement betrifft die vier Punkte Versorgungssituation, Triage bei Ressourcenknappheit, klinische Studien sowie sozial-, arbeitsrechtliche und bildungsrelevante Aspekte:
- Österreichweite Guidelines zur Versorgung von Menschen mit seltenen und/oder chronischen Erkrankungen unter Beteiligung aller Stakeholder (allen voran der PatientInnenvertreterInnen)
- Sicherstellung der direkten Kommunikation zwischen Ärztin/Arzt und PatientIn
- Nutzung von vorhandenen Ressourcen (Personal, Labor, Diagnostik) innerhalb und außerhalb von Kliniken
- Sicherstellung der Begleitung Minderjähriger und beeinträchtigter Menschen, sodass diese Menschen nicht von ihren Bezugspersonen getrennt werden
- Erarbeitung eines Konzeptes zur Fortsetzung der Studien unter Einbindung aller Stakeholder (Patientenorganisationen, Medizin, Behörden, pharmazeutische Industrie)
- Sicherstellung der finanziellen Ressourcen für den Betrieb von Studienzentren während und nach der Corona-Krise
* Dominique Sturz, Irene Promussas, Thomas Kroneis und Claas Röhl: Statement zur Versorgung von Menschen mit seltenen und/oder chronischen Erkrankungen in Zeiten von COVID-19, 17. April 2020; https://www.prorare-austria.org/fileadmin/user_upload/2020-04-22_Statement_Versorgung_Fin_V7.pdf
Die Diskussionspartner des 7. RDD
- DI Martin Brunninger, MSc, Büroleiter des Dachverbands der österreichischen Sozialversicherungen
- Univ.-Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer, MBA, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien
- Elisabeth Jodlbauer-Riegler, Obfrau von Cystische Fibrose Hilfe Oberösterreich
- Ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG)
- Claas Röhl, Bakk., Obmann des Vereins für Neurofibromatose „NF Kinder“ und Obmann von „NF Patients United“ sowie Vorstandsmitglied von Pro Rare Austria
- Mag. Dr. Christian Stöckl, Landeshauptmann-Stellvertreter in Salzburg, Finanz- und Gesundheitslandesrat
Moderation: Mag. Tarek Leitner, ORF