17. Feb. 2022So bekommt man dir Situation besser in den Griff

Bei Fatigue ist Aktionismus fehl am Platz

Patienten mit chronischem Fatigue-Syndrom (CFS) haben schlechte Karten. Bei den einen wird die Krankheit nicht oder erst sehr spät erkannt, die anderen leiden unter veralteten Therapien. Inzwischen weiß man mehr über die Erkrankung.

Müde von Computergeschäftsmann, der die Brille abnimmt, fühlt er sich überanstrengt
iStock/fizkes

Das chronische Fatigue-Syndrom (CFS) bleibt bei bis zu 90% der Patienten unerkannt. Das liegt womöglich daran, dass immer noch viele Kollegen die Erkrankung nicht ausreichend kennen oder nicht ernst nehmen, schreiben Dr. Lucinda Bateman vom Bateman Home Center of Excellence in Salt Lake City und ihre Kollegen. Und selbst wenn sie diagnostiziert wird, sind die folgenden Behandlungen häufig ineffektiv bis schädlich. Denn das CFS ist nicht einfach ein Erschöpfungssyndrom, dem mit ein bisschen kognitiver Verhaltenstherapie oder körperlichem Training beizukommen ist. Im Gegenteil – Letzteres verstärkt die Beschwerden sogar.

CFS und myalgische Enzephalomyelitis (ME) beschreiben beide dieselbe Erkrankung, so die Autoren. International ist aktuell die Kombinationsbezeichnung ME/CFS gebräuchlich. Es manifestiert sich durchschnittlich in einem Alter von 33 Jahren, die Peaks liegen zwischen 10 und 19 sowie 30 und 39 Jahren, Frauen sind häufiger betroffen. Mittlerweile gilt das CFS als Multisystemerkrankung. Man unterscheidet Kardinalsymptome und Begleitkriterien (s. Kasten). Manche Patienten haben zudem erkältungsartige Beschwerden und sind gegenüber äußeren Reizen überempfindlich.

Ist es ein chronisches Fatigue-Syndrom?
Hauptkriterien
neu aufgetretene deutliche Einschränkung in sozialen, schulischen, beruflichen oder persönlichen Aktivitäten über mindestens sechs Monate
post-exertionale Malaise, d.h. schon bei oder nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung kommt es längerfristig z.B. zu Schwäche, Muskelschmerzen, kognitiven Beschwerden oder Müdigkeit. Sind die Patienten schwer erkrankt, bleibt nicht einmal das Umdrehen im Bett folgenlos.
Ein- oder Durchschlafstörungen
Begleiterscheinungen
kognitive oder neurologische Veränderungen: Reaktionszeit, Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit sind reduziert. Typisch sind Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen sowie Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung. Motorik, Sprache und allgemeines Denken bleiben unbeeinflusst.
orthostatische Dysfunktion/autonome Störungen: Schwindel, Übelkeit, Fatigue, Herzklopfen oder kognitive Dysfunktion bei längerem Stehen oder aufrechtem Sitzen. U.a. kommt es zu Gleichgewichtsstörungen oder Ohnmachten.
Für die Diagnose CFS müssen in 50% der Zeit alle drei Hauptsymptome und mindestens eines der beiden Begleitkriterien zutreffen.

Chronische Fatigue als Folge von Covid-19

In bis zu 80% der Fälle geht den Beschwerden eine Infektion voraus, daher auch manchmal der Name postvirales Fatigue-Syndrom. Beobachtet wurde dies z.B nach Mononukleose, Giardiasis, Q-Fieber, EBV-Infektionen oder SARS. Wie eine deutsche Studie belegt, sind auch SARS-CoV-2-Infektionen davon nicht ausgenommen. Bei der Hälfte der Patienten, die sich sechs Monate nach Covid-19 noch krank fühlten, trafen die Kriterien für ein CFS zu. Passend zu assoziierten Infektionen zeigen sich bei den Patienten oft immunologische Veränderungen: reduzierte Zahl an Killerzellen, niedrige Ig-Spiegel oder pathologische Veränderungen bei den Zytokinen. Unklar bleibt, was davon allerdings Henne oder Ei ist.

Je nach Krankheitsschwere unterscheidet man vier Formen, deren Einschränkungen von vermehrtem Ruhebedürfnis bis zur totalen Bettlägerigkeit reichen. Damit steht das CFS hinsichtlich hervorgerufener Beeinträchtigungen anderen chronischen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder Multipler Sklerose in nichts nach. Experten gehen davon aus, dass bis zu 75 % der Erkrankten arbeitsunfähig und etwa 25% ans Haus oder sogar ans Bett gebunden sind. In der Regel fluktuieren die Beschwerden, wobei sie immer irgendwie vorhanden sind.

Die Krankheitsprognose bleibt für viele unsicher, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich Betroffene komplett erholen, wird auf magere 5% geschätzt. Remissionen sind selten und halten meist nicht lange an. 50% bis über 90% der Patienten sind Schätzungen zufolge nach zwei Jahrzehnten immer noch krank.

Die Diagnose erfordert Fingerspitzengefühl: Häufig müssen Beschwerden explizit erfragt werden, einfache Tests gibt es nicht. Bei den einen kommen die Symptome schleichend, bei den anderen plötzlich. Hilfreich sind Tagebücher, in denen der Patient seine Aktivitäten und Beschwerden notiert. Labor und andere Spezialuntersuchungen dienen vor allem der Differenzialdiagnostik zum Auschluss z.B von Depressionen, Fibromyalgie, Schlafapnoe und neurologischen Erkrankungen. Auch extreme Adipositas, Hormonstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Malignome oder Vergiftungen können CFS-typische Beschwerden verursachen. Erschwerend kommt hinzu, dass einige Differenzialdiagnosen mitunter als Komorbiditäten auftreten.

Die Experten empfehlen Routinetests wie Blutbild, BSG und Speichel-Kortisoltest sowie die Bestimmung folgender Laborwerte: CRP, Rheumafaktor, antinukleäre Antikörper, TSH, freies T3 und T4, Vitamin B12, Vitamin D und Ferritin. Je nach Beschwerden können Kipptisch-Untersuchungen, neuropsychologische oder Ergometertests erforderlich sein. Bei diesen sollte aber unbedingt auf das Risiko der post-exertionalen Malaise (PEM) geachtet werden.

Kein Tiger im Tank

CFS-Patienten haben einen gestörten Energiehaushalt. Körperliche Aktivität kann – im Unterschied zu Gesunden – die Beschwerden der post-exertionalen Malaise nicht bessern. Das körperliche Training senkt stattdessen die Schwelle, ab der Schmerz und Erschöpfung auftreten, weiter. Das verdeutlichen Studien mit CFS-Patienten und Menschen, die „nur“ eine schlechte Kondition haben: Handelt es sich um ein CFS, sind die körperlichen Leistungen am zweiten Trainingstag deutlich schlechter (z.T. halbiert) als am ersten.

Es gibt Hinweise darauf, dass bei CFS sowohl die Produktion als auch der Einsatz des wichtigsten Energieträgers ATP gestört ist. Unterstrichen wird dies durch die häufig erhöhten Laktatwerte in Blut, Muskel und Liquor. Das Laktat steigt an, wenn der Körper auf anaerobe Energiegewinnung umsteigen muss. Andere Untersuchungen zeigen zudem, dass schwer erkrankte Patienten mit chronischem Fatigue-Syndrom im Vergleich zu leichter erkrankten eine gestörte Glykolyse aufweisen.

Bei Medikamenten niedrige Dosierungen bevorzugen

Generell gibt es pharmakologische (off label) und nichtpharmakologische Behandlungsoptionen. Medikamente sollten möglichst niedrig dosiert werden, da CFS-Patienten oft unter Arzneimittelunverträglichkeiten leiden. Der immer noch häufig gegebene Rat, sich aufzuraffen und sich mehr zu bewegen, ist heute obsolet.

Der PEM können Patienten entgegensteuern, indem sie körperliche und geistige Aktivitäten sorgfältig planen, um mit ihrer Energie besser hauszuhalten. Beim „Energiesparen“ helfen u.a. elektrobetriebene Rollstühle, Duschstühle oder – ganz simpel – ein Behindertenausweis, der z.B. nahes Parken und kurze Gehwege ermöglicht. Trigger wie Licht und Geräusche lassen sich mit Ohrstöpseln oder Sonnenbrille ausschalten.

Die ausreichende Zufuhr von Salz und Flüssigkeit sowie das Tragen von Kompressionsstrümpfen vermindern orthostatische Dysregulationen. Reicht dies nicht, empfehlen die Kollegen den Einsatz u.a. von Fludrocortison, Alpha-Agonisten, niedrig dosierten Betablockern, Desmopressin oder Ivabradin.

Schlafstörungen versucht man mit einer besseren Schlafhygiene, Blaulichtfiltern, Meditation und Ohrstöpseln beizukommen. Pharmakologisch gibt es ein ganzes Arsenal von Wirkstoffen, darunter Antidepressiva, Mirtazapin, Antiepileptika, Zolpidem oder Diphenhydramin.

Merkzettel, Kalender und nicht zuletzt die sorgfältige Energieplanung (z.B. Lesezeiten festlegen) helfen bei kognitiven Beschwerden. Pharmakologisch raten Bateman und Kollegen neben Koffein z.B. zu Stimulanzien wie Methylphenidat oder Modafinil.

Heiße oder kalte Packungen reduzieren die auftretenden Schmerzen. Damit es dazu gar nicht erst kommt, ist auch hier eine genaue Planung der Aktivität sinnvoll. Akupunktur kann hilfreich sein, ebenso Meditation oder Neurofeedback-Techniken. Medikamentös reicht die Palette von Naltrexon über Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, Amitriptylin, Antiepileptika (Gabapentin und Pregabalin), Muskelrelaxanzien und NSAR bis zu Cannabis. Einige Experten behandeln das CFS auch mit antiviralen Wirkstoffen oder Immunmodulatoren. Weil die Erfahrungen damit noch gering sind, sollte dies jedoch speziellen Zentren vorbehalten bleiben.

Bateman L et al. Mayo Clin Proc 2021; doi.org/10.1016/j.mayocp.2021.07.004

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune