3. Sep. 2025DIE GESICHTER SELTENER ERKRANKUNGEN – TEIL 36

„Sie sind hier richtig“ – Die Helpline für Seltene Erkrankungen

Über die Helpline von Pro Rare Austria erleben Betroffene mit Seltenen Erkrankungen oft zum ersten Mal das Gefühl, ernst genommen zu werden. Telefonisch erreichen sie dort Judith Wimmer als Spezialistin für Betroffenen- und Angehörigenarbeit.

Die Pro Rare Austria-Helpline in Aktion.
Pro Rare Austria
Judith Wimmer, MSc, in einem Beratungsgespräch der Pro Rare Austria-Helpline.

medonline: Sie betreuen die Helpline von Pro Rare Austria. Was beeindruckt Sie dabei besonders?

Judith Wimmer: Die Gespräche mit Betroffenen zeigen mir jedes Mal aufs Neue, mit welcher unglaublichen Kraft Menschen schwierige Lebenssituationen meistern. Bevor ich zu Pro Rare Austria kam, hatte ich noch nie von Seltenen Erkrankungen gehört. Jetzt erlebe ich täglich, was es heißt, eine Seltene Erkrankung zu haben. Das macht mich demütig und zugleich dankbar, wenn ich Menschen ein Stück begleiten darf.

Welche Barrieren erleben Betroffene im Alltag?

Sehr viele und auch solche, an die wir gar nicht denken.  Beispielsweise denken wir beim Thema Barrierefreiheit meist an Rollstuhl-gerechte Zugänge oder Hinweise für Menschen mit Sehbehinderung, aber womöglich nicht daran, wie sich eine Tür entriegeln lässt, wenn man etwa keine Daumen hat. Durch die Gespräche und persönlichen Kontakte habe ich gelernt, mich immer wieder in mein Gegenüber hineinzuversetzen und individuell zu fragen: Was braucht die Person gerade?

In Ihrer Mitgliederbefragung aus 2024 bejahen rund zwei Drittel den Wunsch nach Verbesserung der medizinischen und psychosozialen Beratung. Spiegelt sich dies auch in den Anfragen wider?

Ja, auf jeden Fall. Etwa drei Viertel der Anfragenden haben bereits eine Diagnose, ein Viertel ist noch auf der Suche. Mit der Diagnose taucht dann die Frage auf, wie es weitergeht: Was bedeutet das für mein Berufsleben, für meine Familie? Als sehr belastend wird jedoch die mitunter jahrelange Suche nach einer Diagnose erlebt. Es ist schwer, lange Zeit mit unerklärlichen Symptomen zu leben und dabei oft als „hypochondrisch“ abgestempelt zu werden. Die Diagnose – auch wenn sie keine Heilung verspricht – bringt doch endlich Klarheit und Antworten auf viele quälende Fragen.

Mit welcher Häufigkeit wird die Helpline genutzt?

Die Anfragen nehmen kontinuierlich zu. 2024 hatten wir knapp 140 Anfragen, 2025 waren es im ersten Halbjahr bereits 95 und damit fast genauso viele im gesamten Jahr 2023. Etwa die Hälfte der Kontakte erfolgt telefonisch, die andere Hälfte schriftlich über unser Kontaktformular (siehe Kasten, Anm.). Wir verwenden dieses übrigens auch bei telefonischen Anfragen, um die Anfragen standardisiert zu erfassen.

Gibt es einen typischen Gesprächsverlauf bei den Anrufen?

Im ersten Kontakt erlebe ich viele als sehr vorsichtig, denn sie haben bereits einiges an Ablehnung oder Unverständnis erlebt. Mitunter heißt es: „Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin“ oder „Sie werden mir das nicht glauben“. Die Erleichterung der Anrufer wird spürbar, wenn ich antworte, dass sie bei mir genau richtig sind, und sie einlade, zu erzählen. Es geht auch nicht immer darum, sofort eine Lösung zu finden. Wenn ich offen sage, dass ich es zwar nicht versprechen kann, aber versuchen werde, eine Lösung zu finden, dann bekomme ich etwa zu hören: „Danke, dass Sie mich ernst nehmen.“

Welchen Stellenwert hat nach Ihrer Erfahrung die „Hilfe durch Selbsthilfe“?

Die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, wird als sehr hilfreich erlebt. Viele Betroffene ergreifen nach der Diagnose selbst die Initiative und gründen eine Gruppe, wenn es bislang noch keine gibt, oder sie stellen sich selbst als Ansprechperson zur Verfügung. Manchmal sind sie ihres Wissens erst die Einzigen mit einer bestimmten Diagnose. Die Community der Betroffenen wächst jedoch, und dabei geht es nicht nur um die Erkrankung selbst, sondern auch um individuelle Herausforderungen, die viele teilen. Das sind Themen wie Kinderbetreuung genauso wie Fragen nach Erstattung oder Bewilligung. Dann ist eine eine regionale Vernetzung mit Personen mit ähnlichen Anliegen vielleicht wichtiger, als dass es die gleiche Erkrankung ist.

Wie erfolgt dann diese Vernetzung mit anderen Betroffenen oder auch mit Ihrem medizinischen Beirat?

Die Weitergabe der Kontaktdaten erfolgt nur mit ausdrücklicher Zustimmung. Manche wollen ihre Kontakte nicht von vorneherein angeben, dann läuft der Austausch über mich und ich leite den Kontakt nach vorheriger Rücksprache weiter. Bei medizinischen Fragen versuche ich zunächst mögliche viele Informationen zu bekommen, um diese gezielt an jemandem aus dem Team des Expertenbeirates weiterzuleiten. Da haben wir zum Glück Spezialisten und Spezialistinnen aus verschiedenen Fachrichtungen dabei.

Kann es auch vorkommen, dass sich Menschen in psychischen Krisen an Sie wenden? Wie gehen Sie damit um?

Wenn ich den Eindruck habe, es handelt sich um eine krisenhafte Situation, dann empfehle psychologische oder psychotherapeutische Begleitung. Auch hier kann ich zum Glück auf ein Netzwerk zurückgreifen, auch ich selbst nehme Supervision in Anspruch. Ich betone auch, nicht zu zögern, mich anzurufen, wenn es jemandem nicht gut geht. Die Mehrheit der Betroffenen zeigt jedoch sehr viel an Stärke und Geduld und oft auch Humor. Das habe ich erst kürzlich erlebt, als ich mit einer Rollstuhl-Benutzerin in Wien auf die nächste Niederflurstraßenbahn warten musste.

Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die internationale Vernetzung?

Sehr wichtig – viele seltene Erkrankungen betreffen nur wenige Menschen in einem Land. Wir von Pro Rare Austria sind in engem Austausch mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) in Deutschland sowie mit Pro Raris in der Schweiz. Schließlich geht es uns darum, Brücken zu bauen, damit niemand mit einer seltenen Erkrankung allein bleibt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Judith Wimmer, MSc.: Das Gesicht der Helpline von Pro Rare Austria

Nach 25 Jahren Tätigkeit in der IT-Branche studierte Judith Wimmer, MSc, im zweiten Bildungsweg berufsbegleitend Psychosoziale Beratung. Auf der Suche nach einem Praktikumsplatz stieß sie zu Pro Rare Austria – Allianz für Seltene Erkrankungen und unterstützte das Team zunächst zwei Jahre lang ehrenamtlich.

Judith Wimmer, MSc
Pro Rare Austria/Anna Beskova

Judith Wimmer, MSc

Nach Abschluss des Studiums stieg sie hauptberuflich im Bereich Betroffenen- und Angehörigenberatung ein und ist über die Helpline nunmehr eine wichtige Kontaktperson.

Telefon: +43 664 280 37 67, Mo–Do: 10:00–15:00 Uhr
Auch eine elektronische Kontaktaufnahme ist für Betroffene möglich.