15. Apr. 2025Trainingstipps für Menschen mit Multipler Sklerose

„Es gibt unendlich viele Argumente für Sport mit MS“

Im Gespräch mit medonline berichtet die auf Neuro-Rehabilitation spezialisierte Physiotherapeutin Lea Kilchenmann, wie MS-Betroffene mehr Bewegung in ihren Alltag einbauen können und gibt Tipps für ein sicheres Training.

Lea Kilchenmann
Foto: Carmen Trappenberg
Lea Kilchenmann BSc. ist freiberufliche Physiotherapeutin in Wien und u.a. auf Neuro-Rehabilitation spezialisiert. Bei den Paralympics PARIS 2024 war sie Mitglied des Medical Teams.

Eine wesentliche Rolle spielt dabei die gute Zusammenarbeit zwischen Patienten, Neurologinnen und Physiotherapeuten.

MS-Patientin Valentina Strobl berichtet von starkem Schwindel als erstes Symptom ihrer Erkrankung. Ist das nach Ihrer Erfahrung typisch bei MS und was empfehlen Sie Patientinnen dann in puncto Training?

Lea Kilchenmann: Gerade beim Schwindel ist es von Bedeutung zunächst abzuklären, was der Auslöser ist. Steht er tatsächlich in Zusammenhang mit der Diagnose MS, dann gibt es gute Möglichkeiten an Koordination und Gleichgewicht zu arbeiten.

Lea Kilchenmann
Foto: Carmen Trappenberg

Ich rate Betroffenen mit Schwindel, wenn sie zu Hause selbständig üben, auf ein sicheres Trainingsumfeld zu achten. Es hilft schon, wenn ein stabiler Tisch in der Nähe ist, um sich bei Bedarf abzustützen. Optimal ist es natürlich, wenn eine zweite Person in der Nähe ist. Anhalten bei den Übungen selbst ist aber kontraproduktiv, da es sich dann nicht mehr um ein Gleichgewichtstraining handelt.

Ich übe mit Betroffenen auch Schutzschritte, damit sie sich bei Schwindel oder Unsicherheit schnell stabilisieren können. Nach meiner Erfahrung lässt sich die Sturzgefahr damit minimieren.

Auch Übungen im Wasser wären zu empfehlen, insgesamt aber sollte das Training so realitätsnah wie möglich sein.

Ich bekomme übrigens viele Anfragen auch von Patientinnen und Patienten mit stärker ausgeprägten Symptomen im Hinblick auf ein „richtiges“ Sportprogramm. Zugleich gibt es immer noch das hartnäckige Gerücht, dass man sich mit MS nicht zu sehr belasten sollte.

Was gilt nun insgesamt in puncto Training bei MS?

Kilchenmann: Es gilt ein individuell abgestimmtes Programm zu erarbeiten, wobei ich mich an den Empfehlungen der WHO orientiere. Das heißt, es sollte eine Mischung aus Kraft- und Ausdauertraining sein und eben auch Koordinations- und Gleichgewichtsübungen beinhalten.

Krafttraining in Form von Ganzkörperübungen mit dem eigenen Körpergewicht, wo viele Muskelgruppen gleichzeitig aktiviert werden, ist für mich eine ideale Form bei MS.

Oft ist eine Seite des Körpers mehr betroffen, da nähern wir uns dann mit den Wiederholungen langsam an, um einen Ausgleich zu ermöglichen.

Insgesamt empfehle den Patientinnen und Patienten sich einen Plan zurechtzulegen, wann sie welche Übungen machen, dann kommen sie bald in eine Routine. Einzig bei akuten Infektionen sollte nicht trainiert werden bzw. in einem akuten Schub in einem angepassten Setting.

Die Physiotherapie ist ein Pfeiler der symptomatischen Therapie, worauf müssen sie noch achten?

Kilchenmann: Ich stehe in engem Austausch mit den zuweisenden neurologischen Praxen und halte bei Detailfragen Rücksprache. Auch die Ziele der Patienten müssen wir berücksichtigen, ebenso eine etwaige Versorgung mit Hilfsmitteln.

Gut bewähren sich bei Gangunsicherheiten oder Ataxien auch ein oder zwei Nordic Walking Stöcke, sie werden auch besser akzeptiert als Gehstöcke. Gehstöcke signalisieren jedoch der Umwelt, dass mehr Rücksichtnahme nötig ist.

Bei der bei MS häufig vorkommenden Vorfußheber-Schwäche braucht es eine gute Orthesenversorgung.

Kann es sein, dass sie Patienten zu Bewegung motivieren müssen und wie argumentieren Sie dabei?

Kilchenmann: Patienten und Patientinnen kommen meist mit einem gewissen Leidensdruck und damit auch mit entsprechender Motivation zur Physiotherapie, sodass die Compliance oft recht gut ist. Insgesamt gibt es unendlich viele Argumente dafür, um auch mit MS Sport zu betreiben.

Ich erkläre, dass sie mit dem Krafttraining ihre Möglichkeiten im Alltag stark verbessern können. Vom Ausdauertraining profitieren sie etwa durch besseren Schlaf, mehr Fettverbrennung oder auch im Sinne der Sekundärprävention für ihr Herz Kreislaufsystem oder ihre Lungenfunktion.

Lea Kilchenmann
Foto: Carmen Trappenberg

Nachweislich hat die Bewegung zudem einen günstigen Einfluss auf die Gehirnleistung und die Psyche. Selbst bei Patienten mit depressiven Symptomen zeigt sich bald eine positive Resonanz.

Ich ermutige die Betroffenen auch, gemeinsam mit anderen Menschen Sport zu machen: der soziale Aspekt wirkt sich dann nochmals günstiger auf die Motivation aus.

Gibt es Sportarten, die sie besonders empfehlen?

Kilchenmann: Entscheidend ist, ob die Patientinnen den Sport gerne machen und ihn vielleicht schon vor der Diagnose ausgeübt haben. Schwimmen ist sicher eine ideale Form, beim Radfahren sollte man abklären, ob keine Sehstörungen vorliegen – dann wäre ein Ergometer sicherer.

Bei Gleichgewichtsproblemen könnte mit einem Tribike geradelt werden. Aber auch ein therapeutisches Klettern oder sogar Tanzen bieten gute und freudvolle Möglichkeiten zur Sportausübung.

Wichtig ist im gemeinsamen Gespräch die individuellen Neigungen und die positiven Aspekte herauszuarbeiten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Tipps für Sport mit Multipler Sklerose

  • Ursachen von Schwindel abklären – Vor dem Training sollte geklärt werden, ob der Schwindel mit MS zusammenhängt, um gezielte Maßnahmen zu ergreifen.
  • Sicheres Trainingsumfeld schaffen – Beim Üben zu Hause ist ein stabiler Halt in Reichweite wichtig, idealerweise mit einer zweiten Person als Absicherung.
  • Gleichgewichtstraining realitätsnah gestalten – Übungen wie Schutzschritte helfen, die Sturzgefahr zu minimieren, und Training im Wasser kann sinnvoll sein.
  • Individuelles Programm erstellen – Ein ausgewogener Plan aus Kraft-, Ausdauer-, Koordinations- und Gleichgewichtstraining ist entscheidend.
  • Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht – Besonders Ganzkörperübungen aktivieren viele Muskelgruppen und helfen, Ungleichgewichte auszugleichen.
  • Regelmäßigkeit und Routine entwickeln – Ein fester Trainingsplan hilft, die Übungen langfristig in den Alltag zu integrieren.
  • Physiotherapie individuell anpassen – Eine enge Zusammenarbeit mit Neurologen sowie der Einsatz von Hilfsmitteln wie Nordic-Walking-Stöcken oder Orthesen kann unterstützen.
  • Motivation durch spürbare Vorteile – Sport verbessert Beweglichkeit, Schlaf, Fettverbrennung, Herz-Kreislauf-Gesundheit und Psyche, auch bei depressiven Symptomen.
  • Gemeinsames Training fördern – Sport in Gesellschaft steigert die Motivation und bringt zusätzliche soziale Vorteile.
  • Passende Sportarten wählen – Schwimmen, Ergometer-Radfahren, Tribike, therapeutisches Klettern oder Tanzen sind gute Optionen – wichtig ist, dass die Betroffenen Freude daran haben.