11. Nov. 2024Grazer Fortbildungstage

Schlaganfall, Multiple Sklerose, Demenz: Früherkennung in der Hausarztpraxis

In der Neurologie gibt es wesentliche Fortschritte im Verständnis von Erkrankungsprozessen, in der Diagnostik und der Therapie. Die Hausarztmedizin kann durch genaues Hinsehen und Nachfragen wesentlich zur Primärprävention in der Neurologie und damit zur Hirngesundheit beitragen.

Univ.-Prof. PD Dr. Christian Enzinger, Univ.-Klinik für Neurologie Graz
Foto:  Regine Schöttl

Univ.-Prof. PD Dr. Christian Enzinger, Univ.-Klinik für Neurologie Graz.

Statistisch gesehen leiden 60 % der Menschen in der EU an einer neurologischen Erkrankung. Die Kosten, die dadurch allein in Österreich entstehen, belaufen sich auf 16 Milliarden Euro pro Jahr (siehe Kasten). Die Allgemeinmedizin ist hier vor allem in Bezug auf die Behandlung von Risikofaktoren gefragt. Aber auch die frühe Erkennung von kognitiven Einbußen und die rasche fachärztliche Zuweisung liegt in erster Linie in den Händen der Hausärztinnen und -ärzte.

Bei den Grazer Fortbildungstagen gab Univ.- Prof. PD Dr. Christian Enzinger, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie an der Med Uni Graz, einen Überblick über die neuesten Entwicklungen in seinem Fach. Sein Augenmerk war dabei auf die praktische Relevanz für die Allgemeinmedizin gerichtet.

Blutdrucksenkung bei Schlaganfall?

Eine Frage, die sich viele Kolleginnen und Kollegen immer wieder stellen, ist: Soll bei Verdacht auf Schlaganfall präklinisch der Blutdruck gesenkt werden? Die INTERACT-4-Studie1, die bei 2000 Patienten mit ischämischem Schlaganfall durchgeführt worden war, hat ergeben, dass die präklinische Blutdrucksenkung mit Urapidil mit einem schlechteren Outcome assoziiert war als «usual care». Intrazerebrale Blutungen würden von der Blutdrucksenkung profitieren, dafür wäre allerdings eine Diagnose via Bildgebung erforderlich.

Fazit für die Praxis: Keine präklinische antihypertensive Therapie bei Schlaganfall vor Diagnostik via Bildgebung! Hypertensive Werte (> 180 mmHg) sind durchaus üblich bei Schlaganfällen und können, so Enzinger, «entspannt» akzeptiert werden. Eine Ausnahme bildet der symptomatische hypertensive Notfall, zum Beispiel mit Lungenödem.

Behandlung des ischämischen Schlaganfalls

Neu seit Anfang 2024 ist die Zulassung des Thrombolytikums Tenecteplase für die Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls innerhalb von 4,5 Stunden nach Symptombeginn. «Dass man Tenecteplase gänzlich als Bolus verabreichen kann, ist sehr angenehm, da man sich die Verabreichung über den Perfusor spart», so der Past-Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN). «Tenecteplase kann theoretisch auch in Nicht-Zentren verabreicht werden», ergänzte Prof. Enzinger und verwies auf das erst im Jänner 2024 von der ÖGN herausgegebene Positionspapier2 zu diesem Thema.

«Generell können wir immer mehr Patientinnen und Patienten mit Großgefäßverschluss – zum Beispiel mit Verschluss des M1- und M2-Segments der A. cerebri media – mit einer Thrombektomie helfen. Und zwar in einem erweiterten Zeitfenster, d. h. bis zu 24 Stunden», so Prof. Enzinger. Eine Hilfestellung für die Entscheidungsfindung bietet ein Steiermark-weit verwendeter bildgebender Algorithmus unter Einsatz der sogenannten RAPID-Software, mit der ein Mismatch – sprich rettbares Gewebe – dargestellt werden kann. Auch beim hämorrhagischen Infarkt habe sich mit dem «bundle of care» – Antagonisierung einer bestehenden Antikoagulation, schneller Blutdrucksenkung und schneller Zuweisung an die Neurochirurgie – viel getan.

Fazit für die Praxis: Tenecteplase steht seit 2024 als Thrombolytikum auch für den ischämischen Schlaganfall zur Verfügung und kann innerhalb von 4,5 Stunden nach Symptombeginn als Bolus gegeben werden.

Anfallserkrankungen

Wichtig für die Kommunikation mit Betroffenen ist, so Prof. Enzinger, dass ein epileptischer Anfall nicht mit Epilepsie gleichzusetzen ist. Von einem akut-symptomatischen Anfall ist bei metabolischen Störungen (z. B. Hyponatriämie, Blutzuckerentgleisungen), Alkoholentzug, Substanzintoxikationen (z. B. Kokain) und akuter Hirnschädigung (Schädelhirntrauma, Insult, ZNS-Infektion, OP usw.) auszugehen. Definitionsgemäß handelt es sich nur dann um eine Epilepsie, wenn mindestens zwei unprovozierte Anfälle in einem Abstand von mehr als 24 Stunden oder ein unprovozierter Anfall und epileptische Potenziale im EEG/eine potenziell epileptogene Läsion im MRT vorliegen.

Fazit für die Praxis: Bei einem einzelnen epileptischen Anfall bzw. nach einem akut-symptomatischen Anfall soll keine anfallssupprimierende Medikation gegeben werden.

Multiple Sklerose

Bei der Multiplen Sklerose (MS) handelt es sich um eine entzündliche Erkrankung der Myelinscheiden und Axone von Gehirn und Rückenmark mit zeitlicher und räumlicher Dissemination der Läsionen. «Das heißt, die Krankheitssymptome und klinischen Zeichen können nicht einer einzelnen Läsion zugeordnet werden, und der Verlauf ist meist schubförmig», erklärte Prof. Enzinger.

Im September 2024 wurden in Kopenhagen die neuen Diagnosekriterien der Multiplen Sklerose präsentiert, die «stark MR-affin sind» so der Neurologe, was eine große Herausforderung bezüglich flächendeckender Umsetzung mit sich bringe. Der Trend geht dahin, MS früher zu erkennen und damit früher therapieren zu können. So sind etwa das «zentrale Venenzeichen» und die «paramagnetischen Randläsionen» als spezifische Merkmale der Erkrankung in die Diagnosekriterien eingeflossen. «Anhand dieser Kriterien können Sie bereits sehr früh – bei den ersten Symptomen – eine MS diagnostizieren.» Als «Schönheitsfehler» bezeichnet Prof. Enzinger die Tatsache, dass es dafür spezielle radiologische Expertise braucht. Neu ist auch, dass anhand dieser definierten Kriterien sogar bei Personen, die noch gar keine Symptome haben, eine MS diagnostiziert werden kann (sogenanntes radiologisch isoliertes Syndrom).

Fazit für die Praxis: Anhand neuer MR-basierter Diagnose-Kriterien kann die MS früher erkannt und behandelt werden.

(Alzheimer-)Demenz

Es gibt unzählige Faktoren, die das Demenz-Risiko beeinflussen. Die meisten davon sind modifizierbar: etwa Diabetes, Rauchen, Bluthochdruck, Übergewicht oder exzessiver Alkoholkonsum.

Im «2024 report of the Lancet standing Commission»3 sind aufgrund der Evidenz zu den bisher angeführten 12 Faktoren nun zwei weitere Risikofaktoren dazugekommen: ein hohes LDL-Cholesterin und – vor allem im höheren Alter relevant – Sehstörungen. Enzinger: «Wenn Sie diese 14 zum Großteil modifizierbaren Risikofaktoren zusammennehmen, hätten Sie potenziell – rein rechnerisch – ein um 45 % reduziertes Demenzrisiko.»

Zur Behandlung der Alzheimer-Demenz stehen zwei Antikörpertherapien (Lecanemab und Donanemab) kurz vor der Zulassung in Europa. Diese Substanzen sind in der Lage, eine Verlangsamung der kognitiven Einbußen zu bewirken, allerdings lediglich in Frühstadien der Erkrankung. Zu beachten sind darüber hinaus die potenziell letalen Nebenwirkungen (Gehirnblutungen und Gehirnödem).

Geschätzte 300 bis 700 000 Menschen in Österreich sind von Frühformen der Demenz betroffen. Die große Herausforderung wird in Zukunft sein, Frühformen von Demenz zu erkennen und zu behandeln. Mit dem MoCA* steht ein Test zur Verfügung, der sensitiver für die Diagnose früher kognitiver Störungen ist als MMSE.

Prävalenz neurologischer Erkrankungen in Österreich

Laut Neurologie-Report der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie leiden in Österreich rund eine Million Menschen an Migräne, 150 000 an Alzheimer-Demenz, 80 000 an Epilepsie, 20 000 an Parkinson und 14 000 an MS. 26 000 Menschen erleiden pro Jahr einen Schlaganfall. Die Kosten, die dadurch zustande kommen, belaufen sich auf 16 Milliarden Euro.

Welche Voraussetzungen es für die Therapie mit monoklonalen Antikörpern braucht bzw. welche Überlegungen anzustellen sind, wurde bereits in einem gemeinsamen Statement4 der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft (ÖAG) und ÖGN festgehalten:

  • Diagnose einer Alzheimer Erkrankung in frühen Stadien (MMSE > 22)
  • Gesicherte Biomarker-Diagnose (Amyloid-PET oder AD-Biomarker im Liquor)
  • MRT vor Beginn der Therapie und mindestens 5 x im ersten Jahr
  • Antikoagulation?
  • Bestimmung des ApoE4-Genotyps (Risiko für Amyloid-related Imaging Abnormalities, ARIA)
  • Aufklärung und Einverständnis der Patientinnen und Patienten
  • Register

Fazit für die Praxis: Es gibt etliche modifizierbare Risikofaktoren, die das Demenzrisiko beeinflussen. Die frühe Diagnose der Alzheimer-Demenz ist Voraussetzung für den Einsatz neuer Antikörpertherapien. Der MoCA-Test ist sensitiver für die Diagnose früher kognitiver Störungen als MMSE.

Quelle: Grazer Fortbildungstage 2024

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune