20. Okt. 2023medonline Medizingeschichte #8

Henry A. Cotton – A Bacteriological Model of Madness

Der Psychiater Henry Aloysius Cotton wird 1876 in New York geboren. Als junger Mann studiert er an der Columbia University und an der Johns Hopkins University, wo er 1902 einen Abschluss in Medizin erwirbt.

IoPHistorical Collection h/Cot

In Europa studiert er bei Emil Kraepelin und Alois Alzheimer, die beide als Pioniere ihres Fachs gelten. Zurück in den USA, avanciert er an der Johns Hopkins zum Protegé von Amerikas führendem anti-freudianischen Psychiater, Adolph Meyer.

Die Keimtheorie und ihre Folgen

Meyer ist ein Anhänger der in Chirurgie und Allgemeinmedizin revolutionären Keimtheorie und hat den Verdacht, dass von Mikroorganismen verursachte Infektionen auch für psychische Erkrankungen verantwortlich sein könnten. Auch sein Schüler Cotton macht sich diese Idee zu eigen. Schon bald ist er der Überzeugung, dass kein Psychiater in Amerika in der Anwendung der Keimtheorie weit genug geht – auch Adolph Meyer nicht.

Radikale Behandlungsmethoden: Cottons Eingriffe

Als er 1907 zum Ärztlichen Direktor des Trenton State Hospital in New Jersey ernannt wird, beginnt Cotton damit, 50 Patienten seiner Klinik die Zähne zu entfernen, weil er unter diesen die für die Geisteskrankheit verantwortlichen fokalen Infektionen vermutet. In der Folge erweitert er seine „Behandlungen“ auf Tonsillektomien und die Entfernung von Gallenblasen, Mägen, Gebärmuttern, Eierstöcken und Hoden. Besondere Beachtung schenkt er der rechten Seite des Dickdarms, welche nach Cottons Überzeugung für hochgradig dekadente Tendenzen verantwortlich sein kann.

Die simple Annahme dahinter ist, dass alle Manifestationen psychischer Krankheiten nur die Symptome einer dahinterliegenden Pathologie sind, nämlich bakterieller Infektionen. Mit der Entfernung der infizierten Organe glaubt Cotton die psychische Erkrankung zu heilen.

Bald schon berichtet er von Heilungsraten bis zu 85% und wird in transatlantischen Fachkreisen zu einer Berühmtheit. Viele der Opfer seiner ärztlichen Aufmerksamkeit müssen in Trenton derweil schreiend und um sich schlagend in den OP gezerrt werden.

Postoperative Mortalitätsraten von bis zu 30% erklärt er so, dass infizierte Patienten den Belastungen eines operativen Eingriffs wenig gewachsen sind. Seine Zwangsoperationen legitimiert er damit, dass nur mit radikalem Vorgehen die fokalen Infektionen ausgelöscht und die Integrität seines bacteriological model of madness bewahrt werden könne.

Erst als sich sein Mentor Adolph Meyer 1924 mit der für ihn inakzeptablen Situation konfrontiert sieht, mit einer Frau zusammenarbeiten zu müssen, beginnt sich das Blatt für Cotton zu wenden. Um sie aus dem Weg zu haben, schickt Meyer Phyllis Greenacre (später eine distinguierte Psychoanalytikerin) nach Trenton, um Cottons Arbeit dort im Rahmen einer Studie zu evaluieren.

Cottons Niedergang und Erbe

Ihr Bericht stellt den Vorgängen in Trenton ein verheerendes Zeugnis aus und weckt damit nicht zuletzt das Interesse eines Komitees des New Jersey State Senate. Cotton, von der plötzlichen Welle negativer Kritik überwältigt, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Weil Meyer bestrebt ist, seinen Schüler zu schützen, verhindert er die Publikation von Greenacres Report und die Aufregung um Cottons Wirken in Trenton verläuft sich wieder.

Nachdem sich sein Zustand plötzlich wieder bessert, ist Cotton erleichtert die Ursache seines Zusammenbruchs zu erkennen, lässt sich mehrere Zähne entfernen und fühlt sich prompt besser. In den folgenden Jahren verfolgt er seine Theorien mit noch größerem Eifer und verantwortet tausende verstümmelte Patienten und hunderte Todesfälle.

Als sich 1933 erneut ein kritischer Report mit seinem Tun beschäftigt, gehen Cotton und seine Unterstützer wieder in den Angriff über. Kurz darauf erliegt er aber einem Herzinfarkt. In einem Nachruf der Trenton Evening Times wird Cotton als großer Pionier auf dem Feld psychischer Erkrankungen bezeichnet. Seine Methoden überleben ihn, und bis in die 1960er-Jahre gehört die Entfernung von Zähnen zum Standard-Repertoire im Trenton State Hospital.