Malariaforschung & Kulturrevolution: Tu Youyou und das Artemisinin
Wie eine junge Forscherin inmitten der Wirren der chinesischen Kulturrevolution die Bekämpfung von Malaria revolutionierte.

Tu Youyou wird am 30. Dezember 1930 in Ningbo, einer Küstenstadt in der ostchinesischen Provinz Zhejiang, geboren. Ihr Aufwachsen bis zur Volljährigkeit ist von den Wirrungen des chinesischen Bürgerkriegs geprägt, in dem die national-konservative Kuomintang unter der Führung Chiang Kai-sheks und die kommunistische Partei des Vorsitzenden Mao Zedong um die Vorherrschaft im Reich der Mitte kämpfen. Der 1927 ausgebrochene Konflikt erstreckt sich über mehr als zwei Dekaden und ist für die chinesische Bevölkerung mit großem Leid und Entbehrungen verbunden. Zwischen 1937 und 1945, während der Invasion und teilweisen Okkupation durch das Kaiserreich Japan, setzen die Konfliktparteien die Feindseligkeiten aus, um gemeinsam gegen die japanischen Invasoren anzutreten. Für die Bevölkerung Chinas bedeutet das aber nur wenig Erleichterung, da die japanische Besatzungsmacht mit menschenverachtenden genozidalen Methoden agiert und auch die Bewohner der nicht besetzten Provinzen permanent von den Kollateralauswirkungen des Krieges – Kampfhandlungen, Flucht, Vertreibung und Hunger – bedroht sind. Ningbo ist im Gegensatz zu Städten wie Shanghai und Nanking nicht permanent unter japanischer Besatzung, erleidet im Laufe der Jahre aber alle negativen Konsequenzen derselben. Neben den von eiserner Hand und brutaler Willkür geprägten Methoden der japanischen Besatzungsmacht führt die berüchtigte Einheit 731 biologische Waffentests in der Stadt durch und wirft Pestflöhe aus Flugzeugen über der Stadt ab, um eine Epidemie auszulösen und ihre Auswirkungen zu studieren.
Ausbildung und frühe Forschung
In diesem von extremer Instabilität geprägten Umfeld wird in Tus Elternhaus großer Wert auf formale Bildung gelegt. So besucht sie die Xiaoshi-Mittelschule in Ningbo, die als eine der besten Schulen im Osten Chinas gilt. 1946 zieht sie sich Tuberkulose zu und muss ihre schulische Karriere für zwei Jahre unterbrechen. Als Tu sich 1948 so weit erholt hat, dass sie ihre Ausbildung fortsetzen kann, ist in ihr die Gewissheit gereift, Medizinerin werden zu wollen. Sie wechselt in der Folge für drei Jahre an die Ningbo-Mittelschule und beginnt 1951 ein Studium der Pharmakologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Peking.
Nach dem Abschluss 1955 setzt Tu ihre Forschung zur chinesischen Kräutermedizin an der Chinesischen Akademie für Traditionelle Medizin fort und ist an der Abteilung für Pharmazeutische Wissenschaften tätig. Anschließend wird sie zweieinhalb Jahre lang in traditioneller chinesischer Medizin ausgebildet. Nach diesem Abschluss arbeitet sie an der Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin in Peking.
In ihren frühen Forschungsjahren untersucht Tu Lobelia chinensis, eine traditionelle chinesische Heilpflanze, von der man annimmt, dass sie bei der Behandlung von Schistosomiasis wirksam ist – einer Krankheit, die durch Saugwürmer (Trematoden) verursacht wird, welche die Harnwege oder den Darm befallen. Diese Erkrankung ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Südchina weit verbreitet.
1966 initiiert Mao Zedong seine Große proletarische Kulturrevolution, die mit der Etablierung des Mao-Personenkults einhergeht und China für zehn Jahre in blutiges Chaos stürzt. Die vordergründige Zielsetzung der Kulturrevolution ist, kapitalistische, bürgerliche und traditionalistische Infiltrierung durch einen radikalen Klassenkampf in Partei, Staat und Gesellschaft auszurotten. Tatsächlich werden politische Strukturen zerstört, Maos Herrschaft als unfehlbar etabliert und persönliche Rechnungen unter dem Deckmantel der revolutionären Säuberung beglichen. Die politische und gesellschaftliche Ordnung Chinas wird durch permanente Säuberungen, ein tiefgreifendes und wachsendes Misstrauen in der Bevölkerung, wissenschaftsfeindliche Agitation sowie omnipräsente radikale Gewaltexzesse in einem rechtsfreien Raum weitgehend destabilisiert. In dieser dunklen Zeit, in der wissenschaftliche Forschung kaum erlaubt ist und laufende Projekte aus Angst vor Ex-post-facto-Repressionen nicht öffentlich dokumentiert werden, wird Artemisinin entdeckt.
Die Entdeckung von Artemisinin
1967 sucht die Regierung Nordvietnams beim großen Alliierten China um Unterstützung bei der Bekämpfung von Malaria an. Die regulären Truppen Nordvietnams und dessen irreguläre, im Süden gegen US-amerikanisch-südvietnamesische Verbände operierende Vietkong-Milizen erleiden im subtropisch-tropischen Klima Indochinas signifikante Verluste durch Malaria-Infektionen. Die chinesische Regierung startet daraufhin das geheime Projekt 523, dessen Startschuss am 23. Mai 1967 (5-23) im Hotel Beijing bei einem ersten Planungstreffen stattfindet. Tu Youyou wird im Jänner 1969 hinzugezogen, als die Direktoren des Projekts 523 das Institut für chinesische Materia Medica besuchen und dort Unterstützung anfragen. Tu erhält den Auftrag, in den Schriften der traditionellen chinesischen Medizin nach Rezepturen mit antimalarischer Wirkung zu suchen.
Ihr Team beginnt mit der Suche nach Rezepten zur Fiebersenkung. Über 2000 Rezepturen werden geprüft, 640 davon für eine detaillierte Auswertung ausgewählt. Die Pflanze Artemisia annua taucht häufig auf. Das Team testet Extrakte aus über 100 Pflanzen am Mäusemalaria-Parasiten Plasmodium berghei. Ein Extrakt von A. annua zeigt zunächst eine Hemmrate von etwa 68 %, später jedoch schwankende Werte von 12–40 %. Gründe dafür könnten unterschiedliche geografische Herkunft, saisonale Unterschiede, verwendete Pflanzenteile oder die Extraktionsmethode sein.
Beim Studium der ca. 1700 Jahre alten Schriften von Ge Hong stößt Tu auf ein Rezept, bei dem Qinghao (also A. annua) nicht abgekocht, sondern in kaltem Wasser ausgepresst wird. Ihr wird klar, dass die Hitze bei der Extraktion die Wirksamkeit verringert, und sie verwendet in der Folge Ether anstelle von Ethanol, um die Wirkstoffe aus den Blättern zu extrahieren. Am 4. Oktober 1971 entsteht so Probe Nr. 191, die bei Mäusen und Affen 100 % Wirksamkeit zeigt. Die Ergebnisse stellt sie am 8. März 1972 auf einem Treffen in Nanjing vor. Die Projektleitung beschließt daraufhin, klinische Tests durchzuführen.
Im August 1972 leitet Tu Youyou ein Team auf Hainan, wo die Extrakte an 21 Patienten getestet werden – mit 95–100 % Wirksamkeit. Sie nimmt das Mittel zuvor selbst ein, um die Sicherheit zu überprüfen. Am 17. November 1972 präsentiert sie die erfolgreichen Ergebnisse, woraufhin ein landesweiter Vorstoß zur Isolierung des Wirkstoffs beginnt.
Tus Beiträge zur Entdeckung und Kultivierung von Artemisinin zur Malariabekämpfung sind zentral. Sie rückt A. annua in den Fokus des Projekts 523 und macht deren Wirkung bekannt, entwickelt mit der Verwendung von Ether statt Ethanol eine effektive und schonende Extraktionsmethode für die aktiven Wirkstoffe der Pflanze und weist deren Wirksamkeit in einer ersten klinischen Studie nach. Getestet werden elf Fälle von Plasmodium vivax, neun von P. falciparum und eine Mischinfektion. Alle Patienten genesen schnell – besser als in der Kontrollgruppe mit Chloroquin. Auch in Peking werden ähnliche Ergebnisse erzielt.
Ihre Forschungsgruppe isoliert am 8. November 1972 die weiße Kristallform (Qinghaosu) mit einem Schmelzpunkt von 156–157 °C. Der Stoff zeigt Heilwirkung bei Mäusemalaria. Die Isolierung ermöglicht die Erforschung der chemischen Struktur. Tu koordiniert die Bemühungen mit Forschern in Peking und Shanghai. Schließlich entdeckt sie noch Dihydroartemisinin, welches eine bessere Wasserlöslichkeit und Wirksamkeit als Artemisinin bietet. Infolge dieser Leistungen erhält Tus Institut 1986 ein offizielles Zulassungszertifikat für Artemisinin, ebenso für Dihydroartemisinin und weitere Medikamente.
Durch den folgenden großflächigen Einsatz von Artemisinin werden in Südostasien zunehmend Parasiten entdeckt, die eine gewisse Toleranz gegenüber dem Wirkstoff zeigen. Obwohl klassische Resistenzen im Labor nicht bestätigt werden, überleben manche Parasiten länger im Patienten. Das beeinträchtigt die Heilungschancen. Artemisinin hat eine kurze Halbwertszeit und eignet sich nur zur Behandlung, nicht zur Vorbeugung.
Trotzdem ist der Einfluss von Artemisinin auf die öffentliche Gesundheit gewaltig – Millionen Leben werden gerettet. Gleichzeitig setzt die Entdeckung neue Maßstäbe in Forschung und Therapie. Kaum eine wissenschaftliche Entdeckung hat ähnlich unmittelbare und weitreichende Auswirkungen auf Gesundheit, Produktivität und Forschung wie Artemisinin.
In Anerkennung ihrer Leistungen wird Tu Youyou 1980 zur Forscherin (vergleichbar mit dem akademischen Rang einer ordentlichen Professorin) befördert und gewinnt bis in die 2000er-Jahre zahlreiche nationale Wissenschaftspreise. 2001 wird sie zur akademischen Beraterin für Doktorandinnen und Doktoranden ernannt. Ab den 2010er-Jahren beginnt sie auch international Anerkennung zu erfahren und erhält unter anderem den GlaxoSmithKline Outstanding Achievement Award in Life Science, den Lasker-DeBakey Clinical Medical Research Award und als co-recipient den Warren Alpert Foundation Prize. Die Krönung ihrer internationalen Forschungskarriere stellt die Verleihung des Nobelpreises für Medizin oder Physiologie im Jahr 2015 dar. Für ihre Entdeckungen im Zusammenhang mit einer neuartigen Therapie gegen Malaria erhält sie eine Hälfte dieses Preises; William C. Campbell und Satoshi Ōmura erhalten gemeinsam die andere Hälfte für ihre Entdeckungen im Zusammenhang mit einer neuartigen Therapie gegen Infektionen mit Rundwürmern. Seit 2023 ist Tu Youyou die leitende Wissenschaftlerin der Chinesischen Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin.
Eine Zäsur in der Bekämpfung von Malaria
Die Entdeckung von Artemisinin veränderte die Strategien zur Bekämpfung von Malaria grundlegend und führte zu einem Paradigmenwechsel in der Entwicklung von Malariamedikamenten. Laut der WHO findet in beinahe 100 Ländern weltweit weiterhin eine Übertragung von Malaria statt, und schätzungsweise 3,4 Milliarden Menschen leben mit dem Risiko, an Malaria zu erkranken, davon etwa 1,2 Milliarden mit besonders hohem Risiko. Zwischen 2000 und 2012 sanken die Malaria-Inzidenzraten weltweit um 25 %, und die globale Malaria-Sterblichkeitsrate ging im gleichen Zeitraum um 42 % zurück. Viele Länder befinden sich auf dem Weg zur Malariafreiheit. Artemisinin und seine Derivate spielen eine entscheidende Rolle bei der Verringerung der Malaria-Sterblichkeit. Schätzungen zufolge sind etwa 22 % der verhinderten 663 Millionen klinischen Fälle auf den Einsatz von Artemisinin-Kombinationstherapien (ACTs) zurückzuführen.
Artemisinin stellte eine neue Klasse von Malariamedikamenten dar und bewirkte zwei grundlegende Paradigmenwechsel in der Forschung und Behandlung von Malaria. Der erste betrifft den Übergang von chinolinbasierten Medikamenten zu artemisininbasierten Therapien aufgrund der zunehmenden Resistenz der Parasiten gegen Chinoline. Heute gelten ACTs als die von der WHO empfohlene Behandlung bei Infektionen mit dem gefährlichen Plasmodium falciparum und kommen weltweit zum Einsatz. Der zweite Paradigmenwechsel betraf die Ausrichtung der Wirkstoffentwicklung. Artemisinin und seine Derivate besitzen eine einzigartige Struktur (1,2,4-Trioxan-Peroxid-Pharmakophor), die eine neue Richtung für die Entwicklung von Malariamedikamenten vorgibt. Vielversprechende Wirkstoffe wie OZ277 und OZ439 sind synthetische Peroxide mit ähnlicher Struktur wie Artemisinin. Forschung zu Artemisinin stößt darüber hinaus auch in anderen Bereichen wie der Virus- und Krebsbekämpfung auf großes Interesse. Die Entdeckung von Artemisinin veränderte damit sowohl die Art und Weise, wie Malaria behandelt wird, als auch den Ansatz zur Entwicklung neuer Medikamente.
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4966551/
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7027749/
- https://www.theguardian.com/science/2015/oct/05/youyou-tu-how-maos-challenge-to-malaria-pioneer-led-to-nobel-prize
- https://www.ibsafoundation.org/en/blog/tu-youyou-the-nobel-prize-for-her-work-on-malaria
- https://www.jcvi.org/blog/women%E2%80%99s-history-month-tu-youyou