9. Mai 2025medonline Medizingeschichte #48

Anandi Gopal Joshi – Indiens erste Ärztin

Wie die zutiefst konservativen Institutionen des britischen Empire ihren Teil dazu beitrugen, Indiens erste Ärztin auszubilden.

Ein Porträtfoto von Dr. Anandi Gopal Joshi, M.D., Abschlussjahrgang 1886 des Women’s Medical College of Pennsylvania.
Foto: Public Domain/wikimedia

Porträtfoto von Dr. Anandi Gopal Joshi, M.D., Abschlussjahrgang 1886 des Women’s Medical College of Pennsylvania.

Anandi Gopal Joshi wird 1865 in Kalyan im heutigen Bundesstaat Maharashtra in eine Brahmanenfamilie geboren. Ihr Geburtsname lautet Yamuna. Brahmanen sind die oberste Kaste in der hinduistischen Ordnung. Ihr Vorrecht ist es, Priester, Gelehrte und Lehrer zu stellen. Ihre Familie pflegt diese intellektuellen Traditionen, steht aber gleichzeitig unter zunehmendem wirtschaftlichen Druck. Yamunas Vater, Gunputrao Joshi, erkennt schon früh die geistigen Fähigkeiten seiner Tochter.

Entgegen den gesellschaftlichen Konventionen ermöglicht er ihr Bildung – ein außergewöhnlicher Schritt, denn zu dieser Zeit wird Mädchenbildung in Britisch-Indien so gut wie nie gefördert und oft aktiv verhindert.

Yamuna Joshis progressives Aufwachsen unter restriktiven Bedingungen

Die sozialen Bedingungen im Indien des 19. Jahrhunderts sind für Frauen in vielerlei Hinsicht entmenschlichend. Die Praxis des Sati – die Selbstverbrennung von Witwen auf dem Scheiterhaufen des verstorbenen Ehemanns – ist noch nicht vollständig abgeschafft. Kinderehen sind weit verbreitet; Mädchen werden oft im Alter von acht oder neun Jahren verheiratet. Frauen dürfen keine Schulen besuchen, keine religiösen Rituale durchführen und genießen nahezu keine Rechte in der Judikatur des britisch kontrollierten Subkontinents. Bildung wird in der Regel als Gefährdung ihrer Tugendhaftigkeit verstanden.

Mit neun Jahren wird Yamuna mit dem fast 20 Jahre älteren Witwer Gopalrao Joshi verheiratet, einem Postbeamten. Als Teil der Eheschließung wird ihr Name in Anandi geändert. Im Vergleich mit dem überwiegenden Großteil der indischen Männer ist Gopalrao reformorientiert und progressiv in seinen Ansichten. Im Zuge der Vereinbarungen zur Eheschließung stellt er gegenüber Yamunas Eltern die Bedingung, seiner zukünftigen Ehefrau eine Ausbildung zukommen lassen zu dürfen. Weil Gopalrao von Berufs wegen oft umsiedeln muss, ist es Anandi nicht möglich, in einer Bildungsinstitution anzukommen und sich auf ihre Studien zu konzentrieren. Hinzu kommt, dass verschiedene Schulen an verschiedenen Orten weibliche Bewerber mit unterschiedlichen vorgeschobenen Argumenten ablehnen, was die Situation nicht einfacher macht. Gopalrao ist aber unermüdlich in seinem Ansinnen. Verschiedene Quellen berichten davon, dass er Anandi mangels institutioneller Angebote immer wieder auch selbst unterrichtet.

Trotz seiner fortschrittlichen Ansichten birgt Anandi Gopal Joshis Gatte auch gravierenden charakterliche Defizite. Seine großen Ambitionen resultieren in extrem hohen Ansprüchen an die junge Frau. Werden diese nicht erfüllt, sieht sich Anandi mitunter seinem Zorn, seinem Spott und gelegentlich auch physischen Angriffen ausgesetzt. In späteren Jahren äußert sich Gopal Joshi in einer Korrespondenz ihrem Ehemann gegenüber folgendermaßen zu dem Sachverhalt:

It is very difficult to decide whether your treatment of me was good or bad. If you ask me, I would answer that it was both. It seems to have been right in the view of its ultimate goal; but in all fairness, one is compelled to admit that it was wrong. It was too severe for the age, body and mind.

Mit 14 Jahren bringt Anandi Gopal Joshi einen Sohn zur Welt. Das Kind stirbt nur zehn Tage nach der Geburt – es gibt keinen Arzt, keine Hebamme, keine medizinische Hilfe. Dieses persönliche Trauma markiert einen Wendepunkt: Gopal Joshi beschließt, Ärztin zu werden, um anderen Frauen die medizinische Versorgung zu bieten, die ihr selbst verwehrt bleibt. Es ist ein Entschluss, der ihr gesamtes Leben prägen wird.

Anandi Joshis Aufbruch in eine neue Welt

In Indien gibt es zu dieser Zeit keinerlei Möglichkeit für Frauen, Medizin zu studieren. Weder Universitäten noch Kliniken nehmen Studentinnen auf. Der Weg zur medizinischen Ausbildung führt also zwangsläufig ins Ausland. Gopalrao Joshi schreibt im Jahr 1880 einen Brief an einen amerikanischen Missionar und erklärt darin den Wunsch seiner Frau, Medizinerin zu werden. Dieser stellt in Aussicht, Gopal Joshi in ihren Bestrebungen zu unterstützen, fordert aber, dass das Ehepaar dafür zum Christentum konvertiert. Als die Joshis ablehnen, veröffentlicht er ihren Brief aber trotzdem in einer Missionszeitschrift. So erreicht das Schreiben eine Frau namens Theodicia Carpenter in New Jersey. Die kinderlose Amerikanerin ist fasziniert von Anandi Gopal Joshis Mut und ihrer Vision. Sie beginnt eine intensive Brieffreundschaft mit ihr und bietet schließlich an, sie in den USA aufzunehmen.

1883 reist Anandi im Alter von nur 18 Jahren allein nach Amerika – unerhört für eine indische Frau jener Zeit. Der Vizekönig von Indien, George Frederick Samuel Robinson, Politiker der Liberal Party und 1st Marquess of Ripon, steuert 200 Rupien für ihre Ausbildung bei. Auf der Reise von Kalkutta (heute Kolkata) nach New York wird sie von zwei englischen Frauen begleitet – Bekannten des amerikanischen Ärzte-Ehepaares Thorborn, das Anandi in ihrem Ansinnen und bei ihrer Bewerbung am renommierten Women's Medical College of Pennsylvania (der heutigen Drexel University) unterstützt.

In ihrer Bewerbung beschreibt Gopal Joshi eindrücklich die Notwendigkeit von weiblichen Ärzten in Britisch-Indien. Mit ihrem Studium will sie nicht nur Leben retten, sondern auch den Beweis antreten, dass die Frauen Indiens für mehr und größere Rollen geschaffen sind, als ihnen das indische Patriachat zugestehen will. Dem Women’s Medical College teilt sie im Rahmen ihrer Bewebung mit:

The purpose for which I came is to render to my poor suffering country-women, the true medical aid they sadly stand in need of and which they would rather die than accept at the hands of a male physician. My soul is moved to help the many who cannot help themselves.

Ihre Gesundheit ist zu dieser Zeit bereits angeschlagen; die lange, beschwerliche Reise und das ungewohnte Klima in den USA setzen ihr zu. Dennoch verfolgt sie ihr Ziel mit Entschlossenheit und wird am College aufgenommen – einem der wenigen Orte weltweit, an denen Frauen zu dieser Zeit Medizin studieren können.

Anandi Joshi, Okami Kei und Sabat Islambouli am Women Medical College of Pennsylvania, 1885.
Foto: Public Domain/wikimedia

Anandi Joshi, Okami Kei und Sabat Islambouli am Women Medical College of Pennsylvania, 1885

Während des Studiums lebt Anandi Gopal Joshi bei Theodicia Carpenter, die zu einer Art Ersatzmutter für sie wird. Sie ist nicht die einzige Frau am College, die nicht aus dem Okzident kommt – gemeinsam mit ihr studieren auch Okami Kei aus Japan und Sabat Islambooly aus Syrien. Gemeinsam bilden sie eine der ersten Gruppen nicht-westlicher Frauen in der Medizingeschichte. Der Austausch mit diesen Frauen stärkt sie, auch wenn das Studium eine große Herausforderung bleibt. Auch gesundheitlich geht es ihr nicht gut, sie verliert Gewicht und wird schwächer.

Trotzdem schließt sie ihr Studium 1886 erfolgreich ab. Ihre Abschlussarbeit über Geburtshilfe in der arischen Tradition verbindet westliche Medizin mit dem ayurvedischen Wissen Indiens – ein Brückenschlag zwischen den Kulturen. Selbst Königin Victoria wird auf Anandi Gopal Joshi aufmerksam und würdigt ihren Erfolg mit einem persönlichen Glückwunsch-Schreiben.

Rückkehr nach Indien und früher Tod

Nach ihrem Abschluss kehrt Anandi nach Indien zurück, wo sie feierlich empfangen und von offizieller wie von gesellschaftlicher Seite geehrt wird. Sie erhält eine Stelle als Leiterin der gynäkologischen Abteilung am Albert Edward Hospital in Kolhapur und beginnt dort, andere Frauen in Medizin auszubilden. Doch ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Während ihres Aufenthalts in den USA hat sie sich Tuberkulose zugezogen und auch das kalte Klima im Nordosten des Landes wie die lokale Diät waren ihrem allgemeinen gesundheitlichen Zustand nicht zuträglich.

Anandi Gopal Joshi stirbt am 26. Februar 1887 – mit nur 21 Jahren. Sie hinterlässt keinen medizinischen Apparat, keine eigene Klinik, keine Bücher. Was sie hinterlässt, ist ein noch viel wichtigeres Vermächtnis: ein Beispiel für all jene Frauen in Indien und auf der ganzen Welt, die sich mit ihren restriktiv gedachten Rollen in den Gesellschaften dieser Zeit nicht abfinden wollten.

Posthum wird Dr. Anandi Gopal Joshi zu einer Ikone des indischen Feminismus. Ihr Leben wird literarisch, in Filmen und Theaterstücken aufgearbeitet. Schulen, Universitäten, Medizinpreise und Fellowships tragen ihren Namen. Als Zeugnis der tiefen freundschaftlichen Bande zwischen Joshi und Theodicia Carpenter kann geltend gemacht werden, dass Carpenter nach Joshis Tod deren Asche zugesprochen bekommen hat und sie auf ihrem Familien-Friedhof, dem Poughkeepsie Rural Cemetery, beisetzen ließ. Auf ihrem Grabstein steht zu lesen:

First Brahmin woman to leave India to obtain an education.