3. Nov. 2023medonline Medizingeschichte #9

Rahel Hirsch – die erste Professorin Preußens

Rahel Hirsch wird im September 1870 als sechstes von elf Kindern von Mendel und Dorothea Hirsch in Frankfurt am Main geboren.

Library of Congress/Prints & Photographs Division/LC-B2-1234

Ihr Vater ist Direktor der dortigen Realschule und Höheren Töchterschule der Israelitischen Kultusgemeinde. Rahel wird eine für die damalige Zeit fortschrittliche Erziehung zuteil. Sie besucht die Schule ihres Vaters, wo sie 1885 das Abitur ablegt. Anschließend studiert sie Pädagogik und ist bis 1898 als Lehrerin tätig.

Studium im Ausland

1899 beginnt Rahel ein Medizinstudium in Zürich. Im Deutschen Reich ist das Frauen noch nicht erlaubt. Nachdem von Frauen im Ausland begonnene Studien in Deutschland zumindest fortgesetzt werden dürfen, wechselt sie nach Leipzig und dann nach Straßburg. 1903 erlangt sie mit einer Arbeit zur Glykose den Doktortitel in Medizin.

Als Hirsch in der Folge von Direktor Friedrich Kraus als Assistenzärztin für die II. Medizinische Klinik der Berliner Universität in der Charité engagiert wird, ist sie nach Helenefriederike Stelzner die erst zweite angestellte Ärztin dort.

Pionierarbeit an der Charité

1906 kann sie im Rahmen ihrer Forschung an der Charité nachweisen, dass „Stärkekörner“, großkorpuskuläre Partikel aus mehreren Einfachzuckern, durch die Schleimhaut des Dünndarms ins Blut eintreten und über den Harn ausgeschieden werden können. Nach der geltenden Lehrmeinung sind aber nur deutlich kleinere Partikel im Darm resorbierbar und so wird Hirschs Entdeckung von ihrer männlichen Kollegenschaft nicht ernst genommen. Obwohl ihre Versuche schon 1911 von dritter Seite bestätigt werden, wird ihr erst 1957, nach einer erneuten experimentellen Wiederholung und Bestätigung des Sachverhalts, posthum die ihr zustehende Anerkennung zuteil.

Abgesehen davon forscht Hirsch auf weiteren Gebieten der (Patho-)Physiologie, darunter dem Fieber- und Wärmehaushalt, der endokrinen Sekretion und der Nierenphysiologie. Sie veröffentlicht mehr als 30 wissenschaftliche Arbeiten und verfasst ein „Therapeutisches Taschenbuch der Elektro- und Strahlentherapie“ sowie Beiträge zu Handbüchern zur Biochemie bzw. „Speziellen Pathologie und Therapie innerer Krankheiten“.

Preußische Professorin

1908 überträgt Kraus Hirsch die Leitung der Poliklinik der II. Medizinischen Klinik der Charité. Obwohl Frauen sich noch bis 1920 nicht habilitieren können, wird ihr für ihre wissenschaftlichen Leistungen als erster Frau in Preußen der Professorentitel verliehen. Nachdem ihr die Leitung der Poliklinik 1918 zugunsten eines jüngeren männlichen Kandidaten entzogen wird, beendet Hirsch ihre Tätigkeit an der Charité und lässt sich in eigener internistischer Praxis in Berlin-Charlottenburg nieder. Dort widmet sie sich Themen der Frauengesundheit, schafft moderne Röntgengeräte an und nutzt die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Strahlenmedizin.

Flucht und Vertreibung

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wird Hirsch im April 1933 ihre Kassenzulassung entzogen. Ein Jahr später folgt die Berechtigung, privat versicherte Patientinnen und Patienten zu behandeln. Im September 1938 wird ihr schließlich ihre Approbation aberkannt, was sie zur Flucht aus Nazideutschland bewegt.

68-jährig in London angekommen, verzichtet sie angesichts erneuter Examina darauf, sich noch einmal zu approbieren, und arbeitet als Laborassistentin und als Übersetzerin. In finanzieller Bedrängnis ist sie auf die Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen. Von ihrer Exilsituation emotional schwer belastet, erkrankt sie psychisch und muss wiederholt stationär behandelt werden. Im Oktober 1953 stirbt sie im Alter von 83 Jahren unverheiratet und kinderlos in einem „Mental House“ am Stadtrand von London.

Seit der Mitte der 1990er-Jahre erinnern Berlin und die Charité mit einer Büste, einer nach ihr benannten Straße, einem Habilitationsstipendium und einer Gedenktafel an Rahel Hirsch.