24. Nov. 2023Wissenschaftskompetenz im Medizinstudium

AWMF: „Wissenschaftlichkeit“ künftig wichtiger als Faktenwissen

Studien lesen, neue Therapien kennen, selbst forschen – wissenschaftliches Denken und Handeln sind unerlässlich für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung, so der Tenor auf dem „Berliner Forum“ der AWMF. In der Praxis hapert es aber. Was sich daher schon im Studium ändern sollte.

Speaker giving a talk on scientific conference. Audience at the conference hall. Business and Entrepreneurship concept.
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Medizinstudent Christian Baxmann würde sich „vom 1. Semester an“ wissenschaftliche Grundlagen wünschen. Derzeit sei es „relativ wenig“, in der Vorklinik nur ein bisschen Methodik, diese aber auch z.B. aus Psychologie oder Soziologie, berichtet der Bundeskoordinator für Medizinische Ausbildung, Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd), anlässlich des interdisziplinären Berliner Forums am 17.11.2023.

Dieses Forum wird jährlich von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) veranstaltet. Heuer stand die Vermittlung von Wissenschaftskompetenz in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten im Fokus. Dank Internet und auch künstlicher Intelligenz könne heute zwar jeder schnell und gründlich recherchieren, skizziert die AWMF die Ausgangslage.

„Wissen nie perfekt“, trotzdem Entscheidungen nötig

Aber um das Wissen auch einzuordnen, zu bewerten, Quellen nachzuprüfen, brauche es eine hohe Wissenschaftskompetenz. Wissenschaftliche Inhalte seien nämlich „nicht in Stein gemeißelt“, spricht Prof. Dr. med. Rolf-Detlef Treede, Präsident der AWMF, die „Ambiguitätstoleranz“ – das Aushalten von Widersprüchlichkeiten – an.

„Nicht nur an Universitätsklinika, sondern gerade auch in landärztlichen Praxen müssen die dort Tätigen in der Lage sein, den aktuellen Stand der Wissenschaft zur Lösung der Probleme ihrer Patientinnen und Patienten aus Leitlinien, Übersichtsartikeln und klinischen Studien selbstständig zu ermitteln und anzuwenden“, unterstreicht Treede. In Zukunft komme es mehr auf die „Fähigkeit zur Ausübung der evidenzbasierten Medizin“ an als auf das im Studium erworbene Faktenwissen.

„Missstand“ im Vergleich zu anderen Fächern

Medizinische Fakultäten gehörten vielfach zu den Gründungsmitgliedern europäischer Universitäten, erinnert der AWMF-Präsident. Dennoch komme der Erwerb von wissenschaftlichen Fertigkeiten im Medizinstudium nicht vor – im Gegensatz zu anderen Fächern wie Biologie oder Psychologie. Seit 2008 kritisiere die AWMF diesen „Missstand“ und fordere die verbindliche Verankerung der Vermittlung der wissenschaftlichen Methoden der Medizin in der Approbationsordnung.

Derzeit liegt ein Referentenentwurf für eine neue Approbationsordnung vor. Dieser übernahm Treede zufolge das von der AWMF geforderte Ausbildungsziel zur Arztrolle als „Scholar“ – als Lernende und Lehrende.

Best Practice in Heidelberg

Einige Fakultäten hätten diesen Aspekt ärztlicher Qualifikation schon jetzt in ihren Lehrplan eingearbeitet. Als Best-Practice-Beispiel nennt Treede die Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Wie es dazu kam, schildert Dr. Dipl.-Psych. Julia Eckel, Referentin für „Wissenschaftlichkeit im Medizinstudium“ im Geschäftsbereich Studium und Lehrentwicklung, Universität Mannheim (UMM), Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.

Studienbefunde würden darauf hindeuten, „dass frühe Forschungserfahrungen im Studium das Interesse am wissenschaftlichen Arbeiten positiv beeinflussen können“, erläutert Eckel den Hintergrund. Daher beschloss die Medizinische Fakultät Mannheim, im Modellstudiengang MaReCuM (Mannheimer Reformierten Curriculum für Medizin) einen obligatorischen Leistungsnachweis „Wissenschaftliches Arbeiten“ zu implementieren.

Dieser ist seit dem Wintersemester 2015/16 zu erbringen. Zu den Veranstaltungen zählen Literaturrecherche, evidenzbasierte Medizin, gute wissenschaftliche Praxis, kritische Beurteilung von Evidenz und wissenschaftliches Schreiben. Zudem runden u.a. Laborpraktika, Veranstaltungen zur Versuchsplanung, Biomathematik und Epidemiologie das Curriculum ab. Der Studiengang schließt mit einer Forschungsarbeit ab – als eigene wissenschaftliche Leistung der Studierenden.

Fast zwei Drittel motiviert für Doktorarbeit

Evaluationen des Leistungsnachweises „Wissenschaftliches Arbeiten“ zeigen den Erfolg: Mittlerweile lägen bereits 1.233 Forschungsarbeiten vor, an denen rund 110 Kliniken, Institute und Einrichtungen beteiligt waren, berichtet Eckel. Und: „Fast zwei Drittel der Studierenden sind motiviert, ihre wissenschaftliche Arbeit im Rahmen einer Doktorarbeit zu vertiefen.“

Dass es auch nach dem Studium Bedarf in Sachen Wissenschaftskompetenz gibt, zeigt Prof. Dr. med. Erika Baum, Vorsitzende der Ständigen Kommission Qualitätsentwicklung in Forschung und Lehre der AWMF, auf. „Wissenschaftliche Kompetenz wird bei der Neujustierung von Weiter- und Fortbildung eine zentrale Rolle spielen müssen – und zwar für alle Fächer“, resümiert Baum. AWMF-Präsident Treede ergänzt: „Ich denke, wissenschaftliches Denken und Handeln sind einfach eine Schlüsselqualifikation für alle ärztlichen Tätigkeiten, in Forschung und Praxis.“ Da habe man Nachholbedarf.

Ähnlich formuliert es Eckel von der UMM, Heidelberg: „Gute Ärztinnen und Ärzte zeichnen sich nicht nur durch ein umfangreiches Fachwissen aus, sondern auch dadurch, dass sie systematisch, kritisch, wissenschaftlich denken und arbeiten.“ Und da sei es essenziell, bereits im Medizinstudium wissenschaftliche Kompetenzen zu vermitteln, „auch im Rahmen der Promotionen, die qualifiziert sein sollten und zu einem Erkenntnisgewinn führen sollten“.

Die Studierenden wünschen sich nicht nur mehr Wissenschaftlichkeit, sondern auch „mehr Einheitlichkeit zwischen den verschiedenen Standorten“, sagt Baumann, „und auch die Möglichkeit, über die curricularen Aspekte hinaus Wissenschaftlichkeit zu praktizieren, und dabei begrüßen wir die aktuellen Änderungen und freuen uns, da mitzuwirken und mitzugestalten“.