2. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Das weite Land von Palliative Care

Den Anfang in der qualifizierten Ausbildung und standesrechtlichen Anerkennung von Palliativmedizin machte Großbritannien bereits 1987. Es brauchte 30 Jahre, bis in Österreich eine Spezialisierung in Palliativmedizin eingeführt werden konnte. (Medical Tribune 26/18)

Seit der Spezialisierungsverordnung1 2017 gibt es endlich auch in Österreich die Spezialisierung in Palliativmedizin. Palliativmedizin ist mittlerweile in mehr als einem Drittel der europäischen Länder medizinisches Spezialfach, wobei es in vier Ländern (Großbritannien, Irland, Polen und Malta) ein eigenständiges Fach ist, in den übrigen eine Spezialisierung. Den Anfang in der qualifizierten Ausbildung und standesrechtlichen Anerkennung von Palliativmedizin machte Großbritannien 1987, also bereits vor mehr als 30 Jahren! Zum weiteren Vergleich drei andere Staaten mit hoch entwickelten Gesundheitssystemen und Spezialisierung: in Australien seit 2004, in den USA seit 2006 und in Kanada seit 2014. Als Standardwerk liegt von der European Association of Palliative Care (EAPC) der umfassende Überblick „Specialisation in Palliative Medicine for Physicians in Europe 2014“ vor, dies als Supplement zum „EAPC Atlas of Palliative Care in Europe“2.

Entwicklung von Palliative Care

Im Jahr 1967 wird in London das St. Christopher’s Hospice eröffnet, was allgemein als Geburtsstunde der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin gilt. Wie Stolberg in seinem überaus lesenswerten Buch „Die Geschichte der Palliativmedizin“3 aber schreibt, stimmt dies nur bedingt. Die ältesten bekannten Texte, in welchen der Begriff „palliativ“ verwendet wird, stammen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. „Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert, …, hielten Begriffe wie Palliatio und Cura palliativa immer mehr Einzug in die gewöhnliche medizinische Fachsprache.“4 In Österreich kann man den Beginn mit den 1980er Jahren datieren. Als erster professioneller Palliativdienst ist das Palliativteam des Mobilen Caritas Hospizes zu nennen, das seine mobile Tätigkeit 1989 aufnahm.

Bereits im Jahr 2004 wurde mit dem österreichischen System der „Abgestuften Hospiz- und Palliativversorgung“ beschrieben, dass nur die Inklusion von Palliative Care ins gesamte Gesundheits- und Sozialsystem langfristig den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden kann. So sehr die betreuenden Dienste für komplexe Fragestellungen nötig sind, so sehr wird palliative Kompetenz auch in den Strukturen der Grundversorgung benötigt.

Die erste stationäre Palliativeinrichtung in Österreich ist die Palliativstation „St. Raphael Hospiz“ im Krankenhaus Göttlichen Heiland in Wien seit 1992. Die erste österreichische Palliativstation außerhalb von Wien eröffnete 1998 im Krankenhaus Ried im Innkreis. Dachte man zu Beginn der Entwicklung noch sehr in „Bettenzahlen“, wurde schnell klar, dass die Qualität der Palliativversorgung eines Landes davon nur in geringem Maß abhängt, vielmehr geht es um die Durchdringung des Gesundheits- und Sozialsystems und um die Integration der Kompetenzen von Palliative Care in die professionelle Landschaft. Deshalb gibt es seit 2004 in Österreich den auch international viel beachteten Plan der „Abgestuften Hospizund Palliativversorgung“.5

Meilensteine: Dachverband, Lehrgänge und OPG

1993 wird der Dachverband Hospiz Österreich gegründet. Wesentlich daran beteiligt war Sr. Mag.a Hildegard Teuschl CS (1937–2009), welche seit den späten 1970er Jahren das Thema in Österreich vorangetrieben hat, die ersten Kurse für Sterbebegleitung organisiert und 1988 die ersten Lehrgänge für Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung angeboten hat. Daraus ging 1998 der erste Österreichische Interdisziplinäre Palliativlehrgang hervor, der seither fortgeführt wird. Hospiz Österreich ist nach wie vor Plattform der institutionellen Hospizdienste und Palliativeinrichtungen. 1999 wird die „Österreichische Palliativgesellschaft (OPG)“ als wissenschaftliche Fachgesellschaft gegründet. Das Besondere an dieser Fachgesellschaft ist, dass entsprechend der gelebten interprofessionellen Teamarbeit in Palliative Care auch die Fachgesellschaft interprofessionell zugänglich und organisiert ist. Sie übt damit eine Modell- und Vorbildfunktion für andere Fachgesellschaften aus, da erst durch gute Qualität der Teamarbeit bestmöglicher Nutzen für PatientInnen entsteht!

Harald Retschitzegger war von 2014 bis 2018 Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG).

1996 hat sich mit der European Association of Palliative Care (EAPC) die übergeordnete europäische Fachgesellschaft gegründet, die regelmäßig internationale Palliativkongresse organisiert und überregionale Forschungsprojekte betreibt. Seit 1999 bietet die OPG Diplom-Palliativlehrgänge für ÄrztInnen an. Mit dem Ärztekammer-Diplom „Palliativmedizin“ gibt es seit vielen Jahren gute basale Voraussetzungen für eine Grundkompetenz in Palliative Care. Darüber hinaus stehen mit Masterlehrgängen und dem akademischen Abschluss (MAS oder MSc) akademische Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung. Seit 2004 werden von der OPG regelmäßig große Österreichische Interprofessionelle Palliativkongresse veranstaltet. Der 6. und bisher letzte OPG-Palliativkongress in Bregenz 2017 war mit „Kontroversen in Palliative Care“ und mehr als 1.200 TeilnehmerInnen der bestbesuchte – auch das ein Zeichen für das ständig wachsende Interesse an der Thematik.

Im März 2019 wird der 7. Österreichische Interprofessionelle Palliativkongress in Innsbruck stattfinden mit dem Thema „Palliative Care – Wege in die Zukunft“. Neben den praktischen Tätigkeiten sind Forschung und Publikationstätigkeit im Bereich der Palliativmedizin wichtig. Zwei bedeutsame aktuelle palliativmedizinische Publikationen seien hier wegen ihrer praktischen Relevanz angeführt. Die Leitlinie zur Palliativen Sedierungstherapie von Weixler et al.6 und die Stellungnahme der OPG zum Thema „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“7. Für eine gute Entwicklung von Palliative Care in Österreich braucht es natürlich auch politische Entwicklungen, welche die Ziele qualitativ hochwertiger Palliativbetreuung unterstützen. Bereits 2001 gab es eine parlamentarische Enquete zum Thema Ausbau der Palliativarbeit – statt der Freigabe von Euthanasie! Anlass war damals die gesetzliche Regelung in den Niederlanden, die in diesem Jahr Tötung auf Verlangen gesetzlich ermöglichten – wogegen die österreichischen PalliativexpertInnen seither eine überzeugte gemeinsame Gegenposition einnehmen! Von 2014 bis 2015 fand eine weitere große parlamentarische Enquete mit dem Titel „Sterben in Würde“ statt, bei der 54 Punkte beschlossen wurden, die die weitere Entwicklung und auch endlich die Regelfinanzierung der Palliativ- und Hospizarbeit in Österreich vorantreiben sollen.

Wo stehen wir und wie geht es weiter?

Derzeit gibt es in Österreich ungefähr 330 spezialisierte mobile und stationäre Hospiz- und Palliativdienste, davon 41 Palliativstationen, 56 Mobile Palliativteams und 49 Palliativkonsiliardienste. Seit 2005 gibt es den ersten österreichischen Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Medizinischen Universität Wien, den Univ.-Prof. Dr. Herbert Watzke seither innehat. 2014 wurde an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg eine Stiftungsprofessur für Versorgungsforschung in Palliative Care gegründet (Univ.-Prof. Dr. Stefan Lorenzl). Abgesehen davon brauchen wir an allen Medizinischen Universitäten in Österreich einen Lehrstuhl für Palliativmedizin oder Palliative Care, damit der Grundstein sowohl für breite als auch spezifische palliative Kompetenz gelegt werden und diesbezügliche qualifizierte Lehre und Forschung stattfinden kann.

„Early Integration“ von Palliative Care

Große Bedeutung für die Zukunft hat erwiesenermaßen „Early Integration“ von Palliative Care. Palliative Care ist nicht nur Betreuung in den letzten Lebenstagen, sondern umfassende Kompetenz für Menschen für fortgeschrittene Krankheitsphasen – auch über lange Zeit! Palliativmedizin muss inkludierter Bestandteil unseres medizinischen Denkens und Handelns sein und beginnt mit der Diagnosestellung einer nicht heilbaren Erkrankung. Nach wie vor nicht zufriedenstellend gelöst ist bislang die Finanzierung aller Bausteine der abgestuften Hospiz- und Palliativversorgung. Auch wenn die Finanzierung von Palliativstationen im Rahmen der Krankenhausfinanzierungslogik geklärt ist, sind die anderen Elemente einer qualitativ hochwertigen Palliativversorgung wie mobile Hospizund Palliativteams, Palliativkonsiliardienste, Tageshospize und auch Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung von Kindern und Jugendlichen noch nicht klar regelfinanziert.

Sonderstellung der Palliativen Geriatrie

Eine Sonderstellung im Zukunftsaspekt von Palliative Care nimmt die Palliative Geriatrie ein. Alleine schon aus epidemiologischen Gründen steigt der Bedarf von palliativen Kompetenzen in der Geriatrie ständig an. In diesem Zusammenhang bedeutsam ist auch eine korrekte Sprachregelung: Eine Patientin ist nicht palliativ – sondern Menschen in der Geriatrie haben ein unterschiedliches Maß an palliativem Bedarf! Auch die stets zunehmende Zahl an Menschen mit Demenzerkrankungen ist eine bleibende Herausforderung für die Inklusion von Palliativer Geriatrie ins Gesundheits- und Sozialsystem. Der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler schrieb: „Die Seele ist ein weites Land.“ Das weite Land von Palliative Care braucht höchste Kompetenz – und umfassende bestmögliche Kooperation! Und wir dürfen nicht vergessen: Am Ende werden wir selbst den Nutzen haben!

Referenzen:
1 http://www.aerztekammer.at/spezialisierungen
2 Bolognesi D, Centeno C, Biasco G. Specialisation in Palliative Medicine for Physicians in Europe 2014. A Supplement of the EAPC Atlas of Palliative Care in Europe. Milan: EAPC Press; 2014
3 Michael Stolberg. Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Mabuse-Verlag, Frankfur t am Main 2011
4 ebd. S.31
5 Nemeth C, Rottenhofer I. Abgestufte Hospizund Palliativversorgung in Österreich. ÖBIG, 2004. (www.bmg.gv.at)
6 Leitlinie zur Palliativen Sedierungstherapie. Ergebnisse eines Delphiprozesses der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG). Weixler D, Roider-Schur S, Likar R et al., Wien Med Wochenschr (2017) 167: 31. https://doi.org/10.1007/s10354-016-0533-3
7 Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, um das Sterben zu beschleunigen. Eine Stellungnahme der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG). Feichtner A , Weixler D & Birklbauer A . Wien Med Wochenschr (2018). https://doi.org/10.1007/s10354-018-0629-z

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune