„Haben 2008 Turnaround geschafft“

Dr. Herwig Ostermann, Gesundheitsökonom und Chef der Gesundheit Österreich GmbH, sieht Österreich auf einem guten Weg – auch, was die Spitalshäufigkeit betrifft, die seit zehn Jahren sinke. (Medical Tribune 12/18)

In internationalen Vergleichsstudien schneidet das österreichische Gesundheitswesen insgesamt recht gut ab, es gibt aber Schwachstellen. Eine ist die stagnierende Zahl an Vertragsärzten und die zunehmende Anzahl an Wahlärzten. Droht eine Zweiklassenmedizin und ist das Solidarprinzip gefährdet?

Ostermann relativiert die scheinbar geringen Ausgaben für Prävention.
Ostermann relativiert die scheinbar geringen Ausgaben für Prävention.

Dr. Herwig Ostermann: Eine rein zahlenmäßige Betrachtung ergibt hier ein zu wenig differenziertes Bild. Internationale Vergleiche zeigen, dass wir eine hohe Zahl an versorgungsrelevanten Ärztinnen und Ärzten haben. Wir beobachten gleichzeitig eine konstante Steigerung der Produktivität im Sinne von erbrachten Leistungen. Die zentrale Frage ist aus meiner Sicht eher, ob die Verteilung adäquat ist, sowohl regional ,aber auch zwischen Allgemeinmedizinern und Fachärzten sowie bei der Abstimmung zwischen niedergelassenen Ärzten und den Spitalsambulanzen. Hinsichtlich der Zahl der Wahlärzte ist zwischen jenen zu unterscheiden, die sich neben ihrer angestellten Tätigkeit in einer Krankenanstalt entschieden haben, für ein paar Stunden eine Wahlarztordination zu betreiben, und jenen, die das hauptberuflich machen und damit auch zur Versorgungswirksamkeit des Gesamtsystems beitragen. Gerade erstere Gruppe hat in den letzten Jahren eine große Dynamik erfahren. Die Entwicklung in eine differenzierte Versorgungslandschaft ist daher eher eine gefühlte als eine empirisch belegbare: So hat Österreich nach wie vor bei der Frage nach unerfüllten Behandlungswünschen – auch differenziert nach Einkommensgruppen – einen der niedrigsten Werte innerhalb der EU. Insbesondere bei der (spitzen-) medizinischen Versorgung, zum Beispiel nach schweren Unfällen oder bei Krebserkrankungen, zeichnet sich unser System durch eine hohe Dichte und Niederschwelligkeit aus.

Sie sprachen die Abstimmung zwischen niedergelassenen Ärzten und Spitalsambulanzen an – eigentlich müsste man sagen, die mangelnde Abstimmung. Ist die freie Arztwahl überhaupt sinnvoll und wer soll die Patientenströme steuern?

Ostermann: Aus historischen Gründen haben wir eine hohe Zahl an Krankenanstalten und Betten. Lange Zeit hat unser Finanzierungssystem Anreize geboten, auch Fälle stationär zu behandeln, die man ambulant behandeln hätte können. Mittlerweile wurde diese Schwäche erkannt und teilweise bereits behoben, wie etwa durch eine bessere Dotierung tagesklinischer Leistungen und den ambulanten Leistungskatalog. Seit 2008 haben wir den Turnaround geschafft und können ein Absinken der Spitalshäufigkeit beobachten. Aufgrund des sehr komplexen Systems mit hohen Überschneidungen zwischen den Versorgungsbereichen – insbesondere zwischen Allgemeinmedizin und Fachversorgung, aber auch Fachärzten und Spitalsambulanzen – erscheint mir eine A-priori- Steuerung durch die Einschränkung der freien Arztwahl wenig sinnvoll. Vielmehr sollten wir mehr daran setzen, die Patientinnen und Patienten an die richtige Stelle zu leiten. Zugegebenermaßen ist diese Aufgabe auch für Expertinnen und Experten nicht immer einfach. Mittelfristig müssen wir niederschwellige Versorgungsangebote entwickeln, die die Patienten von sich aus in Anspruch nehmen wollen. Genau in diese Richtung stoßen die Primärversorgungseinheiten, insbesondere als Zentren in größeren Städten, vor. Eine erste Evaluierung aus Wien zeigt hier tatsächlich bereits spitalsambulanzentlastende Effekte.

Was können die teilweise als Allheilmittel forcierten Primärversorgungseinheiten wirklich leisten?

Ostermann: In der Tat viel: Primärversorgungseinheiten bieten eine niederschwellige Versorgung mit einem breiten Leistungsspektrum und kundenfreundlichen Öffnungszeiten. Für das Gesundheitspersonal schaffen sie attraktive Arbeitsmöglichkeiten, da vielfältige Beschäftigungsformen – von der Selbstständigkeit in Kooperation bis hin zur Angestelltentätigkeit – sowie unterschiedliche Arbeitszeitmodelle möglich sind. Für junge Ärztinnen und Ärzte bieten diese zudem die Möglichkeit, in die niedergelassene Praxis zu gehen, ohne gleich das gesamte wirtschaftliche Risiko tragen zu müssen.

Wie sehen Sie die Rolle des Hausarztes in der Zukunft?

Ostermann: Folgt man dem Bild einer niederschwelligen allgemeinmedizinischen Versorgung – international bezeichnet man dies übrigens als „primary care“ oder Primärversorgung –, so nimmt die Hausarzt-Praxis als Zentrum der Vernetzung eine wesentliche Rolle an. Die Grundidee ist ja, dass die Allgemeinpraxis als erste Versorgungsebene den zentralen Ausgangspunkt bildet. Wir werden hier in Zukunft eine Vielfalt erleben: niedergelassene Hausärzte in loseren und engeren bzw. weniger oder mehr formalisierten Netzwerken oder in Gemeinschafts- und Gruppenpraxen bis hin zu Primärversorgungszentren.

Als Schwäche unseres Systems werden hohe Kosten (Ausgaben pro Kopf weit über EU-Schnitt) und komplexe Strukturen ausgemacht. Ist unser System tatsächlich zu teuer und ineffizient?

Ostermann: Zunächst einmal sind hohe Gesundheitsausgaben pro Kopf weder gut noch schlecht. Ganz im Gegenteil: Ich sehe Österreich lieber in der Vergleichsgruppe mit jenen wohlhabenden Ländern, die auch ein hochentwickeltes Gesundheitssystem aufweisen, als mit den neuen EU-Mitgliedsstaaten, die noch einen Systemaufbau vor sich haben und aufgrund des geringeren Volkseinkommens viel weniger für Gesundheit ausgeben können. Die Frage ist wohl eher, was man für die Ausgaben an Nutzen, sprich an Gesundheit bekommt. Im Besonderen geht es darum, Fehlversorgungen, also Unter- und Überversorgungen, zu identifizieren. Hier gibt es neue Ansätze, wie etwa die „Value-Based-Health- Care-Initiative“. Ich bin überzeugt, dass uns solche Analysen auch in Österreich weiterbringen.

Wären marktwirtschaftlichere Strukturen gar besser?

Ostermann: Zur Frage des Effizienzvergleichs von öffentlichen und privaten Strukturen gibt es international keine Evidenz, die das eine oder andere Setting stützen würde. Viel wesentlicher erscheint mir die Frage nach der Wirksamkeit der Steuerung und Organisation. Die kann sowohl im öffentlichen als auch im privaten Setting gut sein. Was allerdings klar ist: Eine Situation, in welcher die Versorgung geteilt ist und private Institutionen, die weniger risikohafte Patienten versorgen und die öffentlichen Träger, die Strukturen für den Ernstfall bereitstellen und die Risikopatienten übernehmen, erzeugt immer strukturelle Ineffizienzen.

Die wohl größte Herausforderung ist die demografische Entwicklung. Wie kann man das meistern – sowohl finanziell (vergleichsweise weniger Beitragszahler) als auch organisatorisch (Mangel an Pflegern und teilwiese auch Ärzten)?

Ostermann: Die Frage der demografischen Entwicklung ist sehr relevant. Hinsichtlich der finanziellen Implikationen ist festzuhalten, dass die Beitragsund auch Steuereinnahmen (rund ein Drittel der öffentlichen Finanzierung des Gesundheitswesens kommt aus Steuern) auch noch von Faktoren wie Konjunkturentwicklung und Beschäftigungsquote abhängen und zudem Fertilität und Migration einen Einfluss auf die Demografie haben. Hier gibt es also viele Stellschrauben und Möglichkeiten der Steuerung. Es ist wichtig, dass wir bei der künftigen Planung des Personalbedarfs alle Gesundheitsberufe gemeinsam betrachten. Das derzeit in Aufbau befindliche Gesundheitsregister ist hier ein wichtiger Baustein, ebenso die Analysen und Prognosen zum Ärztebedarf.

Gesundheitspolitik und Kassenleistungen legen starken Fokus auf die Krankenversorgung und nach wie vor sehr wenig auf Prävention. 2015 entfielen darauf laut Statistik Austria nur 2,2 % der Gesundheitsausgaben, womit Österreich auch unter dem EU-Schnitt liegt. Was ist zu tun?

Ostermann: Die Angaben des Anteils der Präventionsausgaben sind international nur sehr schlecht vergleichbar, da die Aktivitäten heterogen sind und die Abgrenzung schwierig ist. Beziehe ich etwa Tertiärprävention mit ein oder wie rechne ich Präventionsleistungen der Allgemeinmediziner adäquat heraus? Daher beauftragen Bund, Länder und Sozialversicherung in regelmäßigen Abständen die Gesundheit Österreich GmbH mit einer Primärerhebung zu den Präventionsausgaben. Eine aktuelle Erhebung ist gerade in Bearbeitung. Für die zuletzt ausgewerteten Daten aus 2012 wurde festgestellt, dass die Ausgaben für Gesundheitsförderung und Prävention tatsächlich 3,1 % der Gesundheitsausgaben ausmachen. Ob dies nun viel oder zu wenig ist, lässt sich schwer beantworten. Wichtiger wäre es, die Frage zu stellen, ob wir die richtigen Aktivitäten setzen. Dabei sollten wir die Settings betrachten, die für einen gesunden oder ungesunden Lebensstil bzw. krankmachende Verhältnisse maßgeblich sind. Das bedeutet aber auch, dass Gesundheitsförderung und Prävention nicht nur Aufgabe des Gesundheitswesens, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und auch in anderen Ressorts wie etwa im Bildungs-, Familien- oder Umweltbereich ihren Niederschlag finden muss.

Was müsste strukturell verändert werden? Ist das System zu fragmentiert, bräuchten wir mehr Zentralismus? Und welche Länder eignen sich als Vorbilder?

Ostermann: Ich denke, wir sind auf einem guten Weg, durch übergreifende Steuerung, regionale Verantwortung und neue Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Strukturplanung eine kontinuierliche Veränderung zu ermöglichen. Revolutionen in Gesundheitssystemen gibt es selten, eher geht es darum, ein in vielen Facetten gutes und produktives Gesundheitssystem evolutionär weiterzuentwickeln. Hierbei kann man von vielen Ländern lernen. So verfolgen etwa die Dänen derzeit einen interessanten Weg in der Krankenanstaltenplanung oder die Niederländer und einzelne italienische Regionen in der Primärversorgung. In Österreich sehe ich bei den Reformen in der Steiermark gute Ansätze: Dort wurde Gesundheitsversorgung im Rahmen des Konzeptes „Gesundheitsplan 2035“ integrativ und übergreifend neu gedacht, und das wird jetzt auch sukzessive umgesetzt.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune