Märchen halten sich hartnäckiger

Obwohl sämtliche Fachgesellschaften von der Verschreibung von Methadon als Antitumortherapie abraten, wird es immer noch in dieser Intention von einigen Kollegen verschrieben. Die krebs:hilfe! berichtet von einem Lokalaugenschein bei OÄ Priv.-Doz. Dr. Gudrun Kreye, Leiterin des Palliativteams an der Universitätsklinik Krems. (krebs:hilfe! 3/18)

FOTO: BARBARA KROBATH

Wenn Patienten Priv.-Doz. Dr. Gudrun Kreye auf Methadon als Antitumortherapie ansprechen, dann sei sie irritiert. „Methadon ist ein Medikament, das von erfahrenen Schmerztherapeuten off-label als Opioid zweiter Wahl verschrieben werden kann. Es gibt derzeit aber keine Hinweise, dass es einen Stellenwert als Antitumormedikament hat. Diese Meinung vertreten auch sämtliche renommierten Fachgesellschaften im deutschsprachigen Raum. Dennoch stoße ich bei 90 Prozent der Patienten auf großen Unmut und Unverständnis, wenn ich mich gegen Methadon als Antitumortherapie ausspreche“, sagt Kreye deutlich.

Wunderliche Geschichten

Ein Internist aus der Umgebung behandelt in seiner Wahlarztpraxis Krebspatienten – auch mit Methadon. Gegenüber den „Bezirksblättern“ erklärte er, dass für ihn eine eindeutige Indikation bestehen müsse, „d.h., der Patient ist in aller Regel schulmedizinisch vortherapiert, und die Wahrscheinlichkeit einer Heilung ist gering“. Der Artikel erzählt die Geschichte eines Wunders, das der Internist an einem als unheilbar entlassenen Patienten mit Glioblastom dank „Methadon-Tropfen zusätzlich zu gering dosierter Chemotherapie“ vollbracht hätte. Der Hinweis des Arztes, jeder Patient müsse wissen, dass Methadon keine anerkannte schulmedizinische Maßnahme und es auch kein Krebsmittel sei, klingt angesichts von Inhalt und Ton des Artikels wie eine reine Schutzmaßnahme gegenüber den „vielen Fachgesellschaften“, die vor dem Einsatz des Medikamentes als Antitumortherapie warnen. „Dass sich Krebspatienten an jeden Strohhalm klammern, ist logisch. Patienten werden jede Therapie annehmen, von der ihnen versprochen wird, dass sie gegen den Tumor wirkt, weil sie sehr verzweifelt sind. Aber bei Ärzten setze ich voraus, dass sie Studien richtig interpretieren können“, sagt Kreye. Methadon sei zu Recht als Substitutionsbehandlung beim Drogenentzug zugelassen. Eine Antitumortherapie sei aber eine – auf keiner seriösen Grundlage beruhende – Off-Label-Nutzung, betont die Onkologin und Palliativmedizinerin.

Entzugserscheinungen

Wie viele Krebspatienten in Österreich derzeit Methadon als „Antitumormedikament“ einnehmen, ist nicht bekannt. Die Dunkelziffer ist enorm hoch. „Das macht Methadon so gefährlich. Denn oft erzählen uns die Patienten gar nicht oder erst auf eindringliches Nachfragen, dass sie Methadon nehmen. Wir merken es erst an den Nebenwirkungen. Und diese können zum Teil lebensbedrohlich sein“, weiß Kreye. Die Nebenwirkungen, die sie auf ihrer Station erlebt, reichen dabei von Entzugserscheinungen über Krämpfe und Übelkeit bis hin zu Schmerzen und Atemnot. Kreye zählt Fallbeispiele aus ihrem Klinikalltag auf, die zwar letztendlich glimpflich ausgegangen sind, wo es aber aufgrund der Methadon-Einnahme zu Komplikationen kam. Bei einer 59-jährigen Patientin etwa wurde 2009 ein Adenokarzinom des Magens im Tumorstadium 3 festgestellt. Operation und Chemotherapie konnten eine Metastasierung des Tumors nicht verhindern. In diesem fortgeschrittenen Stadium erhielt sie von einem auswärtigen Onkologen zweimal täglich 30 Tropfen Methadon als Antitumortherapie verordnet.
Ein Fortschreiten der Grunderkrankung führte letztendlich dazu, dass die Patientin aufgrund der größer werdenden Metastasen zunehmend an Schmerzen im Bauchbereich litt. Daher suchte die Patientin im Juli 2017 das Palliativteam des Uniklinikums Krems auf, um die Schmerztherapie zu optimieren. Die Schmerzen präsentierten sich als gemischt nozizeptiv-neuropathisch, bedingt durch die deutliche Krankheitsprogression unter Methadon. Die Umstellung auf ein (als Schmerzmittel geprüftes und zugelassenes) Opioid gestaltete sich zunächst als schwierig. „Die Patientin litt an Schmerzen und Bauchkrämpfen, zitterte und wies Myoklonien auf. Die Opioidrotation hat zwar letztendlich funktioniert. Die Probleme wären aber vermeidbar gewesen, wenn die Patientin nicht primär auf Methadon eingestellt gewesen wäre“, sagt Kreye.

Neuauflage der Methadon-Saga

Um die Ulmer Chemikerin Dr. Claudia Friesen, die die Methadon-Debatte angestoßen hat, ist es in der zweiten Jahreshälfte 2017 ruhig geworden. Die Universität Ulm hat im Sommer eine gemeinsame Stellungnahme mit dem Comprehensive Center Ulm und dem Universitätsklinikum Ulm publiziert, in der darauf hingewiesen wird, dass „die Wirksamkeit von Methadon in kontrollierten Studien überprüft werden muss und eine unkritische Off-Label-Anwendung von Methadon nicht gerechtfertigt ist“. Seit Anfang 2018 meldet sich Friesen aber wieder in den Medien zurück. Der SWR brachte Mitte Februar einen Beitrag über Methadon mit Friesen und lässt damit die Geschichte wieder aufleben.

 

Festhalten am Strohhalm

Andere Patienten verschweigen ihren behandelnden Onkologen sogar, dass sie Methadon als „Antitumormedikament“ nehmen. So berichtet Kreye von einer 54-jährigen Patientin, bei der im März 2017 ein primär hepatal, pleural und ossär metastasiertes nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom diagnostiziert wurde. Die Chemotherapie erfolgte in einem anderen Krankenhaus. Im Rahmen der Strahlentherapie wurde die Patientin im Uniklinikum Krems betreut, wo sie durch die Notwendigkeit extrem hoher Schmerzmittel- Bolusgaben auffiel. Erst nach der Entlassung der Patientin erfuhr das Palliativteam, dass die Patientin gleichzeitig zu ihrer Morphintherapie Methadon als Antitumortherapie eingenommen hatte. Retrospektiv betrachtet dürfte dies die Ursache für die ausgesprochen hohe Bedarfsmedikationsanforderung der Patientin gewesen sein. Manche Patienten seien auch beratungsresistent und beharren auf die Fortführung von Methadon als „Antitumortherapie“ – trotz anhaltender Schmerzen. Eine 75-jährige Patientin mit einem Karzinom der Kieferhöhle erhielt nach einer Kieferoperation im Juli 2017 eine Chemotherapie wegen eines Rezidivs, anschließend eine palliative Strahlentherapie. Die Patientin leidet, bedingt durch das Rezidiv, unter starken Schmerzen und ist nicht bereit, auf ein anderes Opioid umzusteigen, weil sie Angst hat, beim Methadon Abstriche machen zu müssen. Die Patientin ist daher nicht bereit, einer Optimierung der analgetischen Therapie zuzustimmen.

Kein Umrechnungsfaktor für Umstellung

„Diese Beispiele zeigen deutlich die Problematik. Patienten verlangen zum einen nach Methadon, können aber die Konsequenzen nicht abschätzen. Zum anderen sehen die Ärzte, die Methadon verschreiben, oft die ausgeprägten Nebenwirkungen nicht, mit denen die Patienten dann bei uns landen“, beschreibt Kreye den Teufelskreis. Besonders der Umstieg von einer Methadon-Therapie auf andere Opioide bereite in der Praxis Probleme. Kreye spricht aus Erfahrung. Sie war längere Zeit in Göttingen auf der Palliativabteilung tätig und hat im Rahmen dieses Aufenthaltes 2009 an einem Forschungsprojekt von Univ.-Prof. Dr. Friedemann Nauck mitgearbeitet, der nach einem Umrechnungsfaktor von Methadon auf andere Opioide suchte. Nauck, einer der führenden Experten in der Schmerztherapie bei Palliativpatienten in Deutschland, hat ein Schema etabliert, wonach Patienten von anderen Opioiden auf Levomethadon eingestellt werden können. Ein Umrechnungsfaktor konnte bislang jedoch, im Gegensatz zu anderen Opioiden, nicht gefunden werden. Kreye: „Methadon ist ein sehr diffiziles Pharmazeutikum, das aufgrund der individuellen Verträglichkeit und der verzögerten Nebenwirkungen nur von sehr erfahrenden Schmerztherapeuten verabreicht werden sollte.“

Studie aus Oberösterreich

Angefeuert durch die Methadon-Debatte startete noch im Frühling 2017 an der Kepler Universitätsklinik in Linz ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Mag. Dr. Sabine Spiegl-Kreinecker, Biologin und Leiterin des zell- und molekularbiologischen Labors der Neurochirurgie. Finanziert aus dem Forschungsfonds der Krebshilfe Oberösterreich untersuchten die Wissenschaftler an Zellkulturen von Glioblastomen, ob die Zugabe von Methadon den Effekt einer herkömmlichen Chemotherapie verstärkt. Das Ergebnis: Die Zugabe von Methadon bewirkte keine messbar stärkere Eindämmung des Tumorwachstums in den Zellkulturen, als dies bei der Kontrollgruppe mit unbehandelten Zellen der Fall war. Weiterführende Untersuchungen im Zellmodell zur Wirkung von Methadon auf krebsspezifische Signalwege seien – trotz der eindeutigen Ergebnisse – in Planung, so Spiegl-Kreinecker auf Anfrage der krebs:hilfe!

Gefahr Sterberisiko

Eine Lebensverlängerung durch Methadon konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil – manche Studien zeigen sogar ein gesteigertes Sterberisiko. Eine Forschungsgruppe aus Tennessee etwa untersuchte über einen Zeitraum von zwölf Jahren, von 1997 bis 2009 den Langzeitverlauf von Patienten mit nicht tumorbedingten Schmerzen. Das Ergebnis: Schon geringe Methadon-Dosen führen im Vergleich zu niedrigen Morphin- Dosen zu einem gesteigerten Sterberisiko mit einer Hazard Ratio von 1,59 (CI 1,01–2,51; p=0,046). Ein besonders tragischer Fall ereignete sich bei einer klinischen Studie, die 2016 im „New England Journal of Medicine“ publiziert wurde. In dieser erhielten insgesamt 668 postmenopausale Frauen mit HR-positivem, HER2-negativem rekurrentem oder metastasiertem Brustkrebs Letrozol mit Ribociclib oder mit Placebo (N Engl J Med 2016; 375: 1738–48).
Während der Studie kam es zu zwei unerwarteten Todesfällen. Es stellte sich heraus, dass eine der beiden verstorbenen Patientinnen eine unerlaubte Medikation mit einem bekannten Risiko für eine QT-Verlängerung eingenommen hatte: Methadon. Für Kreye sind diese Ergebnisse Grund genug, bei Methadon sehr vorsichtig zu sein: „Bei jedem Opioid können Nebenwirkungen eintreten, aber bei Methadon kann man sie nicht gut steuern.“ Sie hofft auf eine Entemotionalisierung der Debatte und auf einen verantwortungsbewussten Umgang – von den Medien und den Betroffenen. Ganz besonders aber von der eigenen Berufsgruppe.

Nebenwirkungen von Methadon

Methadon gehört zur Gruppe der Opioide und ist als Substitutionsmittel beim Drogenentzug zugelassen. Darüber hinaus wird es auch unter gewissen Voraussetzungen in der Schmerztherapie eingesetzt. Allerdings ist das Medikament sehr schwer einstellbar, weil Patienten sehr individuell auf dieses Medikament reagieren. Es gibt eine große Variationsbreite in der oralen Bioverfügbarkeit, zum Teil ausgeprägte Unterschiede in der Bindung an Plasmaproteine und intraindividuelle Schwankungen der Plasmamethadon-Level bei gleicher Dosierung.
Neben dieser individuellen Reaktion der Patienten sind die auftretenden Nebenwirkungen schwerwiegend. Zu den häufigsten zählen Abhängigkeit, Obstipation, Übelkeit und Erbrechen, Mundtrockenheit, Sedierung, Atemdepression, Gallenwegsspasmen, niedriger Blutdruck, Toleranzentwicklung und Kreuztoleranzen bei Opioidvorbehandelten Patienten, Sedierung, Verwirrtheit, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, Pruritus, Miktionsstörungen, Schwächeanfälle und Ödeme. Viele Studien verweisen zudem auf die Verlängerung der QT-Zeit als Nebenwirkung von Methadon, mit der Gefahr von Torsade de pointes. Auch die Atemdepression kann für Tumorpatienten lebensbedrohlich werden, da Methadon zumeist mehrmals täglich oral und ambulant – also ohne klinische Überwachung – eingenommen wird.

 

Über Priv.Doz. Dr. Gudrun Kreye
Kreye ist seit 2010 Oberärztin am Universitätsklinikum Krems in der klinischen Abteilung für Innere Medizin 2 tätig und leitet dort seit 2014 das Palliativteam. Studiert hat Kreye in Wien, nach einigen Auslandsaufenthalten im Rahmen translationaler Forschung sowie zum Sammeln klinischer Erfahrung auf dem Gebiet der Palliativmedizin (Baltimore, USA und Cardiff, Wales, UK) war sie von 2009 bis 2010 an der palliativmedizinischen Abteilung der Universität Göttingen tätig, wo sie unter anderem an einem Forschungsprojekt von Univ.Prof. Dr. Friedemann Nauck gearbeitet hat.