8. Dez. 2021Interview mit Dr. Lisa-Maria Kellermayr

Präklinische Triage: „Momentan kommt es auf den Zufall an“

Dass die Politik so viele Menschenleben in der COVID-19-Pandemie riskiert und so lange zuschaut, hätte sie nie geglaubt, sagt Dr. Lisa-Maria Kellermayr, Hausärztin in Seewalchen am Attersee, Bezirk Vöcklabruck in Oberösterreich, über den zu späten Lockdown. Sie erzählt von präklinischer Triage, wo wie im Herbst 2020 König Zufall über Lebenschancen entscheidet, vom Fatalismus bei älteren Menschen mit Impfdurchbrüchen, von jungen Long-Covid-Patienten, die in Pension gehen müssen. Dazu eine Drohkulisse aus der Impfgegnerszene, aber auch eine Wutwelle von Menschen, die sich von der Politik betrogen fühlen. Von dieser erwarte sie sich eine umfassende Entschuldigung beim Gesundheitspersonal und der Bevölkerung – und dann nach der tabula rasa einen Neuanfang.

Dr. Kellermeier
Ulli Engleder

medonline: Wie ist die Situation derzeit im Bezirk Vöcklabruck im niedergelassenen Bereich, die Lage war ja schon vor der Pandemie angespannt?

Lisa-Maria Kellermayr: Im Bezirk fehlen mehr als sieben Hausärzte, ich bin eine der letzten Mediziner*innen im Bezirk, die noch Visiten und Hausbesuche macht, im September ging ein Kollege in der Nachbargemeinde in Pension, der eine überdurchschnittlich große Ordination hatte. Dasselbe ist mit dem hausärztlichen Notdienst (HÄND, 141, Anm.) und dem COVID-HÄND. Wir haben jetzt einen COVID-HÄND im Bezirk bewilligt bekommen, der jedoch nicht immer besetzt werden kann. Wir hätten fünf Fahrzeuge in ganz Oberösterreich, aber kaum Ärzte, die sich fahren trauen. Es gibt Drohungen aus der Impfgegnerszene, das ist natürlich eine zusätzliche Belastung im ohnehin schon schweren Alltag. Täglich kommen zwischen 70 und 140 Patienten in die Ordination, in Räumlichkeiten, die das nicht hergeben, mit nur zwei Telefonen. Wir haben letzte Woche nicht einmal mehr den Notruf wählen können, weil die Telefonanlage zusammengebrochen ist.

Sie sind erst seit Kurzem in Seewalchen, seit wann läuft die Gruppenpraxis?

Kellermayr: Die Gruppenpraxis läuft seit 1. Oktober, wobei wir es so aufgeteilt haben, dass die ersten eineinhalb Monate mein Senior Partner gemacht hat und ich ab 22. November bis Jahresende. Ab Jänner haben wir eine neue Praxis in einem Bankengebäude, das ist gerade eine Großbaustelle. Dann haben wir sieben Telefone, mehr gleichzeitig anwesende Mitarbeiter, mehr Platz und mehr Räume, wir bauen auch entsprechende Alarmsysteme ein. Das heißt, wir müssen uns erst einarbeiten, daneben wie gesagt die Großbaustelle, und wir sind am Höhepunkt der vielleicht schlimmsten Welle der Pandemie.

Die effektive Reproduktionszahl, also wie viele Leute eine mit SARS-CoV-2 infizierte Person im Schnitt ansteckt, ist auf unter 1 gesunken, zuletzt auf 0,9 (01.12.2021). Gehen die Zahlen wirklich zurück oder ist das eher dem vielerorts zusammengebrochenen Testsystem geschuldet?

Kellermayr: Ich glaube schon, dass die Zahlen zurückgehen. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es Leute mit positiven Wohnzimmertests gibt, die sich nicht PCR testen lassen, weil sie sich vor der Quarantäne fürchten. Da gibt es sicher noch eine Dunkelziffer. Es wird leider noch etwas dauern, bis sich dieser Rückgang im Spitalsbereich, vor allem im Intensivbereich niederschlägt – aber der Lockdown wirkt.

Sie führen den Rückgang ganz klar auf die Lockdown-Maßnahmen zurück?

Kellermayr: Ja. Und es ist wichtig, der Bevölkerung so offen zu kommunizieren, wie es in den letzten Wochen passiert ist, dass es Triage gibt, und zu zeigen, wie dramatisch die Situation für uns im Gesundheitssystem wirklich ist, damit ein gewisses Verständnis für diese Maßnahmen gefördert wird.

Zumindest Oberösterreich und Salzburg wollten auch die Schulen schließen, doch Ex-Bildungsminister Univ.-Prof. Dr. Heinz Faßmann schob dem einen Riegel vor. Die Schulen blieben offen, aber mit höherer Testfrequenz – und Maskenpflicht für alle, auch die Geimpften, im gesamten Gebäude. Hätte man da nicht früher handeln müssen?

Kellermayr: Ja. Ich habe bereits im Frühjahr gesagt, das allerwichtigste Ziel für uns muss sein, dass die Schulen offen bleiben können. Das können wir dieser Generation einfach nicht mehr zumuten. Es ist nicht argumentierbar, dass sie das ausbaden müssen, was anderswo dermaßen falsch läuft.
Meiner Ansicht nach gehört auch Impfaufklärung im Schulunterricht betrieben. Ganz grundsätzlich: Wie funktionieren Impfungen überhaupt, was ist eine mRNA, was ist ein Vektor etc.? Diese Themen werden oft im Unterricht ausgespart aus Angst vor den Eltern, was ich für grundfalsch halte. Die Schulen offen zu halten, geht aber nur unter gewissen Maßnahmen. Maske, Abstand, Händehygiene und gewisse Verhaltensrichtlinien sind Kindern ab einem gewissen Alter durchaus logisch verständlich zu machen.

Wenn ich Sie richtig verstehe: Sie halten es für einen Fehler, dass man keine Maskenpflicht im Klassenzimmer gehabt hat?

Kellermayr: Ja. Aber da geht es nicht nur um die Schulen. Dass die Maske zum Politikum geworden ist, das werden wir künftigen Generationen nicht erklären können. Wir werden es auch nicht erklären können, dass wir es nicht schaffen, Menschen, die Lügen verbreiten, zur Verantwortung zu ziehen. Man kann über viele Dinge unterschiedlicher Meinung sein, aber die Frage, ob Wasser nass ist oder ob Masken nützlich sind, darüber gibt es keine zwei verschiedenen Meinungen.

Österreich hat mit einer Impfquote von 69 Prozent erst im November breit zu boostern begonnen, die Kurve geht steil bergauf, wir stehen jetzt bei 26 Prozent der Gesamtbevölkerung (Burgenland ist Spitzenreiter, Steiermark derzeit Schlusslicht, Anm. der Red.). Israel hat bei einer Impfquote von 63 Prozent eine Booster-Quote von 44 Prozent.

Kellermayr: Das werden wir nicht schaffen. Ich persönlich habe mir meine dritte Impfung am 20. Juli selber gegeben, weil eine Spritze übriggeblieben ist. Lange vor einer Empfehlung, weil die Datenlage klar war, meine erste Impfung war im Jänner. Wie kann es sein, dass in manchen Altenheimen Anfang Oktober die dritte Teilimpfung noch nicht gegeben wurde? Das ist durch nichts zu erklären oder zu entschuldigen! Meine Großmutter ist in einem Altersheim im September, eine Woche vor ihrer dritten Teilimpfung, infiziert worden. Sie hätte es fast mit ihrem Leben bezahlt, weil die Sauerstoffsättigung abgefallen ist, aber nicht reagiert wurde. Es ist verwerflich, welche Form von Fatalismus in Alten- und Pflegeheimen im Rahmen der Pandemie um sich gegriffen hat und dass man vielerorts einfach sagt: Da hilft eh nichts mehr, weil Alter ist gleich schwerer Verlauf, obwohl ich über 100-Jährige habe, die durchgekommen sind und ohne bleibende Schäden die COVID-Infektion überstanden haben! Es sind einfach so wahnsinnig viele Fehler passiert.

Lange Zeit hieß es ja auch, Impfdurchbrüche seien nur mild, obwohl schon im Sommer unter dem Gesundheitspersonal von schweren Impfdurchbrüchen mit Long Covid berichtet wurde.

Kellermayr: Ich habe letzte Woche zwei unter 50-Jährigen ein Schreiben für die ÖGK erstellt, die jetzt wegen Long Covid in Pension gehen müssen. Der Booster ist absolut notwendig. Jetzt sind wir aber in der folgenden Situation: Die Menschen haben sich impfen lassen, weil ihnen versprochen wurde, dass sie damit nicht mehr testen müssten und dass damit die Pandemie für sie vorbei sei. Das heißt, wenn man diese Menschen aufruft, zur dritten Teilimpfung zu gehen, reagieren sie „bockig“ – es wurde ihnen ja etwas anderes versprochen. Genau deswegen werden wir die 40-Prozent-Booster-Quote nicht erreichen.

Würde ein Fehlereingeständnis helfen?

Kellermayr: Das wird wahrscheinlich nicht passieren, denn dann würde wieder jemandem ein Stein aus der Krone fallen. Dass wir keine 40-Prozent-Booster-Quote erreichen werden, geht zu 100 Prozent auf die Kappe der Politik. Ich habe in meinem Umfeld genug Leute, die sagen, die dritte Teilimpfung lassen sie sich nicht mehr geben, aus Wut und Verärgerung und Protest dagegen, belogen zu werden – ohne zu realisieren, dass sie sich damit ausschließlich selbst schaden.

Auch beim Impfstoff Janssen sind sehr viele enttäuscht, weil sie einen zweiten Stich brauchen.

Kellermayr: Ja, aber das war auch klar. Aber wenn man die Menschen ausführlich aufklärt, über Unterschiede zwischen Vektor-Impfstoff und mRNA-Impfstoff, Risiko- und Nebenwirkungsprofil, dann entscheiden sich die meisten für den mRNA-Impfstoff. Die Menschen haben nicht nur Angst vor der Erkrankung, sondern auch vor der Impfung, selbst Angst davor, in Quarantäne zu müssen. Und Angst führt zu Passivität. Es geht nur noch um die Emotion, die aufzufangen ist, aber dafür braucht man Zeit. Man muss einfach ganz klar aussprechen, dass die Impfstoffe NICHT gleichwertig schützen. Sie sind alle nicht schlecht, aber das Niveau des Schutzes unterscheidet sich. Auch das ständige Warten auf sogenannte „Totimpfstoffe“, obwohl mRNA-Impfstoffe per definitionem auch Totimpfstoffe sind, bringt nichts: Ich glaube nicht, dass sich auch nur 25 Prozent derer, die sagen, sie warten auf den Totimpfstoff, tatsächlich impfen lassen, falls sie lesen, welche Adjuvanzien in diesen Impfstoffen drinnen sind.

Was ist dann die Botschaft, jetzt impfen, nicht warten?

Die Botschaft muss sein, klar zu kommunizieren, was Sache ist.
Punkt 1: Ungeimpfte und Geimpfte werden Kontakt mit diesem Virus haben.
Punkt 2: Die Chance, dass Geimpfte symptomlos sind oder einen sehr milden Verlauf haben, bei dem sie keine medizinische Hilfe in irgendeiner Form brauchen, ist um ein Vielfaches höher als für Ungeimpfte. Punkt 3: Ungeimpfte haben ein vielfach höheres Risiko für einen schwereren Verlauf als Geimpfte.
Punkt 4: Wir sind in einer Situation, wo Sie sich in Österreich nicht mehr darauf verlassen können, dass Sie die Hilfe bekommen, die Sie brauchen – auch im Notfall nicht. Wir haben eine Situation, wo die Menschen die Notrufnummer 141 rufen und dann Stunden warten müssen oder gar niemand mehr kommen kann. Wenn Sie am Abend einen Hexenschuss haben und bewegungsunfähig am Boden liegen, kann es Ihnen gut passieren, dass Sie die Nacht über liegen bleiben, weil es niemanden mehr gibt, der kommen kann, um Ihnen zu helfen.

Das ist noch immer der Fall?

Kellermayr: Das war in den letzten Wochen der Fall, und das wird auch bei der nächsten Welle wieder der Fall sein. Das heißt, auch wenn Ungeimpfte davon ausgehen, einen leichten Verlauf zu haben: Nicht einmal dafür werden Sie sicher medizinische Hilfe bekommen, weil es nicht genug medizinische Versorgungsstrukturen gibt. Sie können nicht mehr zum Hausarzt und der Hausarzt nicht mehr zu Ihnen. Wir haben die Leute nicht mehr und die Leute, die da sind, können nicht mehr. Weil sie fertig sind. Jenen, die sich absichtlich mit dem Virus anstecken wollen, damit sie den grünen Pass ohne Impfung kriegen, muss klar gesagt werden: Ihr müsst damit rechnen, auf euch alleine gestellt zu sein. Die Strukturen sind dermaßen erschöpft, an Menge und auch aufgrund der Dauerbelastung, dass niemand mehr davon ausgehen kann, im Notfall Hilfe in dem Ausmaß bekommen zu können, wie das vor der Pandemie der Fall war. Und dass so etwas in Österreich der Fall ist, ist ein Skandal in einer Größenordnung, den ich persönlich niemals in einem mitteleuropäischen Land für möglich gehalten hätte. Das ist auch nicht das erste Mal, dass das passiert ist. Wir hatten das in Oberösterreich Ende Oktober 2020 schon einmal, dass Menschen bis zu sechs Stunden auf einen Transport ins Krankenhaus gewartet haben, bis zu vier Stunden nur auf einen Rückruf vom HÄND. Das ist dieses Jahr nicht neu, und dass wir es dieses Jahr wieder zugelassen haben, in so eine Lage zu kommen, macht mich fassungslos.

Auch Kinder kann diese Art von Triage treffen. Sie haben im Interview mit OE24 am 12.11.2021 erzählt, es bricht Ihnen das Herz, wenn Sie nicht zu einem stark fiebernden Kind hinfahren können, weil es woanders noch etwas Akuteres gibt. Im intensivmedizinischen Bereich gibt es FASIM-Leitlinien für die Triage bei knappen medizinischen Ressourcen. ÖGARI-Präsident Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder zufolge sind in Oberöstereich bereits zwei Triageteams im Einsatz, die entscheiden, wer ein Bett bekommt, auch in anderen Bundesländern wird die Lage als „sehr ernst“ beschrieben (ORF-Bericht, 06.12.2021). Gibt es so etwas wie Leitlinien auch im niedergelassenen Bereich und sind Sie auf die Triage vorbereitet worden?

Kellermayr: Nein. Die Triage und wie Triage-Entscheidungen fallen, unterscheidet sich im präklinischen Bereich ganz massiv vom klinischen Bereich, weil im präklinischen Bereich der Zufall eine große Rolle spielt. Da spielen Faktoren hinein, wie die Distanz zum Patienten, bei wem ich gerade bin, oder zu welcher Uhrzeit jemand anruft. Wenn ein Patient entlegen wohnt und ich eine Anfahrt von einer Stunde mit Blaulicht habe, kann ich diese Ressource nicht aufwenden, mich um ihn zu kümmern, weil ich drei andere habe, die ich dann unversorgt lassen müsste. Im klinischen Bereich habe ich einen anderen Überblick und kann auch gemeinsam Entscheidungen treffen. Ich habe ein großes Glück, dass ich einen medizin- und bioethischen Background durch ein fast abgeschlossenes Bioethik-Studium habe und mich in Palliativmedizin intensiv fortgebildet habe. Faktum bleibt aber, dass ich bei Triage-Entscheidungen angreifbar bin, und das ist etwas, das vielen Kollegen Bauchweh macht, wenn jemand durch eine Triage-Entscheidung zu Schaden kommt und deswegen klagt. Mit dieser Frage werden wir völlig alleine gelassen. Wie dokumentiere ich das, wie beweise ich die Begründung, wie ich zu dieser Entscheidung gekommen bin?

Aber gerade die präklinische Triage hat eine große Tragweite, da die Politik oder die Chefs der Spitäler bzw. Spitalsträger leichter sagen können, es ist sich eh alles ausgegangen, Triage-Berichte im Herbst 2020 wurden dementiert, auch in Oberösterreich. Aber warum ist es sich ausgegangen? Weil viele Menschen offenbar gar nicht mehr ins Spital gekommen sind.

Kellermayr: Ja. Und es ist sich trotzdem nicht ausgegangen. Es sind Triage-Entscheidungen präklinisch und innerklinisch gefallen. Es sind bei Weitem nicht alle ins Spital gekommen. Ich war Totenbeschauerin von Patienten, die haben von Infektionsbeginn bis zu ihrem Tod keinen Arzt gesehen. Pflegerinnen haben angerufen, ob sie den Patienten in ihren letzten Atemzügen Morphium geben dürfen, damit sie das Ersticken nicht so spüren. Und auch in den offiziellen Zahlen kann jeder nachvollziehen, dass alle 150 Intensivbetten der letzten Ausbaustufe in Oberösterreich belegt waren.

Dazu muss man sagen, die Pflegekräfte können auch nichts dafür, weil sie oft zu zweit für 40 Patienten zuständig sind und keine DGKS im Nachtdienst haben.

Kellermayr: 40 wäre schön! Ich kenne Heime, in denen sind es 70 bis 100 Bewohner mit zwei Pflegehelferinnen im Nachtdienst. Sie dokumentieren zwar die Sauerstoffsättigungswerte, aber reagieren nicht, weil ihnen nie jemand offiziell gesagt hat, unter diesem Wert müsst ihr reagieren, weil es dazu keine Studien gibt und sich niemand traut, dazu etwas zu sagen. Muss ich jetzt bei einem spO2-Wert von 94mmHg oder bei 90 um Hilfe rufen?

Intensivmediziner haben aber schon im Frühjahr 2020 gewarnt, dass unter 95, 94 reagiert werden sollte, da selbst gehfähige Ambulanzpatienten mit stiller Hypoxie und z.B. nur mehr 70mmHg innerhalb von Stunden zusammenbrechen können und dann am nächsten Tag auf der Intensiv liegen.

Kellermayr: Unter 94 sind auch die Zahlen, mit denen ich arbeite. Aber das sind Ärztemeinungen, es gibt keine Fachgesellschaften, die eine offizielle Empfehlung im Umgang in den Altenheimen für die Pfleger herausgeben. Das traut sich niemand. Es gibt eine S3-Leitlinie für Long Covid (siehe Bericht mit Leitlinie hier, Anm.), aber es gibt bis heute keine offizielle Empfehlung für den Off-Label-Einsatz von Budesonid bei Covid-Patienten zur Verhinderung von schweren Verläufen. Die Empfehlung für Budesonid habe ich im April öffentlich ausgesprochen, aber offiziell gibt es sie nicht.

Nochmals zur Triage-Situation, ist der Höhepunkt erreicht, wie schätzen Sie das ein?

Kellermayr: Wir haben den Höhepunkt im Intensivbereich noch nicht überschritten. Im präklinischen Bereich gehen die Fälle wieder zurück, aber es dauert, bis sich das im Spitalsbereich auswirkt.

Das heißt, derzeit ist es besser, risikoreiche Vorhaben/Tätigkeiten lieber zu verschieben?

Kellermayr: Ja. Deswegen müssen die Leute verstehen, in welcher Lage wir sind. Wir sind bisher selbstverständlich davon ausgegangen, im Notfall eine notfallmedizinische Versorgung zu bekommen – das ist momentan nicht mehr im gewohnten Maß gewährleistet. Es kommt auf den Zufall an: Wenn gerade alle Notärzte mit Notfällen beschäftigt sind, ist niemand mehr da für den nächsten Herzinfarkt.

Was würden Sie sich von der Politik wünschen, gerade jetzt, wo wir wieder eine Rochade in der Regierung haben, nun mit Karl Nehammer, MSc, als Bundeskanzler, damit an den Fronten abgerüstet wird und Sie Ihre Arbeit als Ärztin so machen können, wie es Ihrer Berufung entspricht?

Kellermayr: Zuallererst eine sehr förmliche und umfassende Entschuldigung, bei der Bevölkerung genauso wie beim Gesundheitspersonal, dass sie uns überhaupt in eine derartige Lage gebracht haben. Ich erwarte mir von der Politik All-Parteien-Gespräche zur Formulierung und zur Erarbeitung einer Konsens-Position, wie wir die Bevölkerung vereinigen können hinter einem vernünftigen Maßnahmenkatalog und den so kommunizieren können, dass Menschen den auch verstehen. Das heißt, nicht mit Zahlen um sich zu werfen, sondern in einer verständlicheren Sprache zu sagen: Das ist die Lage, in der wir sind – ohne Dinge schönzureden, ohne sich herauszuwinden unter Eingestehen der persönlichen Verantwortung der jeweiligen Verantwortungsträger.

Also, hat die Entschuldigung von Ex-Kanzler Mag. Alexander Schallenberg (der sich bei jenen entschuldigte, „die alles richtig gemacht haben“) und Gesundheitsminister Dr. Wolfgang Mückstein (der sich entschuldigte, dass die Regierung „an mancher Stelle“ hinter ihren „eigenen Ansprüchen“ zurückgeblieben sei) nicht gereicht?

Kellermayr: Nein. Genauso inakzeptabel ist es für mich, wenn Landeshauptmann Thomas Stelzer sagt, die Experten seien überrascht worden. Denn das stimmt nicht. Sollte er sich mit Experten umgeben, die allesamt überrascht worden sind, muss er bitte die Zusammensetzung des Expertengremiums dringendst kritisch betrachten. Und für eine neue Zusammenstellung des Gremiums ist er auch höchstverantwortlich. Es gehört reiner Tisch gemacht, es gehört deeskaliert, es gehört weg von den Extrempositionen – wir müssen uns in der Mitte finden. Parteipolitik darf jetzt keine Rolle spielen. Die Politiker begeben sich auf Extrempositionen, in der Mitte ist niemand. Wir brauchen aber jetzt einen größtmöglichen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie wir damit umgehen, und das nicht erst im nächsten Jahr im Frühling, sondern jetzt.

Ich erwarte mir, dass jeder Versuch, spaltende Rhetorik einzusetzen, um das persönliche Image aufzupolieren oder das persönliche politische Profil zu schärfen, sofort von Parteifreunden und -kollegen unterbunden wird. Ich erwarte mir, dass Gesundheitseinrichtungen Bedingungen vorfinden, unter denen sie auch tatsächlich arbeiten können, sowohl was die Ressourcen der Versorgung angeht als auch die Ressourcen der Sicherheit. Es soll niemand behaupten können, von alldem nichts gewusst zu haben.

Genau solche Sätze und Behauptungen erzeugen oft so große Wut.

Kellermayr: Deswegen bemühe ich mich auch, klar und deutlich zu formulieren. Niemand kann behaupten, man konnte das nicht wissen. Ich habe Ende Juni, Anfang Juli schon sehr genau gesagt, wann Ende Oktober die Welle steigt, wann wir in Probleme kommen. Das gibt es öffentlich auf Video. Ich habe nur nicht geglaubt, dass die Politik so viele Menschenleben riskiert und so lange dabei zuschaut und das so lange laufen lässt, bis der Lockdown kommt. Ich habe mit der letzten Oktoberwoche gerechnet, dass der Lockdown kommt, spätestens Anfang November.

Und dann, nach der Entschuldigung?

Kellermayr: Klare Kommunikation durch ein zweifelsfrei parteifreies Expertengremium. Es gehört reiner Tisch gemacht, und wenn alles klar daliegt, dann muss man sagen, es gibt eine gewisse persönliche Freiheit, ein Recht auf Unvernunft: Wenn sich Leute dafür entscheiden, nach Aufklärung, dass sie persönlich das Risiko eingehen, keine Hilfe zu bekommen, Long Covid zu bekommen, berufsunfähig zu werden, unter die Armutsgrenze zu fallen, dann können sie das, aber sie dürfen sich dann nicht erwarten, dass sie irgendjemand auffangen kann. Selbst wenn wir wollten, wir können es nicht. Österreich hat einiges über 60.000 Long-Covid-Fälle.
Und sie dürfen nicht erwarten, am öffentlichen Leben ohne Einschränkungen teilhaben zu können.

Long Covid war lange kein Thema.

Kellermayr: Long Covid war viel zu lange kein Thema. Das macht uns langfristig wesentlich mehr Probleme als die Verstorbenen. Long Covid hat das Potenzial, den sozialen Frieden unseres Landes ernsthaft in Gefahr zu bringen.

Wie schauen Sie persönlich auf die Zukunft?

Kellermayr: Ich fürchte, dass die Bevölkerung einfach zu pandemiemüde wird und dadurch nachlässig, was gerade im Hinblick auf Omikron gefährlich wird. Ich hoffe darauf, mit jedem Tag, der vergeht, dass der Frühling näher kommt und damit wieder eine Phase, in der wir Luft zum Atmen und Durchatmen bekommen können, alle miteinander. Auf diese Zeit hoffe ich – und dass wir bis dorthin das irgendwie durchstehen und den Schaden bis dahin so gering als möglich halten können.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Dr. Lisa-Maria Kellermayr hat eine Praxis für Allgemeinmedizin in Seewalchen am Attersee übernommen. Zuvor war die 36-Jährige im hausärztlichen Notdienst für Covid-Patient*innen in ganz Oberösterreich engagiert.