20. Nov. 2017

MT50: Ringel und die geretteten Suicidanten (MT 26-27/1970)

Namhafte Experten haben im Laufe der Jahrzehnte ihr Wissen mit den MT-Lesern geteilt. So auch Prof. Dr. Erwin Ringel. Im Jahr 1970 erschien ein Gastkommentar, in dem er das „präsuicidale Syndrom“ beschrieb, das er anhand von 745 „geretteten Suicidanten“ erkannt hat. Das Syndrom sei nicht einer bestimmten psychiatrischen Erkrankung zugehörig, sondern gemeinsamer Nenner jener Erkrankungen, „welche zum Selbstmord führen“.

Folgender Artikel erschien am 26. Juni 1970:

Das präsuicidale Syndrom

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Im Jahre 1949 habe ich 745 gerettete Suicidanten mit dem Ziel untersucht, deren psychische Verfassung vor der Selbstmordhandlung zu klären. Dabei wurden einige Fakten mit solcher Übereinstimmung gefunden, daß ich mich berechtigt sah, von einem „präsuicidalen Syndrom“ zu sprechen, bestehend aus 1. Einengung, 2. Gehemmter, und gegen die eigene Person gerichteter Aggression, und 3. Selbstmordphantasien. Inzwischen haben allgemeine Erfahrungen darin bestärkt, daß es tatsächlich für die psychische Befindlichkeit einer suicidalen Persönlichkeit charakteristisch ist.

A. Phänomenologie des präsuicidalen Syndroms

1. Einengung

a) Situative Einengung

Es ist das Gefühl der Gestaltbarkeit des Daseins, das Erleben der Möglichkeit, sich in der Zukunft zu entfalten, verlorengegangen -, statt dessen herrscht die Empfindung, in einen immer engeren Rahmen gepreßt zu werden, der einem gleichsam alle Lebenschancen wegnimmt (z. B. bei schweren Schicksalsschlägen, unheilbarer Krankheit usw.)Einengende Situationen können zum Selbstmord verführen, ihn aber nicht erzwingen – deshalb reicht die situative Einengung nicht aus, das Phänomen Selbstmord zu erklären, es muß vielmehr noch eine Störung der Persönlichkeit hinzukommen. Deswegen ist es so entscheidend, bei der situativen Einengung zu prüfen, ob dieselbe a) durch Schicksalsschläge oder b) durch Eigenverhalten zustande gekommen, bzw. c) lediglich das Resultat persönlicher Einbildung ist: bei b) und c) sind ernste Hinweise auf eine Gleichzeitig bestehende Persönlichkeitsstörung gegeben – also erhöht sich die Selbstmordgefahr beträchtlich.

b) Dynamische Einengung

Darunter haben wir die Tatsache zu verstehen, daß sich die Dynamik der Persönlichkeit in eine einzige Richtung entwickelt, während andere verkümmern; sie darf nicht verwechselt werden mit dem Verlust der Dynamik: w ein solcher auftritt (z. B. oft im Endstadium des Karzinoms) ist auch Selbstmord unmöglich, denn zweifellos ist vorhandene Dynamik Voraussetzung für die Durchführung eines Suicids. Wir finden dabei einen starren Ablauf der Apperzeption und der Assoziationen (die betreffenden Persönlichkeiten verhalten sich, als hätten sie eine Brille auf, durch welche sie alle Geschehnisse tendenziös, d. h. verzerrt negativ wahrnehmen); fixierte Verhaltensmuster (es kommt zu einer Verringerung der Reaktionsmöglichkeiten der Persönlichkeit); affektive Einengung. (Dabei handelt es sich um eine verstärkte affektive Beharrungstendenz in die depressive oder ängstliche Richtung; die affektive Umstellbarkeit ist vermindert, die momentane Verzweiflung gewinnt dadurch unveränderbaren „Ewigkeitscharakter“; andererseits kann unmittelbar vor einer Selbstmordhandlung als Ausdruck affektiver Einengung auch „unheimliche Ruhe“ bestehen); und schlie0lich eine auffällige Reduzierung der Ego-Defense Mechanismen. (Man kann sagen, daß die Selbstmordgefahr um so größer wird, je mehr sich die Zahl der angewandten Abwehrmechanismen verringert.

Zusammenfassend findet also im Rahmen der dynamischen Einengung eine einseitige Ausrichtung der Persönlichkeit statt, bis dieselbe sich schließlich von dieser einen überstarken Tendenz zum Selbstmord getrieben und gezwungen fühlt: die dynamische, besonders die affektive Einengung, erreicht im Moment des Selbstmordes ihren Höhepunkt. Es bedarf einer unheimlichen emotionalen und nicht bloß rationalen Antriebskraft (ähnlicher derjenigen, die imstande ist, die Anziehungskraft der Erde zu überwinden), um den Selbsterhaltungstrieb auszuschalten; nur eine hochgradige dynamische Einengung vermag dieselbe freizusetzen, daher die Unhaltbarkeit des Ausdrucks „Freitod“.

c) Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen

Sie kann in verschiedener Form in Erscheinung treten:

  1. Entwertung vorhandener Beziehungen durch Verlust der Umweltkohärenz und mangelhafte, ja fehlende Gestaltungsfähigkeit.
  2. Zahlenmäßige Reduktion zwischenmenschlicher Beziehungen, bis man sich schließlich an eine Person anklammert, von der man völlig abhängig ist.
  3. Die völlige Isolierung. Der bekannteste Satz Paul Valerys „Für den Selbstmörder bedeutet jeder andere nur Abwesenheit“ kann, besonders beim alten Menschen, im Wortsinn Wahrheit werden.

d) Einengung der Wertwelt

Überhandnehmen subjektiver und damit in die Isolierung treibende Werturteile und mangelnde Wertverwirklichung, wodurch der Eindruck entsteht, das Leben sei „wertlos“.

2. Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Agression (sic)

Je stärker der Aggressionsdruck ist, unter dem eine Person steht und je mehr diese Aggressionen nicht abragiert werden können, sondern sich gegen die eingene Person richten, desto größer wird die Selbstmordgefahr.

3. Selbstmordphantasien

Gelegentliche Selbstmordgedanken hat wohl jeder Mensch, sie bedeuten noch nichts Pathologisches. Grundsätzlich andersartig ist jene intensive gedankliche Beschäftigung mit dem Selbstmord, welche den präsuicidalen Status kennzeichnet.

Bei diesen Selbstmordphantasien muß man unterscheiden zwischen aktiven, d. h. willentlich intendierten, und passiven, die sich gegen den Willen, oft in Form von Zwangsgedanken, aufdrängen und immer beherrschender werden. Vom Standpunkt der Selbstmordgefahr sind die letzteren besonders alarmierend: sie können plötzlich auftreten, aber auch aus ursprünglich aktiv intendierten Phantasien hervorgehen.

B. Diagnostisch-therapeutische Gesichtspunkte

Mit Nachdruck sei betont, daß das präsuicidale Syndrom natürlich nicht einer bestimmten psychiatrischen Erkrankung zugehörig ist, sondern vielmehr den gemeinsamen Nenner aller jener psychischen Erkrankungen darstellt, welche zum Selbstmord führen können (so muß es ja sein, wenn das präsuicidale Syndrom tatsächlich spezifisch für die präsuicidale Verfassung ist). Die obenstehende Tabelle ordnet das Syndrom den einzelnen Krankheiten, die mit Selbstmordgefahr verbunden sind, zu und differenziert gleichzeitig zwischen seiner raschen uns langsamen Enstehung (sic).

Besonders die langsame Entwicklung des Syndroms bietet genügend Möglichkeiten, auf die bestehende Selbstmordgefahr aufmerksam zu werden (vor allem gilt dies für die „Neurose zum Selbstmord hin“, die ich als Sonderform der Neurose, sich durch intensive chronische Lebensverunstaltung kennzeichnend, beschrieben habe). Aber auch bei seinem plötzlichen Entstehen bleiben prophylaktische Chancen offen, man muß eben bei den betreffenden Erkrankungen ganz besonders vorsichtig sein und vorbeugend handeln.

Das präsuicidale Syndrom läßt sich in seinen beiden ersten Punkten relativ leicht explorieren, selbst wenn der Patient zu dissimulieren versucht. Es stellt heut den wichtigsten Indikator zur Objektivierung der Selbstmordgefahr dar und macht die problematische Fragestellung „haben Sie Selbstmordabsichten?“ überflüssig. Darüber hinaus zeigt es aber auch die Schwerpunkte eines antisuicidalen ähnlichen Verhaltens bei nicht psychotischen Fällen auf: gestützt auf eine gute Arzt-Patienten-Beziehung wird es darum gehen, den Aggressionen Abreaktionsmöglichkeiten zu erschließen, die Phantasie in die Richtung positiver Ziele anzuregen und durch Ermutigung zu Erfolgserlebnissen den Lebemsraum des Patienten wieder entscheidend zu erweitern.

Langsame Entwicklung

  • Neurose
  • Melancholie
  • Altersdepression
  • Paranoia und Paraphrenie
  • Hebephrenie
  • Beginnende Schizophrenie

 

Plötzliches Auftreten

  • Amentielle Zustandsbilder
  • Alkoholhalluzinose
  • Katatonie
  • Fortgeschrittene Schizophrenie
  • Neurotische Reaktion
  • Psychopathie
  • Schwachsinn

ringelGastkommentar: Professor Dr. Erwin Ringel, Oberarzt an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Wien
Medical Tribune, erschienen am 26. Juni 1970, Seite 15

Gastkommentare in der Medical Tribune

1970 haben eine ganze Reihe von Gastkommentatoren Beiträge für die “Medical Tribune” geschrieben. Allein im ersten Halbjahr waren schon namhafte Autoren darunter:

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune