29. Dez. 2023medonline Medizingeschichte #13

Chemotherapie: Alfred Gilman & Louis Goodman

Anfang 1942 bekommen die beiden US-Pharmakologen Louis Goodman und Alfred Gilman vom neu gegründeten Institut für Pharmakologie an der Yale University den Auftrag, sich mit chemischen Kampfstoffen zu beschäftigen.

National Library of Medicine

Die kaiserlich deutsche Armee hatte Senfgas und andere Wirkstoffe mit verheerender Wirkung im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Nachdem die USA im Zweiten Weltkrieg Konfliktpartei geworden waren, hatte das US Office of Research and Development Forschungsaufträge an private Einrichtungen vergeben, um in Bezug auf Gegenmaßnahmen für die kommende Auseinandersetzung mit der Deutschen Wehrmacht vorbereitet zu sein.

Substance X

Milton C. Winternitz, der Dean der Yale Medical School, hatte 1917/18 Vergiftungen durch chemische Kampfstoffe studiert und sicherte seiner Universität in der Folge einen dieser Aufträge. Goodman und Gilman beschäftigen sich mit Stickstofflost, einem Senfgas-Derivat, das aufgrund der hohen Geheimhaltungsstufe des Projekts, selbst in ihren Notizen nur als Substance X bezeichnet werden darf.

Im Zuge ihrer Suche nach Möglichkeiten, die Toxizität der Verbindung zu neutralisieren, fällt ihnen auf, dass diese Lymphzellen und weiße Blutkörperchen in Hasen abtötet – was es möglich erscheinen lässt, dass die Verbindung auch gegen bösartige Tumore wirkt. Also besorgen sie sich eine Maus mit einem großen Tumor und behandeln sie erfolgreich – gleichwohl der Tumor zurückkehrt. Eine zweite Behandlung resultiert in einem geringeren Rückgang des Tumors, die dritte in gar keinem.

Aber Goodmans und Gilmans Entdeckung hat zu einem signifikant längeren Überleben der Maus geführt und die beiden wollen nun ein Experiment am Menschen wagen. Sie präsentieren ihre Daten Gustaf E. Lindskog, einem Professor für Chirurgie, der ihnen an seiner Klinik einen ersten Patienten für ihre Chemotherapie vermittelt.

Der erste Patient

JD (sein voller Name darf aufgrund nach wie vor wirksamer Privatsphärenrechte nicht genannt werden) ist ein 47-jähriger, polnischer Einwanderer der in einer Kugellagerfabrik in Connecticut gearbeitet hat. 1941 waren bei ihm Lymphome im Hals-Nackenbereich entdeckt worden. Strahlentherapie zeigte zu Beginn gute Ergebnisse, die sich aber bis zum Ende des Jahres wieder verflüchtigten.

Ein Eintrag aus seiner Krankenakte vom 25.8.1942 liest sich wie folgt: The patient’s outlook is utterly hopeless on the present regimen. Because the end seems near he should be in the hospital. Dr. Lindskog will investigate the possibility of obtaining one of the newer chemicals which are lymphocidal. Immediate admission arranged.

Als JD dieser experimentellen, in Bezug auf ihre Konsequenzen unberechenbaren Behandlung vorbehaltslos zustimmt, bekommt er am 27.8.1942 die erste von 10 Dosen einer Chemotherapie. Die Dosierung ist schwierig, weil es keine Präzedenz für diese Art der Behandlung gibt. Goodman und Gilman extrapolieren sie schließlich aus den Daten ihrer Studien mit Hasen.

Nach 4 Tagen gibt JD zu Protokoll, sich wesentlich besser zu fühlen. Er kann schlafen, Nahrung zu sich nehmen und sich besser bewegen als noch kurz zuvor. Mit 6.9. hat sich sein Allgemeinzustand wesentlich verbessert, aber die Anzahl der Lymphozyten und der weißen Blutkörperchen beginnt zu fallen. Er bekommt Bluttransfusionen und am 27.9. sind die Lymphome ganz verschwunden.

Als sie Mitte Oktober wieder auftauchen, zeigt eine zweite Runde der Chemotherapie nur kurzfristig Ergebnisse – die Krebszellen beginnen eine Widerstandsfähigkeit gegen die Therapie zu entwickeln. Ein dritter Durchgang ab 6.11. hat nur noch minimale Effekte. JDs Tumore wachsen stetig weiter, bis er schließlich am 1.12.1942, an seinem 96. Tag in der Klinik, stirbt.

Obwohl letzten Endes nicht von Erfolg gekrönt, verabreichen Goodman und Gilman die erste intravenöse Chemotherapie der Medizingeschichte und läuteten damit eine neue Ära in der Behandlung von Krebspatienten ein.