Wie die Psyche den Schmerz erlernt

Psychische Faktoren stellen einen einflussreichen Faktor vor allem für die Entstehung chronischer Schmerzen dar. Lernprozesse spielen dabei eine wesentliche Rolle. (ärztemagazin 09/17)

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SERIE CHRONISCHER SCHMERZ – TEIL 7

SCHMERZ IST EINE SUBJEKTIVE Erfahrung und wird durch psychologische Faktoren beeinflusst. Psychologische Faktoren spielen eine Rolle bei der Auslösung des Schmerzes, beim Krankheitsverlauf und beeinflussen die Reaktion des Patienten auf jede Form von Behandlung. Dies gilt bereits für akute Schmerzen und noch mehr für chronische. So ist gesichert, dass Patienten, die beruflich und/oder privat unter starker Belastung leiden, ein höheres Risiko für Schmerzchronifizierung haben als unbelastete Menschen.

SCHMERZMODELLE. Bei chronischen Schmerzen sind sowohl nozizeptive (somatische) als auch emotionale (psychogene) Schmerzanteile vorhanden, wobei der emotionale Schmerzanteil im Vordergrund steht. Das Ausmaß des nozizeptiven bzw. emotionalen Schmerzanteils ist nicht leicht erkennbar, da Schmerz als Gesamterlebnis empfunden wird. In verschiedenen Kulturen existieren unterschiedliche Schmerzmodelle. So wird in Europa eher der somatische Anteil des Schmerzes tradiert, der emotionale Anteil unterdrückt. Für den Arzt ist wichtig zu überprüfen, ob sein eigenes Schmerzmodell auch dem des Patienten entspricht. Häufig scheitern Versuche, im therapeutischen Gespräch ein bio-psycho-soziales Schmerzverständnis beim Patienten zu wecken. Die Patienten fühlen sich unverstanden und entwickeln Widerstand („Ich bin doch nicht verrückt“, „Ich bilde mir die Schmerzen nicht ein“). Frustration für Arzt und Patient sind vorgezeichnet.

Bausteine der psychologischpsychotherapeutischen Therapie

  • Aufbau einer tragfähigen, gegenseitig wertschätzenden therapeutischen Beziehung
  • Informationsvermittlung (psychoedukativer Ansatz)
  • Anleitung zur Selbstbeobachtung (Symptomtagebuch)
  • Vermittlung von Selbstmanagement- und Stressbewältigungstechniken (Entspannungs-, Meditations- und Imaginationsverfahren, ev. unter Biofeedback-Kontrolle)
  • Kognitive Therapie dysfunktionaler Gedankenprozesse
  • Abbau von Schon- bzw. Vermeidungsverhalten
  • Körper- bzw. Leibtherapie
  • Förderung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Verbesserung der Beziehungsfähigkeit und Konfliktbewältigung
  • Verbesserung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit, Schmerz-Affekt-Differenzierung
  • Bearbeitung negativer Affektivität (z.B. Trauerarbeit) und Traumatherapie

Quelle: Schmerznetz.at

SCHMERZGEDÄCHTNIS ERLERNEN. Der Begriff des Schmerzgedächt nisses existiert seit etwa 20 Jahren. Die Forschung der jüngeren Zeit hat interessante Erkenntnisse zu dessen Entstehung gebracht. Wiederholte starke nozizeptive Reize führen zu strukturellen Veränderungen im Zentralen Nervensystem. Bestimmte Nervenzellen und deren Fortsätze sowie die daran gekoppelten Synapsen sind durch hohe Plastizität gekennzeichnet. Diese Plastizität stellt eine wichtige Voraussetzung für die Fähigkeit zu lernen dar, ermöglicht aber auch Veränderungen, die zur Ausbildung des Schmerzgedächtnisses führen. Auffallend dabei ist, dass Veränderungen der Synapsen Ähnlichkeiten mit Mechanismen im Hippocampus aufweisen, die an kognitivem Lernen und Gedächtnis beteiligt sind.

LERNMODELLE. Für das „Erlernen“ von chronischem Schmerz existieren mehrere Modelle. Eines davon ist die Habituation. So konnte nachgewiesen werden, dass bei Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen die Habituierung anders abläuft als bei Gesunden. Damit assoziiert wurde eine erhöhte synaptische Aktivität festgestellt, die auch bereits auf Rückenmarksebene stattfinden kann. Beim operanten Modell besteht eine Abhängigkeit des (ursprünglich nozizeptiv-reflexhaft ausgelösten) Schmerzes von seinen Konsequenzen. Dabei werden positive und negative Verstärkung sowie die Löschung von gesundheitsbezoge nem Verhalten unterschieden. So kann sich ein chronischer Schmerzpatient beispielsweise von seinem Partner Bestärkung in seinem passiven Verhalten holen. Bei diesen sogenannten „Pain Games“ (Sternbach 1968) besteht ein intentionaler Charakter der Schmerzkommunikation. Dem Arzt gegenüber wird Schmerz als Mittel zum Zweck verwendet, um Versorgungswünsche durchzusetzen („Ich brauche einen Kuraufenthalt“) oder um Verantwortung abzulehnen („Ich kann leider nicht mehr arbeiten gehen“).

Abb1

Katastrophisierende Gedanken haben einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf einer Schmerzerkrankung. Aufmerksamkeit gegenüber bedrohlichen Informationen und Überbzw. Missinterpretation charakterisieren dieses Verhalten, das auch beim Angst-Vermeidungs-Modell eine Rolle spielen kann. Beim Angst-Vermeidungs-Modell entscheiden Kognitionen und das daraus resultierende Verhalten, ob aus einem akuten Krankheitsverlauf ein komplizierter chronischer entstehen kann (s. Abb. 1). Mitbestimmend für den Verlauf ist weniger die körperliche Pathologie als vielmehr Vorstellungen und Glauben des Patienten über die Erkrankung. Eine negative Vorstellung kann durch Information aus Medien etc. noch verstärkt werden. Durch die Überzeugung, dass bei akuten Rückenschmerzen Belastung und Bewegung schädlich sind und den Schmerz verstärken können, entsteht eine erlernte Assoziation zwischen Schmerz und körperlicher Aktivität. Dies entspricht einem sogenannten „respondenten“ Lernvorgang im Sinne der klassischen Konditionierung. In der Folge vermeiden die Patienten Bewegung und Belastung aus Angst (operante Verstärkung).

Letztendlich behindert die Angst vor dem Schmerz die Aktivität stärker als die Beeinträchtigung selbst. In einem Circulus vitiosus kommt es zu Schonhaltung und zu psychosozialen Konsequenzen wie sozialem Rückzug, zunehmender Angst, Depression. Es besteht in diesem Stadium keine unmittelba re Verbindung mehr zwischen Reiz (Bewegung) und Schmerz, was zu einer erheblichen Erschwernis in der Therapie führt. Beim kognitiv-behavioralen Modell besteht eine Wechselwirkung zwischen Schmerz, kognitiven, affektiven und behavioralen Faktoren. Beispielsweise dürfen „starke Menschen“ keinen Schmerz empfinden. Dadurch entsteht ein Durchhalte-Verhalten, welches ebenfalls zu Chronifizierung führen kann.

Abb2

THERAPEUTISCHE ANSÄTZE. Grundsätzlich gilt therapeutisch das flexible Schmerz-Coping: Der nozizeptive Schmerzanteil, der ein Warnsignal darstellt, muss vermieden, also therapiert werden. Der emotionale Schmerzanteil muss jedoch konfrontiert werden. Wichtig ist herauszufinden, wo die Grenze zwischen nozizeptivem und emotionalem Schmerzanteil liegt, die nicht überschritten werden darf. Insgesamt ist der Schmerz im Kreise von Haltungen und Überzeugungen zu sehen (s. Abb. 2). Wenn der Patient zu sehr vermeidet oder überreagiert, stellt dies bereits eine Information für eine mögliche Chronifizierung dar. Für die Therapie weiters zu berücksichtigen sind psychologische Stressfaktoren, das Krankheitsverhalten und soziale Faktoren sowie der funktionale Gesundheitszustand, beispielsweise anhand der ICF (International Classification of Function). Im Hinblick auf das Schmerzgedächtnis bietet die neuronale Plastizität auch gleichzeitig den therapeutischen Ansatz des „Re-Learning“. Dieses muss sowohl auf kognitiver, emotionaler, sozialer und verhaltensbezogener Ebene ansetzen. Grundstein der Behandlung stellt immer eine positive Arzt-Patienten-Beziehung dar. Im Gegensatz zum akuten Schmerz sind die Behandlungsziele beim chronischen Schmerz Schmerzlinderung, besserer Umgang mit Schmerzen und Verbesserung der Lebensqualität.

Quellen u.a.: “Interaktion Schmerz und Psyche”, Vortrag des Fortbildungsreferates der Ärztekammer für Wien gemeinsam mit der Gesellschaft der Ärzte in Wien, Österreichische Schmerzgesellschaft, 15.10.2016 Abbildungen: C. Beyerlein. Manuelle Therapie 2002; 6:151–163

Weitere Literatur beim Verfasser.