Chronische Rückenschmerzen konservativ behandeln

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Wenn es nicht gelingt, die Chronifizierung zu vermeiden, hat sich bei der Therapie chronischer Rückenschmerzen ein multimodales Konzept bewährt. Soziale Faktoren sind davon ein wesentlicher Bestandteil. (ärztemagazin 07/17)

SERIE CHRONISCHER SCHMERZ – TEIL 5 

CHRONISCHE RÜCKENSCHMERZEN gehören zu den häufigsten Schmerzsymptomen und finden sich dementsprechend häufig in der Praxis niedergelassener Ärzte. Nach einer deutschen Untersuchung beträgt die Lebenszeitprävalenz chronischer Rückenschmerzen etwa 25 Prozent (Neuhauser et al. 2005).

CHRONIFIZIERUNG VERHINDERN Zeitlich existiert keine einheitliche Definition für den Begriff „chronisch“. Weitgehend akzeptiert wird ein multidimensionales Modell (Kröner-Herwig 2000), nach dem Rückenschmerz dann als chronisch gilt, wenn er länger als sechs Monate andauert, von kognitiven, emotionalen und behavioralen Beeinträchtigungen begleitet wird und sich behandlungsresistent zeigt. Bei Patienten mit chronischem Schmerz hat der Schmerz seine Warnfunktion verloren und einen eigenständigen Krankheitscharakter angenommen. Heute wird chronischer Schmerz als bio-psycho-soziales Modell mit Beeinträchtigung der jeweiligen Komponenten gesehen. Dieses Modell dient auch als Ansatzpunkt für die Therapie chronischer Rückenschmerzen. Als oberster Leitsatz gilt, dass akute und subakute Schmerzen unter Berücksichtigung des bio-psycho-sozialen Modells so rechtzeitig und ausreichend behandelt werden sollen, dass es erst gar nicht zur Chronifizierung kommt (Klimczyk et al. 2011). Erwähnt werden sollen auch die psychosozialen Risikofaktoren für eine Chronifizierung („yellow flags“) (New Zealand Guidelines Group 1998):

  • pessimistische Einstellung des Patienten gegenüber dem Verlauf der Rückenschmerzen
  • Schmerzvermeidungsverhalten
  • Tendenz zu depressiver Verstimmung und Rückzugsverhalten
  • Bevorzugung passiver Maßnahmen
  • Renten- und/oder Versicherungsansprüche
  • Probleme in der Familie oder am Arbeitsplatz
  • ungünstige Diagnose- und Therapieerfahrungen

Nicht zuletzt sind es auch iatrogene, also durch ärztliche und andere Behandlungsmaßnahmen verursachte Faktoren, die eine Chronifizierung begünstigen (Klimczyk et al. 2011):

  • mangelnde Beachtung der multifaktoriellen Genese
  • Überbewertung somatischer/bildgebender Befunde bei unspezifischen Schmerzen
  • lange, schwer begründbare Krankschreibungen
  • Förderung passiver Therapiekonzepte (Massagen, …)
  • übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen
  • nicht indizierte/unreflektierte Infiltrationen/Operationen

Insbesondere somatische Faktoren als Ursache für chronische Schmerzen werden häufig sowohl von Arzt als auch Patient überbewertet. Dies führt dazu, dass eine Gewebeschädigung als unbedingte Ursache für chronische Schmerzen angenommen wird, und zieht Missverständnisse der Rolle des Arztes wie auch der Therapeuten bei der Behandlung chronischer Rückenschmerzen nach sich. Die Folgen, wenn Behandlungsmodelle akuter Schmerzen auf die Behandlung chronischer Schmerzen übertragen werden, sind in Tab. 1 dargestellt.

MULTIMODALES THERAPIEKONZEPT Das Therapiekonzept bei chronischen Schmerzen unterscheidet sich grundlegend von jenem bei akuten Schmerzen (s. Tab. 2). Bei chronischem Schmerz erweist sich eine multimodale Schmerztherapie als effizient. Diese ist definiert als „gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen, in die verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren nach einem vorgegebenen Behandlungsplan mit identischem, unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind“ (Arnold B et al. 2009). Bestandteile der multimodalen Therapie sind Pharmakotherapie, verhaltensorientierte Physiotherapie, kognitivbehaviorale Psychotherapie und komplementäre Verfahren (z.B. Musiktherapie, kreatives Malen, tiergestützte Therapie). Zu den ärztlichen Aufgaben gehört zudem die kontinuierliche Aufklärung des Patienten über das belastende Krankheitsbild.

QUELLE: MODIFIZIERT NACH WENGLE HP. PREVENTION OF INVALIDISM: THE ROLE OF THE PHYSICIAN. SCHWEIZ RUNDSCHAU MED PRAX 1985; 74: 1020–4.

MEDIKAMENTÖSE THERAPIE Grundsätzlich steht die medikamentöse Therapie bei chronischen Rückenschmerzen nicht an oberster Stelle. Sie kann jedoch zur Unterstützung der nichtmedikamentösen Therapie (z.B. bei aktivierenden Maßnahmen) dienen bzw. erforderlich sein. Wenn Medikamente eingesetzt werden, dann sollten sie nach dem WHO-Stufenschema angewendet werden. Prinzipiell sollten langwirksame Substanzen eingesetzt werden, vorzugsweise Retardpräparate mit verzögerter Freisetzung. Anzustreben ist ein festes Einnahmeschema („nach der Uhr“), um gleichmäßige Blutspiegel zu erzielen. Orale Applikationen sollten bevorzugt werden. Bei Einsatz von Opioiden sollte nach spätestens drei Monaten eine Evaluierung erfolgen. Ist zu diesem Zeitpunkt die gewünschte Schmerzlinderung bzw. Funktionsverbesserung noch nicht eingetreten, ist eine Fortsetzung der Opioidtherapie kontraindiziert.

NICHTMEDIKAMENTÖSE THERAPIEN Im Bereich der psychologischen Interventionen haben sich Relaxationsverfahren, Hypnose, Biofeedback, verhaltenstherapeutische und kognitive Interventionen (z.B. operantes Konditionieren, kognitive Umstrukturierung) sowie Körperübungen/ Körpertherapie bewährt (Kröner-Herwig und Frettlöh 2007). Sinnvoll kann auch kognitiv- behaviorale Verhaltensthe- rapie mit Entspannungsverfahren, z.B. progressive Muskelentspannung, sein. Ebenso können passive Maßnahmen wie Akupunktur, Massagen oder Manipulation unterstützend wirken. Grundlegendes Ziel der psychologischen Interventionen ist eine Verbesserung der Lebensqualität. Physiotherapeutische Maßnahmen umfassen verhaltensorientierte Einzeltherapie, Sport- und Bewegungstherapie in der Gruppe und medizinische Trainingstherapie.

*QUELLE: MODIFIZIERT NACH WENGLE HP. PREVENTION OF INVALIDISM: THE ROLE OF THE PHYSICIAN. SCHWEIZ RUNDSCHAU MED PRAX 1985; 74: 1020–4.

Darüber hinaus können Schulungen in Bezug auf Trainingstherapie und Freizeitverhalten unter den limitierenden Aspekten der chronischen Probleme angeboten werden. Grundprinzipien sind kontinuierliche Steigerung der Belastung (Pacing) und Wiederherstellen von Vertrauen in Bewegung („Graded Exposure“). Damit einhergehen sollte eine Angstminderung beim Patienten. Sozialarbeiterische Beratung arbeitet persönliche, familiäre, berufliche und soziale Probleme der Patienten auf. Wesentliche Punkte dabei sind die berufliche Reintegration (beispielsweise Umschulung, Fortbildung, Arbeitsplatzadaptation), Arbeitsversuche sowie Beratung und Unterstützung in sozialrechtlichen Angelegenheiten.

ZUSAMMENFASSUNG Ziel der Therapie chronischer Rückenschmerzen sind zum einen Veränderungen in der Kognition, aber auch das Erlernen neuer Verhaltensmuster im Alltag. Multimodale Therapiekonzepte sind nicht nur effizient, sondern haben sich auch als nachhaltig erwiesen (Guzman J et al. 2001).

Zielbereiche psychologischer Interventionen

  • Abbau der Hilflosigkeit und dadurch Veränderung des somatischen Krankheitsmodells der Rückenschmerzpatienten zu einer bio-psycho-sozialen Sichtweise
  • Verbesserung der Fähigkeit zum Selbstmanagement der Schmerzerkrankung, d.h. positive Beeinflussung des Schmerzerlebens durch Entspannung, Imagination, Ablenkung, Genuss, Achtsamkeit, Aufbau von Aktivitäten usw.
  • Änderung von Kognitionen, Einstellungen, Steigerung der Selbstwirksamkeit; es geht um die Entwicklung einer neuen Sichtweise der eigenen Person im Umgang mit Schmerzen
  • Akzeptanz, Sinnorientierung; hier geht es um die Entwicklung einer Perspektive, in der die verbleibenden Schmerzen Teil des Lebens sind, aber nicht mehr im Mittelpunkt stehen

Quellen U.A.: Klimczyk K et al. "Chronische Rückenschmerzen – Plädoyer für ein multimodales Therapiekonzept." J Miner Stoffwechs 2011; 18(4):145–152