19. Mai 2016

Gegen den Sturm auf die Spitäler

Der Ansturm der Patienten auf die Spitalsambulanzen hält an. Wie man in den Spitälern und auf der Gesamtebene des Gesundheitssystems gegensteuern kann, war Thema der IN FUSION16.

Die Menschen drängen mangels Zugangsregelung in die Ambulanzen.
Die Menschen drängen mangels Zugangsregelung in die Ambulanzen.

„Der freie Zugang auf allen Ebenen und die jahrelange Vernachlässigung der extramuralen Grundversorgung sind eine riesige Belastung für das österreichische Gesundheitssystem“ konstatierte Univ.-Prof. Dr. Manfred Maier, Vorstand der Abteilung Allgemein- und Familienmedizin am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien. Auf der von der Spitalsärztekurie veranstalteten Tagung IN FUSION16 ging es zwar um die „Attraktivierung des Spitalsstandortes Österreich“, doch es wurde viel über den ungeregelten Zugang zum Gesundheitssystem diskutiert – inklusive niedergelassenem Sektor.

Von 1000 Österreichern finden sich im Laufe eines Monats drei als ambulante oder stationäre Patienten auf einer Universitätsklinik wieder, rechnete Maier vor. Das ist 4,4-mal häufiger als im europäischen Durchschnitt. In Wien ist die Situation noch drastischer: Statistisch suchen 6,3 von 1000 Wienern einmal im Monat das AKH, also die Ambulanzen und Kliniken der Medizinischen Universität Wien, auf. Das ist neunmal so viel wie im europäischen Durchschnitt. „Die Prädiktoren für einen Besuch auf einer Ambulanz im AKH sind höhere Bildung und Migrationshintergrund“, weiß Maier.

Die überhöhte Inanspruchnahme der zweiten und dritten Versorgungsebene – also Fachärzte, Ambulanzen und Krankenhäuser – spiegle sich aber nicht in besseren Ergebnissen für die Bevölkerung wieder, unterstrich Maier. Die Zahl der gesunden Lebensjahre liege in Österreich niedriger als in Ländern, in denen wesentlich weniger Menschen an Universitätskliniken behandelt werden. Dass die Patienten in die Krankenhäuser strömen, sorge natürlich auch für höhere Kosten, betonte der Public-Health-Experte.

Alles strömt

„Ich habe den Eindruck, dass alles ins Spital strömt“: Mit diesen Worten übersetzte Dr. Brigitte Ettl, Ärztliche Direktorin des Krankenhauses Hietzing in Wien, die von Maier genannten Zahlen in eine subjektive Beobachtung. Viele Menschen kämen auf die Notfallambulanzen, die eigentlich im niedergelassenen Bereich behandelt werden sollten, berichtete sie. Unter den 20 häufigsten Annahmediagnosen auf Notfallambulanzen finden sich zum Beispiel grippale Infekte. „Für die Patienten ist die Spitalsambulanz der ,Best Point of Service‘“, erläuterte Ettl: „Wir haben 24 Stunden am Tag geöffnet, es gibt keinen Selbstkostenbeitrag und man bekommt in kürzester Zeit eine hochqualitative Versorgung durch ausgewiesene Fachexperten.“

Auch weitere Gründe spielen für Ettl eine Rolle, warum die Ambulanzen überrannt werden: „Menschen mit Migrationshintergrund haben in ihren Heimatländern kaum oder keinen niedergelassenen Bereich, die sind es daher gewohnt, bei Gesundheitsproblemen ins Krankenhaus zu gehen“, berichtete die Direktorin. So mancher Patient komme auch deshalb am Abend oder am Wochenende in die Ambulanz, weil er Angst um seinen Arbeitsplatz habe und sich daher nicht für einen Arzttermin frei zu nehmen traue, fügte sie hinzu. „Der Druck auf die Spitäler ist ex­trem hoch geworden“, klagte Ettl. Die Ambulanzen seien für den Ansturm der Patienten nicht gerüstet: „Wie im niedergelassenen Bereich haben auch wir einen finanziellen Rahmen, den es einzuhalten gilt.“

„Unser Kerngeschäft ist die akute, ambulante und stationäre Versorgung von Patienten“, bekräftigte Ettl: „Jeder, der Hilfe braucht, soll diese auch bekommen. Aber es ist legitim, darüber nachzudenken, ob er diese Hilfe nicht besser anderswo bekommt.“ Ein politischer Auftrag, der klar festlege, welcher Sektor für welche Teile der Versorgung zuständig ist, sei unabdingbar. Sie tritt dafür ein, dass Leistungen, die im niedergelassenen Bereich erbracht werden können, auch tatsächlich dort erbracht werden. „Nichts führt daran vorbei, den niedergelassenen Bereich aufzuwerten“, ist Ettl überzeugt.

Freie Arztwahl

Genau das wünscht sich auch Maier: „Die ,freie Arztwahl‘ wird in Österreich als ,freier Zugang zu allen Versorgungsebenen‘ missverstanden und missbräuchlich verwendet. Es ist medizinisch und ökonomisch fahrlässig, den freien Zugang zu Fachärzten und Krankenhäusern aufrecht zu erhalten.“ Der Allgemein- und Familienmediziner tritt ganz klar für ein „sinnhaftes Gatekeeping“ ein: „Der Patient muss wissen, dass er sich als Erstes an den Hausarzt wenden muss.“

Stattdessen aber würde die primäre Versorgungsebene, also die Hausärzte, durch mangelnde Anerkennung, unzureichenden Aus- und Weiterbildung sowie Kompetenzentzug und -verweigerung wissentlich geschwächt. „Dass der Pap-Abstrich von einem Gynäkologen durchgeführt wird, das gibt es nur in Österreich“, nannte er ein Beispiel für Kompetenzverweigerung. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung wäre eine ausreichend lange Ausbildung der angehenden Ärzte für Allgemeinmedizin in einer Lehrpraxis. „Aber es gibt nicht die eine Stellschraube, an der man drehen kann, und alle Probleme sind gelöst.“

Terminambulanzen

Solange sich nichts bei der Primärversorgung tut, sind die Spitäler aber auf sich gestellt. Direktorin Ettl erzählte, wie es im Spitalsbereich gelingen kann, durch Strukturänderungen mit dem enormen Patientenaufkommen besser umzugehen. So werden zum Beispiel die Ambulanzen im Krankenhaus Hietzing als Terminambulanzen geführt. Die maximale Wartezeit beträgt 30 Minuten. Das sei eine „große Herausforderung“ gewesen, weil es von den Ärzten nicht nur Fachexpertise, sondern auch Managementfähigkeiten erfordere. „Wenn Spitalsärzte in ihren Wahlarztpraxen Termine vergeben und einhalten, dann muss das ja auch in der Ambulanz möglich sein“, lautete Ettl Herangehensweise an die für ein Spital ungewohnte Art des Patientenmanagements.

Weiters wurde am Krankenhaus Hietzing eine Zentrale Notfallambulanz (ZNA) eingerichtet. „Das hat sich extrem gut bewährt – allerdings hat uns das auch mehr Patienten eingebracht“, resümierte Ettl. Außerdem plädierte die Ärztliche Direktorin für einen Ausbau der Kommunikationsschienen zwischen intra- und extramuralem Bereich. Die beiden Sektoren müssten in sauberer elektronischer Form miteinander kommunizieren und nicht etwa mit händisch ausgefüllten Papierformularen, meinte sie durchaus selbstkritisch. Ettl: „Wenn wir verlangen, dass mehr Patienten im niedergelassenen Bereich betreut werden, dann müssen wir Spitäler eine Form der Kommunikation pflegen, mit der die Mediziner draußen etwas anfangen können.“

Mag. Michael Krassnitzer

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune