Es muss nicht immer Zöliakie sein

@ istockPhoto, Alexey Ivanov

WIEN – Die Prävalenz der Zöliakie liegt weltweit bei etwa einem Prozent. In Umfragen erklären jedoch bis zu 13 % aller Menschen, glutenhältige Nahrungsmittel schlecht zu vertragen. Zumindest bei einem Teil der Betroffenen könnten die Beschwerden auf das relativ neue Krankheitsbild der Nicht-Zöliakie-bedingten Gluten-Sensitivität (NCGS) zurückzuführen sein. Wichtigstes diagnostisches Kriterium ist dabei ein Diätversuch. Zuvor sollte aber eine Zöliakie ausgeschlossen werden.

Die charakteristischen klinischen Bilder der Zöliakie aus den Lehrbüchern sind heute kaum mehr zu finden: „60% der Patienten weisen keine typischen Bauchsymptome auf “, berichtet Univ.-Prof. Dr. Harald Vogelsang, Universitätsklinik für Innere Medizin III, AKH Wien, über den Alltag in der hauseigenen Zöliakie- Ambulanz. Wenn abdominelle Beschwerden auftreten, sind diese oft mild: Statt chronischer Durchfälle und Gedeihstörungen sieht man eher dünne Patienten, die kaum zunehmen und unter Blähungen und breiigen Stühlen leiden.

Alles in allem sind die Symptome sehr unspezifisch und weisen nur eine Sensitivität von 30 % auf. Da viele Zöliakien stumm sind, also keine oder kaum Beschwerden verursachen, wird die Erkrankung häufig erst im Erwachsenenalter festgestellt. Nicht zuletzt aufgrund der verbesserten Diagnostik haben die Prävalenzzahlen der Zöliakie in den letzten 50 Jahren stetig zugenommen. Heute geht man davon aus, dass weltweit im Schnitt jeder 100. Mensch eine glutenbedingte Zottenatrophie hat.

Zöliakie und die (über) 40 Gene

Klar ist, dass die Erkrankung eine genetische Basis hat und familiär gehäuft auftritt. Mittlerweile kennt man über vierzig Gene, die mit der Zöliakie assoziiert sind. Genetische Prädispositionsfaktoren sind vor allem HLA-DQ2 und -DQ8. Zur Manifestation bedarf es aber noch eines zusätzlichen Umwelttriggers: Erhöht ist das Risiko des Auftretens einer Zöliakie zum Beispiel nach einem Kaiserschnitt oder Antibiotikagabe, aber auch bei Geburten im Sommer und frühem Abstillen. Eine mögliche Erklärung ist, dass viele dieser Faktoren Einfluss auf das Mikrobiom haben. Entstehen kann die Zöliakie erst, wenn Gluten zugeführt wurde. Nachdem Gliadin die Epithelbarriere durchdrungen hat, gibt es intrazellulär zwei pathogenetische Mechanismen, die nicht immer gleichzeitig ablaufen: Der eine Weg führt zur Antikörperbildung, der andere zur Zottenatrophie.

„Das erklärt, warum es in seltenen Fällen Menschen gibt, die eine Zottenatrophie, aber keine Antikörper haben und umgekehrt“, erläutert Prof. Vogelsang. Nach den ESPGHAN1-Kriterien muss für die Diagnose einer Zöliakie eine Zottenatrophie der Dünndarmschleimhaut unter glutenhaltiger Kost nachgewiesen werden, die sich unter glutenfreier Diät bessert. In der gastroskopischen Duodenalbiopsie sieht man zusätzlich eine Kryptenhyperplasie und eine Vermehrung der intraepithelialen Lymphozyten. Das histologische Ergebnis sollte immer durch eine positive Serologie (Endomysiale Antikörper, Tissue-Transglutaminase- AK) bestätigt werden. Nach Diagnose einer Zöliakie muss der Patient lebenslang eine strikte glutenfreie Diät einhalten.

Gluten-Sensitivität ohne Zöliakie

Auch ohne Zöliakie fühlen sich viele Reizdarmpatienten unter einer glutenfreien Diät besser. Im Vorjahr gaben 13 % von 1000 befragten Briten an, glutensensitiv zu sein. Die Palette der berichteten Symptome reichte dabei von intestinalen Beschwerden (v. a. Blähungen, Bauchschmerzen, Verstopfung) bis zu Ausschlägen, Müdigkeit, Kopf- und Gelenksschmerzen. 2011 wurde in einer australischen Studie untersucht, ob diese subjektiven Einschätzungen auch eine medizinische Basis haben.

An der doppelblinden, randomisierten Untersuchung nahmen 39 Personen teil, die über gute Erfahrungen mit glutenfreier Diät berichtet hatten. Die Teilnehmer erhielten sechs Wochen lang täglich Backwaren mit oder ohne Gluten. Es zeigte sich, dass im Glutenarm tatsächlich mehr abdominelle Beschwerden auftraten und die Betroffenen unter verstärkter Müdigkeit litten. Was die Symptomatik wirklich auslöst, ist bis heute aber nicht wirklich geklärt.

Gluten, ATI oder Nocebo?

Der Mainzer GastroenterologeProf. Dr. Dr. Detlef Schuppan glaubt, eine mögliche Ursache entdeckt zu haben: Nicht Gluten, sondern Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI) sollen für die schlechte Verträglichkeit von Getreideprodukten verantwortlich sein. Diese Proteine werden in den Ähren als Abwehrstoffe gegen Schädlinge gebildet und lösen in vitro Entzündungsreaktionen aus. Zur Problematik könnte beigetragen haben, dass die ATIKonzentration im Getreide in den letzten Jahren stark gestiegen ist, da die Saatgutindustrie gezielt ATI-reichere (resistentere) Sorten züchtete.

Mittlerweile stellen die australischen Forscher allerdings ihre eigene Studie schon wieder infrage: 2013 veröffentlichten sie eine Folgeuntersuchung, in der alle (nach eigenen Angaben glutensensitiven) Probanden zuerst zwei Wochen lang eine Diät erhielten, die arm an FODMAPs war (= eine Gruppe von Kohlenhydraten und mehrwertigen Alkoholen, die möglicherweise zu Reizdarmsymptomatik führen).

Danach wurden drei Gruppen gebildet: Die Teilnehmer bekamen über eine Woche entweder kein, wenig oder viel Gluten. In einem zweiten Experiment wechselte die Diät der Probanden alle drei Tage. Das ernüchternde Ergebnis: Unabhängig davon, ob ihre Diät ein Placebo oder Gluten enthalten hatte, klagten alle Studienteilnehmer über eine Zunahme ihrer Beschwerden – eigentlich ein deutlicher Hinweis auf einen Nocebo-Effekt.

Umstrittenes Krankheitsbild

Die Nicht-Zöliakie-bedingte Gluten- Sensitivität bleibt also ein umstrittenes Krankheitsbild. Wie soll man nun vorgehen, wenn Patienten angeben, Gluten nicht zu vertragen und möglicherweise eine NCGS vorliegt? „Primär muss immer eine Zöliakie ausgeschlossen werden“, betont Prof. Vogelsang. „Eventuell kann auch eine Allergietestung sinnvoll sein.“ Die IgE-vermittelte Weizenallergie ist mit einer Prävalenz von 0,1 % allerdings ein seltenes Krankheitsbild.

Ein Diätversuch darf erst durchgeführt werden, wenn diese Untersuchungen nichts ergeben haben. Wichtig ist es auch, sich ein Ziel zu setzen: „Wenn nach drei Monaten keine deutliche Besserung feststellbar ist, sollte der Diätversuch abgebrochen werden. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass die Symptomatik nicht durch Gluten verursacht wurde.“

1 European Society of Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition 31. Ernährungskongress des Verbandes der Diätologen Österreichs; Wien, März 2014

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune