Blutdruck: Im Alter darf’s ein bisschen mehr sein

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GRAZ – Im Vorjahr wurden in Amerika und in Europa von verschiedenen Fachgesellschaften mehrere neue Blutdruck-Guidelines veröffentlicht. Auch wenn diese nicht in allen Punkten übereinstimmen, so gibt es doch einen klaren Trend Richtung Lockerung und Vereinheitlichung der Blutdruck-Zielwerte. Für ältere Patienten mit unkomplizierter Hypertonie werden nun systolische Blutdruckwerte bis zu 150 mm Hg als akzeptabel angesehen.

Wie viele Erkrankungen ist auch die Hypertonie ganz klar mit dem Alter assoziiert: Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass heute bereits jeder zweite 50- bis 60-Jährige einen erhöhten Blutdruck hat. In der Altersgruppe über 75 Jahren leiden sogar bis zu drei Viertel der Patienten unter einer Hypertonie. Für das Steigen des Blutdrucks mit dem Alter werden mehrere Faktoren verantwortlich gemacht. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang sicher neurohumorale Mechanismen: Während der Sympathikotonus steigt, sinken die Barosensitivität und die Aktivität des Renin-Angiotensin-Aldosteron- Systems. „Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass RAS-Hemmer bei älteren Patienten weniger gut wirken“, erklärt Prim. Univ.-Doz. Dr. Norbert Watzinger, Leiter der Abteilung für Innere Medizin im LKH Feldbach.

Ein weiterer pathophysiologischer Mechanismus ist die steigende Salzsensitivität: Nicht nur die eingeschränkte Ausscheidung von Salz und Flüssigkeit über die Niere, sondern auch die intrazelluläre Natriumanreicherung tragen dazu bei, dass die Blutdruckwerte im Alter steigen. Ganz entscheidend für die Hypertonie- Entstehung ist auch die zunehmende Steifigkeit der großen Gefäße: Die Druckwelle, die durch die Kontraktion des Herzens und die Volumenverschiebung in die großen Elastizitätsgefäße entsteht, pflanzt sich im Schnitt mit einer Geschwindigkeit von 8 bis 10 m/s über die Gefäßwände fort und ist damit rund zehnmal schneller als die Bewegung der Blutsäule in den Gefäßen selbst. Am Übergang von den elastischen in die muskulären Gefäße wird die Pulswelle reflektiert und in die elastischen Gefäße zurückgeleitet. Die hohe Elastizität der Gefäße junger Menschen fängt einen Teil der Druckund Volumenunterschiede auf und verlangsamt dadurch die Pulswelle. Wenn die elastischen Fasern im Alter zunehmend aufgebraucht und durch kollagene Fasern ersetzt werden, schwächt sich dieser Windkesseleffekt ab und die Geschwindigkeit der Pulswelle steigt. Das führt dazu, dass die Reflexion nicht mehr in der Diastole, sondern in der Systole erfolgt.

Die Folge ist ein Sinken der diastolischen und ein Anstieg der systolischen Blutdruckwerte, also eine Zunahme der Blutdruckamplitude. Findet man bei 40- bis 50-jährigen Hochdruckpatienten noch annähernd gleich häufig systolische, diastolische und kombinierte Hypertonien, dominiert im Alter ganz klar der isolierte systolische Hypertonus (> 90 % der Fälle). Der steigende systolische Blutdruck erhöht die Nachlast, fördert die Entwicklung einer Linkshypertrophie und erhöht den Sauerstoffbedarf des Herzens. Gleichzeitig verschlechtert sich die Koronarperfusion, die ja in der Diastole stattfindet. Klinisch können sich diese Veränderungen als Dyspnoe, Herzinsuffizienz oder Angina pectoris manifestieren. Auch Endorganschäden an der Niere oder am ZNS sind möglich.

Gelockerte Blutdruckziele

In den bisherigen Richtlinien galt es für unkomplizierte Hypertoniker unabhängig vom Alter ein Blutdruckziel unter 140/90 mmHg zu erreichen. Bei Hochrisikopatienten lag der Zielwert sogar bei unter 130/80 mmHg. „Nach den neuen ESC-Richtlinien sind auch für Patienten mit Endorganschäden nur noch Werte unter 140/90 mmHg anzustreben“, erläutert Prim. Watzinger. Lediglich für Diabetiker und Patienten mit Niereninsuffizienz und Proteinurie werden in den europäischen Leitlinien niedrigere Zielwerte empfohlen (Amerikanische Guidelines: < 140/90). Eine Ausnahme sind ältere Patienten, bei denen es mittlerweile ausreichend Evidenz gibt, dass die Zielwerte etwas höher angesetzt werden können (RRsyst < 140– 150 mmHg).

„Bei unter 80-jährigen Patienten, die fit sind und die Behandlung gut tolerieren, kann man wie bisher andenken, den Blutdruck unter 140/90 zu senken“, so Prim. Watzinger. „Diese Empfehlung ist allerdings nur eminenz- und nicht evidenzbasiert.“ Keine wirkliche Antwort geben die Leitlinien auf die Frage, wie die große Zahl von gebrechlichen alten Menschen, die die Medikation schlecht tolerieren, behandelt werden soll. Für diese Gruppe von Patienten gibt es nach wie vor keine Daten. Die höheren Zielwerte für ältere Patienten beruhen vor allem auf den Daten der JATOS-Studie, in der sich zeigte, dass eine stärkere Blutdrucksenkung in dieser Patientengruppe keinen Benefit hat. Eine Erklärung dafür könnte die ‚J-shaped curve‘-Hypothese sein: Während man lange Zeit davon ausging, dass das kardiovaskuläre Risiko ab einem Blutdruck von 115/75 mmHg linear ansteigt, gibt es zunehmend Hinweise aus Beobachtungsstudien, dass auch eine zu starke Absenkung des Blutdruckes die kardiovaskuläre Ereignisrate durch Beeinträchtigung der Autoregulation und Verschlechterung der Organperfusion erhöhen kann.

Grundsätzlich empfehlen die Richtlinien, vor oder auch mit Therapiebeginn lebensstilmodifizierende Maßnahmen einzuleiten. Dass die Raucherentwöhnung in dieser Liste fehlt, hat einen einfachen Grund: Rauchen erhöht zwar das Gesamtrisiko des Patienten, hat aber keinen direkten Einfluss auf die Blutdruckhöhe.

Keine Hierarchie der Wirkstoffe

Wenn mit der Lebensstilmodifikation kein Blutdruck unter 140/90 mmHg erreicht werden kann, sollten Medikamente zum Einsatz kommen. In den neuen ESC-Richtlinien gibt es keine Hierarchie der zu bevorzugenden Wirkstoffe mehr. ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptorblocker, Betablocker, Kalziumantagonisten und Diuretika können gleichwertig verschrieben werden. Entscheidend ist nicht die Wahl des Medikaments, sondern das erreichte Ziel. Es wird den Behandlern auch selbst überlassen, ob sie erst eine Monotherapie ausreizen oder frühzeitig auf Kombinationspräparate umstellen.

Zu den Herausforderungen der Behandlung älterer Hypertoniker gehören Multimorbidität, Polypharmazie, kognitive Beeinträchtigungen und Sarkopenie. Jeder dritte ältere Patient klagt über Nebenwirkungen der antihypertensiven Therapie. Bei der Blutdruckeinstellung sollte insbesondere das Risiko einer erhöhten Sturzneigung bedacht werden. Für die Compliance ist es oft von Vorteil, langwirksame Medikamente und Kombinationspräparate zu verwenden.

N. Watzinger: „Blutdruck im Alter“, Fortbildung am Punkt; Graz, März 2014

Die nächsten Termine:
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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune