3. Aug. 2020COVID-19

Diverse neurologische Manifestationen möglich

Foto: angkhan/iStock
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Die COVID-19-Pandemie beschäftigt auch die Neurologie. Denn das Virus kann sowohl direkt das zentrale Nervensystem befallen als auch über eine erhöhte Gerinnungsneigung zu Schlaganfällen führen. Beobachtet werden auch Spätkomplikationen wie das Guillain-Barré-Syndrom. (CliniCum neuropsy 3/20)

Obwohl COVID-19 sich primär als Erkrankung der Lunge präsentiert, wurden im Verlauf der Pandemie auch zahlreiche Fälle mit unterschiedlichen neurologischen Manifestationen bzw. Komplikationen der Erkrankung beschrieben. Ein neurotropes Potenzial des Virus war zu erwarten, da verschiedene Coronaviren in Tieren das Nervensystem befallen können, so Kenneth L. Tyler, MD, Professor für Medizin und Mikrobiologie, Chair of Neurology, University of Colorado School of Medicine, Aurora. Mögliche Manifestationen sind akute, chronische, persistierende und immunmediierte demyelinisierende Erkrankungen.

Häufig Geruchs- und Geschmacksverlust

Darüber hinaus können Coronaviren verschiedene Zellen im zentralen Nervensystem (ZNS) über glutamaterge Exzitotoxizität und Apoptose töten. Dabei stehen den Viren unterschiedliche Wege offen, um in das Nervensystem einzudringen und sich dort auszubreiten. Die Viren können hämatogen verbreitet werden und die Blut-Hirn- Schranke durchdringen, sie können aber auch über Hirnnerven (N. trigeminus und N. olfactorius) in den Wirt eindringen und sich transneuronal oder durch axonalen Transport ausbreiten. In diesem Sinne sei das bei COVID- 19 häufig beobachtete Symptom des Geruchs- und Geschmacksverlustes bemerkenswert. In einer europäischen Studie mit mehr als 300 COVID-19-Patienten zeigten 86 Prozent olfaktorische Dysfunktion, meist im Sinne einer Anosmie, die sich bei der Mehrzahl der Betroffenen innerhalb von acht Tagen wieder rückbildete.1

Bei SARS- und MERS-Ausbrüchen wurden auch beim Menschen in wenigen Fällen neurologische Manifestationen beobachtet. Dabei wurde ein breites Spektrum an Krankheitsbildern gesehen, das von akuter Enzephalitis über Enzephalopathien im Rahmen eines Multiorganversagens und zerebrovaskuläre Komplikationen (Schlaganfälle) bis zu immunmediierten Spätmanifestationen im Sinne eines Guillain-Barré-Syndroms, einer akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) oder peripherer Polyneuropathien reichte. SARS-Viren konnten in Nervenzellen aus Gehirnen verstorbener SARS-Patienten nachgewiesen werden.2

SARS-CoV-2: höhere Affinität zum Nervensystem?

Insofern war es zu erwarten, so Tyler, dass auch SARS-CoV-2 zu ähnlichen neurologischen Zustandsbildern führen würde. Der besondere Infektionsmechanismus von SARS-CoV-2 deutet im Vergleich zu SARS und MERS sogar auf eine höhere Affinität zum Nervensystem hin. Denn SARS-CoV-2 nützt als Eintrittspforte in die Zelle das Enzym ACE2 (Angiotensin Converting Enzyme). Während das bekanntere ACE1 für die Umwandlung von Angiotensin I in das vasokonstriktive Angiotensin II zuständig ist, katalysiert ACE2 die Transformation von Angiotensin I und II in mehrere vasodilatatorische Komponenten.3 ACE2 wird in unterschiedlichen Geweben unterschiedlich stark exprimiert, wie eine britische Gruppe bereits vor fast 20 Jahren anhand der Expression der für ACE2 kodierenden Messenger-RNA nachwies. Die Forscher fanden eine hohe ACE2-Expression nicht nur in Geweben des kardiovaskulären Systems, sondern auch in der Niere, im Gastrointestinaltrakt – und im ZNS.4 Tatsächlich wurde die erste Fallserie mit Patienten mit neurologischen COVID-19-Manifestationen bereits relativ bald nach Beginn der Pandemie von einer Gruppe aus Wuhan prominent publiziert.5

Die Studie zeigte bei schwer erkrankten COVID-19-Patienten eine Prävalenz neurologischer Symptome von mehr als 30 Prozent, sechs Prozent zeigten zerebrovaskuläre Komplikationen. Ähnliche Zahlen wurden laut Tyler von anderen Gruppen in anderen Ländern und Zentren berichtet. In einer kleinen Studie wurden bei rund der Hälfte der Patienten mit neurologischen Symptomen Auffälligkeiten im MRT nachgewiesen. Dabei blieb der Liquor frei von Viren, gelegentlich wurde erhöhtes Protein gefunden, niemals jedoch oligoklonale Banden.6

Schlaganfälle durch erhöhte Gerinnungsneigung

Bei COVID-19 ist auch das Schlaganfallrisiko erhöht. In einer chinesischen Fallserie wurden Patienten beschrieben, bei denen es acht bis 24 Tage nach Beginn der COVID-Symptomatik zu Verschlüssen großer Hirngefäße mit schweren Schlaganfällen kam, die oftmals multiple Territorien betrafen. Gemeinsam war diesen Patienten ein ausgeprägter prothrombotischer Zustand, insbesondere mit stark erhöhtem D-Dimer. Auch Antiphospholipid-Antikörper wurden gefunden.7 Weitere Fallserien in anderen Zentren zeichneten ein ähnliches Bild, wobei Tyler darauf hinweist, dass auch jüngere Patienten ohne Risikofaktoren schwere Schlaganfälle im Verlauf von COVID-19 erlitten. Dies passt gut zu Studien, die eine generell erhöhte Thromboseneigung im Rahmen von COVID-19 zeigen.

So wurden bei Autopsien in mehr als der Hälfte der Fälle tiefe Beinvenenthrombosen gefunden und Pulmonalembolien als häufige COVID-Todesursache identifiziert.8 Eine chinesische Studie fand bei 71 Prozent einer Serie von an COVID-19 verstorbenen Patienten eine disseminierte intravaskuläre Koagulation.9 SARS-CoV-2 zeigt einen starken Tropismus für Endothelzellen, der mit der erhöhten Gerinnungsneigung und thromboembolischen Komplikationen in unterschiedlichsten Organen in Verbindung gebracht wird. Deutlich seltener als zu zerebrovaskulären Komplikationen kommt es zu einer direkten Infektion von Gehirn oder Meningen. Bei den oftmals jungen Betroffenen kann – muss aber nicht – das Virus im Liquor nachweisbar sein. Entzündungsmarker im Liquor sind jedoch vorhanden.

Tyler spricht in diesem Zusammenhang von Enzephalitis I (Virusnachweis im ZNS positiv) und II (Virusnachweis im ZNS negativ). Klinisch äußern sich beide Enzephalitis- Typen in Bewusstseinstrübung bis zum Koma oder anderen neuropsychiatrischen Auffälligkeiten in Verbindung mit fokalen Zeichen. Auch Anfälle bis hin zum Status epilepticus kommen vor. Davon zu unterscheiden ist eine ebenfalls im Verlauf von SARS-CoV-2-Infektionen vorkommende Enzephalopathie, bei der im Liquor kein Virus und keine Entzündungsmarker vorhanden sind und auch fokale Zeichen nur selten auftreten. Fälle von akuter nekrotisierender Enzephalopathie wurden beschrieben.

Spätkomplikationen bei alten und jungen Patienten

Auch Fälle von Guillain-Barré-Syndrom (GBS) wurden beschrieben. In einer italienischen Fallserie zeigten alle fünf Patienten mit GBS-Areflexie und schlaffe Lähmungen, in drei Fällen kam es auch zum respiratorischen Versagen.10 Es sei zum aktuellen Zeitpunkt völlig unklar, so Tyler, ob die bei GBS üblicherweise eingesetzten Therapien (Plasmapherese, Immunglobuline, Glukokortikoide) auch bei diesen Patienten wirksam und sicher sind. Ebenfalls von COVID-19 betroffen kann die Muskulatur sein. Aus Wuhan werden Schädigungen der Muskulatur (definiert durch eine Kreatin-Kinase über 200U/L) bei elf Prozent der hospitalisierten Patienten berichtet.11 Auch schwere Verläufe im Sinne einer Rhabdomyolyse wurden beschrieben.

Sorgen bereitet den Experten nicht zuletzt ein vermehrtes Auftreten von Kawasaki-Syndrom (oder zumindest eines Kawasaki-ähnlichen Zustandsbildes) als Spätkomplikation bei jungen und pädiatrischen COVID-19-Patienten. Eine italienische Studie errechnete für die stark von COVID-19 betroffenen Regionen einen Anstieg der Kawasaki-Inzidenz auf das 30-Fache der sonst in Italien diagnostizierten Fälle. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen waren im Schnitt älter als die Kawasaki-Patienten der letzten Jahre und leider auch schwerer erkrankt, mit einer hohen Rate kardialer Beteiligung und Makrophagen-Aktivierungssyndrom.12 Bei den Patienten konnten mit hoher Wahrscheinlichkeit Antikörper gegen SARS-CoV-2 als Zeichen einer überstandenen Infektion nachgewiesen werden. Erhöhter Forschungsbedarf hinsichtlich neurologischer Symptome und Komplikationen bei COVID-19 sowie hinsichtlich möglicher neurologischer Sequalae besteht zweifellos.

Aus diesem Grund hat die EAN unter ihren Mitgliedern eine Umfrage zu den neurologischen Manifestationen der Erkrankung begonnen. Deren erste Ergebnisse wurden im Rahmen des virtuellen EAN-Kongresses von Dr. Elena Moro, Professorin für Neurologie, Department Psychiatry, Neurology and Neurological Rehabilitation, CHU de Grenoble, Joseph Fourier University, Grenoble, vorgestellt. In den bereits mehr als 5.000 Antworten gab die Mehrzahl der Befragten an, bislang weniger als zehn Patienten mit einer Neuro-SARS-CoV-2-Erkrankung gesehen. Die meisten dieser Patienten hatten vor der neurologischen Manifestation klassische COVID-Symptome. Die Ergebnisse der Befragung sollen in Kürze publiziert werden.

Referenzen:
1 Lechien JR et al., Eur Arch Otorhinolaryngol 2020; 6:1–11
2 Gu J et al., J Exp Med 2005; 202(3):415–424
3 Vaduganathan M et al., N Engl J Med 2020; 382(17):1653–1659
4 Harmer D et al., FEBS Lett 2002; 532(1–2):107–110
5 Mao L et al., JAMA Neurol 2020; 77(6):683–690
6 Mahammedi M et al., Radiology 2020;doi.org/10.1148/radiol.2020201933
7 Zhang Y et al., N Engl J Med 2020; 382(17):e38
8 Wichmann D et al., Ann Intern Med 2020; M20-2003
9 Zhang Y et al., N Engl J Med 2020; doi:10.1056/NEJMc2007575
10 Varga Z et al., Lancet 2020; 395(10234):1417–1418
11 Toscano G et al., N Engl J Med 2020; doi: 10.1056/NEJMc2009191
12 Verdoni L et al., Lancet 2020; 395:1771–1778

Quelle: 6th Congress of the European Academy of Neurology („Virtual EAN 2020“), 23.–26.5.20

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy