29. Okt. 2018

„Unser Wissen ist Milliarden wert“

Mit Oktober startete in Böheimkirchen das erste Primärversorgungszentrum in Niederösterreich. Medical Tribune fragte nach, wie der erste Arbeitstag verlaufen ist, und bekam eine ziemlich politische Antwort. (Medical Tribune 41/18)

Ein typischer Montag, „vollkommen unspektakulär“. So beschreibt Dr. Christoph Powondra den 1. Oktober 2018 – den Tag, an dem in Niederösterreich die erste Primärversorgungseinheit (PVE) ihren Betrieb aufnahm. Rund 300 Patienten sind gekommen. „Genau wie immer“, lacht er und bald wird klar, dass er kein blutiger PV-Anfänger ist, sondern einer, der weiß, wie der Hase läuft oder laufen könnte. Mit zwei Kollegen hat er schon seit 2003 im „Gesundheitshaus“, einem Gebäude, das Powondra um eine Dreiviertelmillion in Böheimkirchen, Bezirk St.Pölten-Land, „hingebaut“ hat und wofür er heute noch den Kredit bedient, eine große allgemeinmedizinische Praxis betrieben. In der oberen Etage waren ein Physiotherapeut und eine Psychotherapeutin eingemietet.

„Wir hatten damals schon von 7–19 Uhr, also 60 Stunden, offen“, erzählt er. Aber irgendwann ging sich das betriebswirtschaftlich, mit Einzelverträgen, nicht mehr aus. Daher wechselten sie 2014, mittlerweile zu viert, in eine Gruppenpraxis, zumal in Niederösterreich die Abschläge (3,5 Prozent) fielen, woran Powondra und Kollegen nicht ganz unbeteiligt waren. „Als wir dann die Pilot-PVE-Vereinbarung (der NÖ Ärztekammer, Anm.) gesehen haben, wussten wir, dass wir nicht viel ändern müssen – sie war uns quasi auf den Leib geschrieben“, erklärt der engagierte Primärversorger, warum die 5.000-Einwohner-Marktgemeinde die erste von 14 PVEs in Niederösterreich hat. Anfang 2019 sollen weitere zwei in Schwechat und St. Pölten folgen. Die Ärzte, nun zu fünft – darunter Dr. Katharina Ginsthofer-Schwetz, eine ehemalige Lehrpraktikantin der Gruppenpaxis –, reizte die interdisziplinäre Zusammenarbeit, „deswegen haben wir es gemacht“.

Nicht vorrangig aus betriebswirtschaftlicher Sicht, obwohl das Honorierungsmodell mit Grundpauschalen (80.000 Euro pro Arzt und Jahr) plus Pro-Kopf-Pauschalen „nicht unspannend“ sei. Attraktiver ist aber laut Powondra, dass die nichtärztlichen Gesundheitsberufe sowie der PVE-Manager von NÖGKK und Land NÖ finanziert werden. Die DGKS und sieben Ordinationsassistentinnen sowie die angemieteten Räumlichkeiten müssen freilich von der Grundpauschale bezahlt werden – damit dürfte die Hälfte dieser wegfallen. Auch weil wahrscheinlich noch eine zweite DGKS nötig sei, „das war eine Fehleinschätzung, nur eine anzustellen und zu glauben, alles selber machen zu müssen“. Das Gleiche gelte für die Kodierung, eine „Herausforderung für uns Ärzte“, die viel Zeit am Abend benötigt habe. Insgesamt dürften sich die Einkünfte der Ärzte verbessern, was „bei aller Liebe zum Beruf“ natürlich auch zähle: „Wir waren vorher sicher unterbezahlt, mit einem Stundenlohn von zirka 65 Euro – also weit weg von Kollegen mit Hausapotheken.“

Streitereien aushalten

Berührungsängste mit anderen Berufsgruppen hat er keine: „Jeder bringt etwas Neues aus seinem Metier mit“, freut sich Powondra auf die Möglichkeit, von den anderen im Team zu lernen, „da sind viele Aha-Erlebnisse dabei.“ Mögliche Kontroversen, wie mancherorts aus anderen PVEs zu hören ist, bestätigt er: „Das stimmt, aber Streitereien muss man aushalten können und man muss auch manchmal etwas schlucken können, wenn man im Team nicht immer seine Vorstellungen durchbringt.“ Natürlich müsse man gerne im Team arbeiten, das sei nicht jedermanns Sache. Vor allem müsse man bereit sein, vieles auszureden und sich Zeit dafür zu nehmen. Er ist überzeugt, dass aus den PVE-Piloten viel Wissen generiert werde, das in Zukunft verwendbar ist.

„Das Wissen der Allgemeinmediziner ist Milliarden Euro für die österreichische Volkswirtschaft wert, wird aber bisher nicht genug genützt, schade drum“, erinnert Powondra jene, die an den gesundheitspolitischen Hebeln sitzen, an viele vermeidbare Ambulanzbesuche durch eine gestärkte PV. Aber: „Wir kriegen eine auf den Deckel, wenn wir viele Visiten fahren“, obwohl das dem System viele Hospitalisierungen erspare. Das Problem liege in der dualen Finanzierung, hier müsse sich etwas ändern, damit das Gesundheitssystem nicht „an die Wand donnert“. Wenn das politische System so weiter arbeite, „wird das Wissen der Allgemeinmediziner, wer wann wo am besten versorgt wird, also der viel zitierte ‚Best Point of Service‘ (BPS), verloren gehen.“ Dieser BPS müsse auch nicht immer der Arzt sein, manchmal sei der Patient beim Physiotherapeuten besser aufgehoben. Apropos: Die Psychotherapeutin hatte gleich am ersten Tag einige Termine ausgefasst.

Steckbrief
In der „PVE Böheimkirchen – Zentrum für medizinische und soziale Versorgung“ arbeiten fünf Allgemeinmediziner: Dr. Christoph Powondra, Dr. Sandra Fremuth, Dr. Katharina Ginsthofer- Schwetz, Dr. Michaela Hunger-Köchelhuber, Dr. Edith Pöll-Powondra. Im Team sind sieben Ordinationsassistentinnen, eine DGKS, drei Physiotherapeut/innen, eine Sozialarbeiterin, eine Psychotherapeutin und eine Diätologin.
www.pve-boe.at  

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune