7. Juni 2023Suchtprävention

„Snus“: Warum Jugendliche Nikotinbeutel nehmen

Zum Chillen, Einschlafen, vor dem Sport, in der Schule oder Arbeit – „Snus“, wie Jugendliche irrtümlich zu den Nikotinbeuteln sagen, liegt im Trend, zeigt eine Vorstudie aus Oberösterreich. Verboten sind sie gesetzlich (noch) nicht. Was das Umfeld trotzdem tun kann.

Männliche Hände halten eine Schachtel Snus mit Nikotinspinnen in der Hand.
Irina Piskova/GettyImages

Obwohl optisch ähnlich, gibt es einen wesentlichen Unterschied: Bei Snus handle es sich um ein traditionell schwedisches Tabakprodukt mit einem Vertriebs- und Verkaufsverbot innerhalb der anderen EU-Länder, erklärt Mag. (FH) Nicole Hartmann, Institut Suchtprävention pro mente OÖ, in einem Webinar der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) für Eltern und Lehrpersonal.

Nikotinbeutel enthalten dagegen keinen Tabak. Damit fallen sie auch nicht unter das Tabak- und Nichtraucherinnen- bzw. Nichtraucherschutzgesetz (TNRSG 2019), wonach das Verbrennen, Erhitzen und Verdampfen von Tabak für unter 18-Jährige verboten ist. Derzeit arbeite das Gesundheitsministerium (BMSGPK) an einer entsprechenden Ergänzung für Nikotinbeutel.

Selbstverpflichtung der Trafiken funktioniert nicht

Auch die Jugendschutzgesetze der Länder, die Bestimmungen zu Tabak- und verwandten Erzeugnissen enthalten, lassen Nikotinbeutel bisher außen vor. In Oberösterreich gebe es seit Herbst 2022 eine „Selbstverpflichtung“ der Trafikantinnen und Trafikanten zur Nichtabgabe an unter 18-Jährige, berichtet Hartmann.

Viele Trafiken dürften sich jedoch nicht daran halten. Denn die Jugendlichen könnten die Nic Bags „durch die Bank“ fast immer ohne Probleme kaufen, nimmt Hartmann ein Ergebnis einer rezenten Vorstudie im Rahmen eines Projekts vorweg. Die rechtliche Lage erlaube sogar Nikotinwerbung, wenn kein Tabak enthalten ist. Die Message: „Zigaretten sind out – Nic Bags sind in.“

„Boom“ von Nikotinbeuteln in den letzten Jahren

Seit 2019 sind Nikotinbeutel am österreichischen Markt verfügbar – in diversen Geschmacksrichtungen. Hartmann spricht von einem „Boom“ seit zirka 2021, Tendenz steigend. Die Trägersubstanzen wie Salze, Tees und Zellulose geben Nikotin an die Mundschleimhaut ab. Die Verweildauer der Säckchen betrage 10–20 Minuten, manche würden sie aber auch 30 Minuten im Mund lassen.

Das Problem: Das Suchtpotenzial ist bei den Nic Bacs ebenso gegeben wie bei den Tabakprodukten. Der Nikotingehalt ist sehr hoch, ein Beutel enthält 4–47,5mg Nikotin. Manchmal sogar mehr, berichtet Hartmann. Im Schnitt werden 50–60%, bis hin zu mehr als 80%, im Körper freigesetzt.

Gerade bei Erstkonsum kann es daher zu Überdosierung und Nikotinvergiftung kommen. Die Symptome reichen von Übelkeit über Kopfschmerzen bis hin zu Vergiftungserscheinungen, Kreislaufkollaps und Atemlähmung. Für Kinder könne Nikotin lebensbedrohlich sein, ordnet Hartmann das Gefahrenpotenzial ein.

Ärztliche Anfragen bereits im Herbst 2020

Im Institut Suchtprävention gab es im Herbst 2020 die ersten Anfragen bezüglich „Snus“ und/oder Nikotinbeutel von Ärztinnen und Ärzten aus Schulen und Betrieben, Lehrpersonal sowie Lehrlingsbetreuern und -betreuerinnen. Seit Frühsommer 2022 verzeichneten die Suchtpräventionsstellen einen starken Anstieg der Anfragen zum Thema Nikotinbeutel.

Da es kaum Studien und Befunde gibt, starteten der Verein I.S.I. (Initiativen für soziale Integration) und das Institut Suchtprävention ein gemeinsames Projekt mit der bereits erwähnten „Vorstudie“. In diese flossen einerseits erste Erfahrungen aus 15 Workshops mit Lehrlingen und andererseits 27 leitfadengestützte, qualitative Interviews mit Klientinnen und Klienten von Jugendzentren und Jugendstreetwork des Vereins I.S.I. in Traun, Enns, Ansfelden und Leonding ein.

50 Prozent konsumieren 5–10 Beutel täglich

Die Workshops fanden von November 2022 bis Februar 2023 statt, die Interviews im Februar 2023. Von den 27 Interviewten waren 23 männlich, 13 waren 14–16 Jahre alt, zehn 12–13 Jahre und vier 18–22 Jahre. Der Großteil hatte einen Migrationshintergrund. Den Jugendlichen ist der Unterschied von Nikotin- und Tabakbeuteln übrigens nicht bekannt, sie sagen umgangssprachlich „Snus“, meinen aber Nikotinbeutel ohne Tabak.

Zu den Ergebnissen dieser Vorstudie: 19 Interviewte konsumieren täglich. Etwa die Hälfte nehmen 5–10 Beutel pro Tag, einzelne konsumieren sogar eine Dose täglich (bis zu 24 Beuteln). Zwei der Befragten hatten den Konsum zum Interviewzeitpunkt bereits beendet. Die Dosierungserhebung sei sehr schwierig gewesen, da die Herstellerangaben nichts über die Nikotinmenge aussagen.

In der Schule niedrigere Dosierungen

Dennoch werden im Alltag auch oft unterschiedliche Dosierungen verwendet, wie die Workshops zeigen. „Die meisten wissen genau, wie viel Nikotin enthalten ist“, schildert Hartmann. Unter der Woche in der Arbeit oder in der Schule würden sie Nic Bags mit weniger Nikotin konsumieren, am Wochenende dagegen mehr. Die Verfügbarkeit sei wie erwähnt kein Problem.

Fast jede Trafik verkauft die Nikotinbeutel, ansonsten gehen die Jugendlichen in Tankstellenshops oder zu Automaten. Den Altersschutz tricksen sie aus, indem sie sich eine Bankomatkarte von älteren Freunden ausleihen, manche bitten auch unbekannte Erwachsene um die Karte. Höhere Dosierungen sind vor allem über das Internet erhältlich, beliebt sind auch Einkaufsfahrten nach Tschechien, wo es mehr Auswahl gibt.

Bis zu 180 Euro pro Monat an Ausgaben

Ein 14-jähriger Interviewter gab an, zwischen 140 und 180 Euro im Monat für „Snus“ auszugeben. Auf die Frage, woher er so viel Geld bekomme, nannte er: Er kriege Taschengeld, schnorre Geld bei Freunden und manchmal klaue er es von den Eltern. Konsumiert werde überall, berichtet Hartmann: Schule, Arbeitsplatz, Öffis, alleine oder gemeinsam.

Die Motive sind ganz unterschiedlich, wie z.B. bewusster Individualkonsum, um die Welt um sich herum zu vergessen (w, 14a) oder Konsum mit Freunden: „Das ist einfach so chillig … und es macht jeder. Wir fühlen uns alle gleich.“ (3 Interviewte, m, 14–16a). Sogar zum Einschlafen wird konsumiert: „Da warte ich immer, bis meine Eltern schlafen gehen, und dann nehm ich ein paar.“ (m, 14a). Ein 13-Jähriger berichtet, dass er damit „gut einschlafen“ könne.

„Mal abschalten“ vs. „Es kickt einfach“

Das Wirkungsspektrum sei „bivalent“ – mit Entspannung und Stimulierung – und ein erwünschter Effekt. Einerseits „schiebe“ ein stärkerer Nic Bag, „es kickt einfach“, „es ballert“, berichten mehrere Interviewte, auch „vorm Training“ als Motivationssteigerung und gegen die Müdigkeit. Andererseits werde „Chillen“ als Motiv am häufigsten genannt, „zum Runterkommen“ und „mal abschalten“.

Neben Alltagsstrukturierung, Coping-Strategien und Gefühlsregulierung (Stimmungsaufhellung) spiele auch die Modellfunktion eine Rolle: „Berühmte Fußballer nehmen es auch.“ Manche sammeln sogar die Dosen als Zusatzbenefit.

Erbrechen als kalkulierter Nebeneffekt

Die Jugendlichen berichten aber auch von negativen Erfahrungen wie Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, Müdigkeit, Aggressivität, Traurigkeit und Gewöhnung. Das Erbrechen sei bei einigen ein „kalkulierter Nebeneffekt“, erzählt Hartmann. Sie wüssten, dass sie sich meistens nach dem Konsum übergeben müssen. „Danach folgt die Entspannung, dieses Erleben wollen sie haben, egal was davor war“, so die Erfahrung.

Außerdem gehe es auch um Wettbewerb, Mutproben, Experimentieren und Grenzen ausloten: „Einmal hab ich sechs Stück gleichzeitig reingegeben und hatte einen Nikotinschock, habe erbrochen und mir war so schlecht.“ (m, 14a) Manchmal würden andere „zum Spaß“ überdosiert, um zu schauen, wie sie darauf reagieren.

Nikotinbeutel werden auch als „gesündere“ Alternative zu Zigaretten gesehen, „um die Lunge zu schonen“ oder „weil Rauchen trotzdem mehr schädigt als Snus“. Ein 22-Jähriger findet die Nikotinsäckchen zwar nicht cool, nimmt sie aber als Zigarettenersatz. Seither habe er eine bessere Kondition beim Sporteln.

Werbesprüche setzen punktgenau an

Weitere Motive als Alternative zu Zigaretten sind rechtliche Belange („beim Rauchen kann man leichter erwischt werden“), Lifestyle („stinke nicht mehr nach Zigaretten“) und die Unsichtbarkeit des Konsums für Lehrpersonen oder Eltern: „Meine Mutter merkt auch nichts, wenn ich sie nehme“, sagte ein 12-Jähriger. Nicht zuletzt würden Werbeversprechen eingelöst, so Hartmann, wie etwa „grenzenlose Freiheit“, „Nikotin genießen“, „unauffällig wie nie zuvor, ganz ohne Tabak“.

Im Fazit betont sie vor allem die „Niederschwelligkeit des Konsums“. Nic Bags sind selbst für unter 14-Jährige sehr gut verfügbar. Es komme zu einer „Entgrenzung“, da der Konsum in fast allen Lebensbereichen stattfinde. Gefühlsregulation, Coping, Doping, Entspannung und Genuss seien fast „grenzenlos“ möglich. Zudem benötigt der Konsum kaum Vorkenntnisse und unterschiedliche Dosierungen erlauben auch „sanfteren Probierkonsum“.

In Schulen Verbot über Hausordnung möglich

Auf die Frage, was nun zu tun sei, gebe es keine 100-prozentige Antwort, räumt Hartmann ein. Das Ziel sei jedenfalls, eine „problematische Konsumentwicklung und Abhängigkeit“ zu verhindern. Für die Schulen empfiehlt sie, eine Vereinbarung bzw. Verbot und Abnahme über die Hausordnung zu regeln.

Generell müsse das Thema „bearbeitbar“ sein: offene und klärende Gespräche (Einzelperson, Klasse, Schule), Bewusstseinsbildung im Kollegium, Sensibilisierung der Eltern durch Information, Schul- und Klassenforen sowie Elternsprechtag, Coaching durch Fachstellen für Suchtprävention im jeweiligen Bundesland.

Eltern: Vorbildwirkung und offene Gespräche

Eltern rät sie, Regeln für den Umgang mit Nikotin aufzustellen. Wenn man selbst rauche oder Nikotin anderweitig konsumiere, sollte man achtsam damit umgehen und vor allem nicht in Gegenwart von Minderjährigen konsumieren. Komme man gestresst nachhause und gehe man gleich „eine rauchen“, sei dies kein gutes Vorbild für eine Coping-Strategie.

Außerdem wüssten die Jugendlichen, dass Nikotin nicht gesund sei. In diesem Wissen sollte man sie mittels sachlicher Information über Risiken bestärken. Stärken sollte man auch ihre Selbstwirksamkeit und vor allem ihre Erfahrungen einbeziehen und sie danach fragen. Generell gilt: „Reden Sie darüber – ein offenes Gespräch mit Jugendlichen ist immer eine gute Option!“

Da die Fachstellen für Suchtprävention, wie der Name schon sagt, vor allem für die Prävention zuständig sind, verweist Mag. Melanie Stulik abschließend noch auf das „Rauchfrei-Telefon“ der ÖGK hin. Ob vor Ort oder Online, ob Telefon oder per App – es gibt viele Angebote, um von einer Nikotinabhängigkeit loszukommen (siehe Webtipps).

Nikotinbeutel als „Nikotinbomben“

In der Diskussion betont DSA Dieter Geigle, MA, Institut Suchtprävention pro mente OÖ, dass das oft gehörte Argument, Nikotinbeutel seien „nikotinärmer“, nicht stimme. Im Gegenteil, es handle sich im Vergleich zu Zigaretten um „Nikotinbomben“. Was die Verbrennungsprodukte anbelangt, seien die Zigaretten natürlich schädlicher, insofern komme es schon zu einer „harm reduction“.

Geigle bestätigt auf Nachfrage auch, dass auf Bundesebene gesetzliche Regelungen zu Nic Bacs in der TNRSG „in der Pipeline“ seien, „wir warten darauf“. Unabhängig davon kämen in Oberösterreich ab 1. Jänner 2024 Regelungen zu den Nikotinbeuteln ins oö. Jugendschutzgesetz.

Auch in anderen Ländern seien gesetzliche Verbote geplant oder bereits umgesetzt, verweist Geigle auf das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (Stand Oktober 2022): Demnach sind in den Niederlanden Nikotinbeutel, die 0,035mg oder mehr Nikotin enthalten, seit dem 9. November 2021 verboten. In Dänemark ist die Einführung eines nationalen Registers für tabakfreie Nikotinbeutel geplant.

ÖGK-Webinar: Neue Herausforderung: Nikotinbeutel – Warum die Produkte vor allem Jugendliche ansprechen, 5. Juni 2023

Webtipps

https://www.gesundheitskasse.at/cdscontent/?contentid=10007.885218&portal=oegkportal

https://rauchfrei.at/neue-herausforderung-nikotinbeutel/

https://www.praevention.at/sucht-und-suchtvorbeugung/suchtmittel/nikotin

https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Drogen-und-Sucht/Pr%C3%A4vention-und-Therapie/Fachstellen-f%C3%BCr-Suchtpr%C3%A4vention.html
(Liste der Fachstellen für Suchtprävention in Österreich)