3. Okt. 2018

„Wir sind für die Erde gemacht“

Astronaut Hans Schlegel gibt einen umwerfenden Einblick in seine Reisen in unendliche Weiten. Wird der Körper schwerelos, rutschen die Innereien nach oben, aber intellektuelle Gedanken nach unten – ins Herz. (Medical Tribune 40/18)

ESA-Astronaut Hans Schlegel beim Außenbordeinsatz.

Wenn einer eine Weltraumreise tut, dann kann er was erzählen. So wie der deutsche Astronaut Hans Schlegel aus Houston, USA, auf der Reisemedizin- Tagung in Linz. Zwei Shuttle-Flüge hat er in seiner 30-jährigen Astronautenlaufbahn hinter sich. Das eine Mal mit der Raumfähre Columbia, 1993, eine zehntägige deutsch-amerikanische Forschungsmission. Das andere Mal 2008, für 13 Tage zur ISS (International Space Station): „Wir haben das europäische Forschungsmodul Columbus an die ISS angedockt.“ Aktuell unterstützt er Kollegen der Europäischen Weltraumorganisation ESA beim Training bei der US-Raumfahrtbehörde NASA für Langzeitaufenthalte auf der ISS. Die ISS, 450 Tonnen schwerelos, fliegt mit 28.000 km/h atemlos schnell: in eineinhalb Stunden einmal um die Erde, das sind 16 Sonnen- bzw. Sonnenaufgänge in 24 Stunden.

Der 140 kg schwere EVA-Raumanzug wiegt ebenfalls nichts in der Schwerelosigkeit, wehrt sich aber bis dorthin gegen die hohe Beschleunigung. „Unsere Reiseprophylaxe fängt in der Ausbildung an: Wenn wir einem konkreten Flug zugeteilt werden, sind wir drei Jahre lang nicht länger als sechs Wochen an einem Platz“, sagt Schlegel. Trainiert wird in den USA, Kanada, Russland, Japan sowie in Europa, v.a. in Deutschland, den Niederlanden und Belgien. Nachsatz: „Wir sind praktisch die Reisenden, die immer alle reisemedizinischen Empfehlungen hundertprozentig befolgen, denn wir werden dazu von unseren Raumflugmedizinern betreut.“

Das „ESA Medical Operations Team“ besteht u.a. aus Ärzten, Technikern, Physiotherapeuten, Rehabilitationsspezialisten, Psychologen und Spezialisten für Augen, Ernährung, Strahlung, Akustik, Toxikologie und Mikrobiologie. Ob man Angst habe, sei eine häufige Frage. Schlegels kurze Antwort: „Nein, man hat ja ein Regelwerk: Was mache ich, wenn?“ Der Start findet in Kasachstan statt. In 8,5 Minuten ist man in der Schwerelosigkeit, dann dauert es noch einige Stunden bis zur ISS. Dort leben und arbeiten die Astronauten und Astronautinnen sechs Monate lang, einige wenige sogar ein Jahr, in 400 km Höhe, bei einem millionenfach geringeren Druck als auf der Erde, also praktisch im Vakuum, nur geschützt durch die dünne Aluminiumhaut der ISS.

Schweben wie ein Embryo

Was ändert sich nun in der Physiologie? „Die Funktion des Innenohrs ist weg, weil sich die Stärketeilchen auflösen“, bringt Schlegel die Raumfahrerkrankheit auf den Punkt: „Wenn Sie auf die Erde zurückkommen, ist Ihr Auge das einzige Sinnesorgan, das Ihnen zur räumlichen Orientierung bleibt.“ Die Muskeln verändern sich, den Bewegungsablauf „Gehen“ gibt es nicht. Es sei „ein Schweben in der embryonalen Haltung“. Außerdem lässt die Schwerelosigkeit vermehrt die Körperflüssigkeiten in den Oberkörper wandern. Die Folgen: Storchenbeine, aufgedunsenes Gesicht, Blutdruckänderungen, Rückenschmerzen, Abnahme der Knochendichte, kardiovaskuläre Dekonditionierung – sofern man die Schwerelosigkeit einfach genießen würde. Daher stehen täglich zweieinhalb Stunden Sport auf dem Programm. Zu den Langzeitfolgen zählen ferner Änderungen des Metabolismus, v.a. des Salzhaushaltes (z.T. durch die stark salzhaltige Nahrung), Fehlsichtigkeit durch Änderungen des Augeninnendrucks und dadurch der Geometrie des Augapfels. Auch das Immunsystem wird beeinflusst. Vieles sei noch unbekannt, wie etwa: Welche Keime werden virulenter, aggressiver, vermehren sich schneller, welche weniger? „Es scheint einigermaßen in der Waage zu bleiben, zeigt unsere Erfahrung aus den letzten 15 Jahren bemannte Raumfahrt zur ISS“, berichtet Schlegel. Er kennt aber keinen, der nach der Rückkehr in die normale Population nicht irgendeine Infektionskrankheit durchstehen musste.

Urin zu Trinkwasser recyceln

Dann ist da die deutlich höhere Strahlenbelastung, selbst wenn man der südatlantischen Anomalie (Bereich erhöhter Strahlungsaktivität) ausweicht, wenn man draußen arbeitet. Zudem sind gefährliche Substanzen an Bord, um etwa den Urin zu verwerten. 80 Prozent davon werden recycelt, zuerst in technisches Wasser, dann in Trinkwasser, „das ist ein ziemliches Vertrauen in die Kollegen oder vielleicht sogar in sich selbst“, lacht der Astronaut. Alles muss festgemacht werden, jeder Abfall und jedes Körperprodukt, sonst besteht die Gefahr, etwas davon einzuatmen. Haartrimmer etwa sind mit Staubsauger ausgerüstet. Trinken aus dem Glas funktioniert nicht. Jede flüssige Nahrung müsse abgeschlossen in einer Tüte sein, „damit sie nicht unkontrolliert in die Instrumente, in unsere Haare oder sonst irgendwo hindriftet“.

Verkatert im Vakuum

Das Körpergefühl im Vakuum vergleicht Schlegel mit einem „Kater“. Der Kopf sei „dicker“, die Körperhaltung seltsam, „die Innereien bewegen sich nach oben, jede Körperregung fühlt sich ganz anders an und das beschäftigt dich – es ist nichts normal“. Bei Bewegungen mache es keinen Unterschied, ob kopfüber, kopfunter, rechts und links vertausche sich, bei der Arbeit im Labor müsse man „sechs Raumbilder im Kopf haben, weil keine Richtung ausgezeichnet ist“. „Unsere Arbeit im Labor ist auch sehr eingeschränkt“, schildert Schlegel, weil es ohne Fixierung keinen festen Stand gebe, „wir wissen gar nicht, wie privilegiert wir auf der Erde sind, wir sind für die Erde gemacht“. Als Grundgesetz in der Schwerelosigkeit nennt der Physiker daher das Festhalten mit einer Hand oder die Verwendung von Fußschlaufen, wenn man z.B. einen Schalter umdrehen möchte. Denn ohne Gegenkraft dreht sich der Mensch und nicht der Schalter oder das Gerät. Für Notfälle wie Reanimationen gibt es den „Stretcher“ auf einer festen Unterlage. Auch der Helfer muss sich fixieren. Zum Schlafen kriechen die Astronauten in Kojen: „Man schläft auf der tollsten Matratze, die es gibt – der Schwerelosigkeit –, aber man kann sich drehen und wenden wie man will, die Körperhaltung bleibt identisch, es ergibt keine spürbare Abwechslung!“ Daher erzeugte sich Schlegel die nötige Abwechslung, indem er, wenn er nach etwa vier Stunden aufwachte, die Knie anzog und sich dann mit Gummibändern für die nächsten zwei, drei Stunden fixierte.

Mühselige Rückkehr

Die Rückkehr verläuft alles andere als unbeschwert. Als NASA-Astronaut Scott Kelly von einem einjährigen Aufenthalt zurückgekommen war, traf ihn Schlegel zwei Wochen danach. „Du Hans, wenn ich nicht wüsste, dass ich ein Jahr in der Schwerelosigkeit gewesen bin, würde ich annehmen, dass ich mich im Sterben befinde“, sagte Kelly damals. So mühselig sei es, sich nach langer Schwerelosigkeit wieder an die Schwerkraft zu gewöhnen, tapsend machen Rückkehrer die ersten Schritte – im hüfthohen Schwimmbecken. Die vollständige Rehabilitation dauert etwa so lange wie der Aufenthalt im Orbit. Abschließend schildert Schlegel den Ausblick aus der ISS: „Die Welt ist wunderschön, man kommt zurück mit all den intellektuellen Gedanken – die sind ins Herz gerutscht.“ Die Erde bezeichnet er als „blauweiße Murmel, unser Mutter-Raumschiff mit sieben Milliarden Astronauten“. Es gebe keine andere, denn der nächste Fixstern mit einem vermutlich erdähnlichen Planeten ist etwa 30 Lichtjahre entfernt.

Linzer Reisemedizinische Tagung, April 2018

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune