29. Apr. 2021Suchterkrankungen

„Raus aus der Stigmatisierungsfalle!“

Medikamente, Alkohol, Tabak: Gleich drei neue bzw. überarbeitete S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) klären über Suchterkrankungen auf – gerade jetzt ein wichtiges, oft aber verdrängtes Thema.

Ein alter Mann sitzt am Tisch in einer Kneipe im Freien. Er trinkt Bier und raucht

Auch wenn die Corona-Pandemie derzeit fast alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, sollte gerade jetzt den Suchterkrankungen mehr Beachtung geschenkt werden. Denn die mit der Pandemie verbundenen weitreichenden Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens verschlimmern Suchterkrankungen. Mit diesem zentralen Appell wandte sich DGPPN-Präsident Prof. Dr. Thomas Pollmächer anlässlich einer Pressekonferenz zur Veröffentlichung von drei neuen Leitlinien im Jänner an die Öffentlichkeit: „Suchterkrankungen in all ihrer Vielfalt und Häufigkeit stellen ein immenses medizinisches, gesellschaftliches und gesundheitsökonomisches Problem dar.“ Die vorgestellten S3-Leitlinien seien ein wichtiger Meilenstein.

Alkoholbezogene Störungen

Bei alkoholbezogenen Störungen besteht ein sehr großer Handlungsbedarf, sind sich die Sucht-Experten einig. „Pandemiebedingt muss aktuell leider von einer Zunahme des Alkoholkonsums und weiterer Folgeerkrankungen auch im Nachgang ausgegangen werden“, meint auch Prof. Dr. Falk Kiefer, Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Alkohol ist in der Gesellschaft ein allgegenwärtiges Konsum- und Wirtschaftsprodukt, dessen Gebrauch breit beworben wird. Treten jedoch alkoholbezogene psychische oder körperliche Folgestörungen auf, sei es meist mit der gesellschaftlichen Toleranz vorbei. Die Folge sei, dass nur wenige Menschen in Behandlung sind. „90 Prozent der Betroffenen erreichen wir gar nicht“, so Kiefer und betont: „Raus aus der Stigmatisierungsfalle und pragmatisch Behandlungsangebote anbieten!“

Regelmäßiger Alkoholkonsum gehört zu den wichtigsten vermeidbaren Risiken. Mehr als 40 medizinische Diagnosen stehen in einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang mit einem übermäßigen Alkoholkonsum. Liegt ein schädlicher Alkoholgebrauch vor, sollten die vorhandenen etablierten und evidenzbasierten Interventionen am individuellen Bedarf adaptiert eingesetzt werden: von der Trinkmengenreduktion zur lebenslangen Abstinenz, von der offenen Selbsthilfe bis zur vollstationären psychotherapeutischen Rehabilitation. Neu in der Leitlinie ist der Fokus auf Frühdiagnostik und Frühintervention. Wichtig sei, Komorbiditäten stärker einzubeziehen, begleitende Behandlung und integrierte Settings anzubieten.

Rauchen und Tabakabhängigkeit

Die aktualisierte S3-Leitlinie „Rauchen und Tabakabhängigkeit Screening, Diagnostik und Behandlung“ unterstreicht die Notwendigkeit, dass Patienten im Gesundheitssystem systematisch in geeigneter Weise nach dem Raucherstatus gefragt und entwöhnungswilligen Rauchern niederschwellige Angebote gemacht werden sollten. Etwa 50 bis 60 Prozent der regelmäßigen Raucher gelten als abhängig. „Das ist deutliche mehr, als bei anderen Substanzen zu erwarten ist“, so Prof. Dr. Anil Batra, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Tübingen, im Rahmen der Pressekonferenz.

Der Tabakkonsum ist bekanntlich ebenfalls mit zahlreichen körperlichen Folgeerkrankungen verbunden. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 13,5 Prozent der Mortalität durch den Tabakkonsum mitbedingt sind. Der kombinierte Tabak- und Alkoholkonsum macht etwa sechs Prozent der Gesamtmortalität aus. „Zigarettenrauchen verursacht damit jährlich mehr Todesfälle als AIDS, Alkohol, illegale Drogen, Verkehrsunfälle, Morde und Suizide zusammengenommen. Raucher leben durchschnittlich zehn Jahre kürzer als Nichtraucher“, betont Batra. Dramatischer sei die Darstellung, die aus einer großen epidemiologischen Untersuchung englischer Kollegen hervorging. Etwa 60 Prozent der Nichtraucher erreichen das 80. Lebensjahr, aber nur 26 Prozent der Raucher. „Alleine diese Zahlen rechtfertigen stärkere Bemühungen, nicht nur zur Prävention, sondern auch zur Behandlung von Rauchern, da damit körperliche Abhängigkeit, psychische Abhängigkeit und Gewohnheitsbildung einhergeht“, so Batra.

Auch wenn Nikotin keine mit Alkohol vergleichbare betäubende Wirkung hat, sei es doch ein Suchtmittel, das mit körperlicher Abhängigkeit, Gewohnheitsbildung und psychischer Abhängigkeit einhergeht. Angesichts der bevölkerungsweiten Bedeutung des Tabakkonsums sollten Beratungsangebote zum Rauchstopp systematisch im Gesundheitswesen verankert werden, Gleiches gilt für therapeutische Interventionen.

Zum derzeit viel diskutiertem Thema Harm Reduction hält Batra fest: „Es sollte stets eine absolute Abstinenz angestrebt werden, nur diese ist mit der Vermeidung gesundheitlicher Risiken zielführend. Harm Reduction, eine Schadensbegrenzung, kann nur in Einzelfällen eine absolute Alternative sein.“ Auf Nachfrage, wie nun die Empfehlung zum Thema E-Zigaretten als Weg zur Nikotinreduktion laute, ergänzt der Suchtexperte: „Innerhalb der Leitlinie gibt es keine Empfehlung, sondern ein Statement. Soll betonen, dass die Datenlage diesbezüglich sehr, sehr widersprüchlich ist. Viele Konsumenten der E-Zigaretten sind duale Konsumenten und geben den Tabakkonsum nicht vollständig auf. Damit verlieren sie auch nicht die Risiken, die mit dem Tabakkonsum verbunden sind.“ Die Datenlage hinsichtlich der Entwöhnung sei ebenfalls sehr unsicher und wenig belastbar. Batra argumentiert: „Aus diesem Grund und weil es ein sehr umstrittenes Thema ist, das Produkt als solches nicht konkret beschrieben werden kann – es gibt eine Fülle von E-Zigaretten und verwandten Produkten –, hat sich die Leitlinienkommission entschieden, eine klare Aussage hinsichtlich der Gefährlichkeit zu formulieren und offen zu bleiben für weitere Veränderungen.“

Verpasste Chance?

Die jüngsten Erkenntnisse zur Schadensminimierung nicht in die aktuelle Leitlinie Rauchen und Tabakabhängigkeit aufzunehmen, sieht der Suchtforscher Prof. Dr. Heino Stöver von der Frankfurt University of Applied Sciences (ISFF) in einer Presseaussendung als Versäumnis. So bemängelt er etwa, dass eine Chance für realitätsnahe Prävention vertan sei. Stöver bedauert, dass sich die Arbeitsgemeinschaft nicht dem Appell der mitherausgebenden „Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin“ (DGS e.V.) angeschlossen hat. Diese hatte gefordert, die E-Zigarette zur Unterstützung der Tabakabstinenz zu berücksichtigen. „Diese Empfehlung der DGS zu ignorieren, ist für mich einer der zentralen Schwachpunkte in der Leitlinie“, erklärt Stöver. „Wissenschaftliche Ergebnisse zeigen schon lange, dass es wahrscheinlicher ist, dass Menschen viele kleine Schritte unternehmen, als ein oder zwei große, besonders wenn es um süchtig machende Substanzen geht.“

Wichtige wissenschaftliche Arbeiten, wie beispielsweise der letztes Jahr erschienene Cochrane Review (https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD010216.pub4/full) zur Rauchentwöhnung mit E-Zigaretten wären nicht berücksichtigt worden. „Wenn aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in die Leitlinien-Formulierung mit eingeflossen sind, dann müssen diese in den nächsten Jahren umso stärker in der Öffentlichkeit – parallel zu den Leitlinien – diskutiert werden“, appelliert Stöver.

Trinkmengen-Reduktion bei Alkoholabhängigkeit

In der Leitlinie zur Alkoholabhängigkeit wird eine klarere Aussage zur Trinkmengen-Reduktion in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit gegeben. Kiefer führt abschließend weiter aus: „Die Trinkmengen-Reduktion ist tatsächlich eine wichtige Entwicklung. Das fokussiert darauf, dass wir nicht nur Behandlungsangebote für die Schwerstabhängigen machen, die in der Regel in der stationären Behandlung sind. Wir müssen auch frühe Stadien der Alkoholabhängigkeit miteinbeziehen. Und Menschen in frühen Stadien sind oft nicht bereit, sich Abstinenz-orientiert behandeln zu lassen. Hier erweitern wir das Spektrum der Behandlung. In den ambulanten Angeboten hat das seinen Platz. Nicht sinnvoll ist es aber, den Schwerstabhängigen eine Trinkmengen-Reduktion anzubieten.“

Medikamentenbezogene Störungen

Erstmals werden evidenzbasiertes Wissen zu medikamentenbezogenen Störungen der verschiedenen genannten Substanzen mit aktuellen Daten aus der Versorgung gebündelt und Empfehlungen für moderne Präventions-, Diagnostik- und Therapiemethoden in einer eigenständigen Leitlinie vorgestellt. Belastbare bevölkerungsepidemiologische Daten hinsichtlich der Abhängigkeitserkrankung würden zwar noch fehlen, so Prof. Dr. Ursula Havemann-Reinecke von der Universität Göttingen in Ihrem Statement im Rahmen der Pressekonferenz. „Aber je nachdem, welche Medikamente erfasst werden, kann angenommen werden, dass die Zahlen vergleichbar hoch sind wie die der Alkoholabhängigkeit. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass eine Abhängigkeit oder ein schädlicher Gebrauch (F1x.1) von Medikamenten mit dem Risiko für schwere, teils tödliche körperliche und psychische Folgen und Entzugssyndrome häufig sind.“

Mehr als bei anderen Suchtmitteln besteht bei Medikamenten ein fließender Übergang zwischen bestimmungsgemäßem Gebrauch, nicht-bestimmungsgemäßem Gebrauch (Fehlgebrauch), missbräuch- lichem, schädlichem und abhängigem Gebrauch. In der Therapie geht der Entzug einer Substanz häufig mit der Beendigung einer Behandlung mit dem Arzneimittel einher, das ursprünglich infolge einer medizinischen Indikation und als Heilbehandlung verschrieben wurde.

Es gibt viele Arzneimittel mit einem potenziellen Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Die Gruppen der Benzodiazepine und der Opioide zählen hier zu den relevantesten Stoffgruppen. Aktuelle Daten weisen auf eine Zunahme des Konsums hochpotenter Opioide hin, bei einer bisher weitgehend konstanten nur leicht gestiegenen Prävalenz von schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit der gesamten Gruppe von Opioiden und nicht-opioiden Schmerzmitteln. Aktuelle Daten zu den Abhängigkeitserkrankungen von Opioidmedikamenten alleine fehlen allerdings. Weitere relevante Stoffgruppen sind u.a. die Gabapentinoide, Cannabinoidmedikamente und Stimulanzien mit nachgewiesenem Risiko für schädlichen Gebrauch und/oder Abhängigkeit sowie die nicht-opioiden Schmerzmittel mit hohem Potenzial für Missbrauch.

https://www.dgppn.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2021.html

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy