Aggressionsmanagement und Deeskalation
Gute und wertschätzende Betreuung von Patientinnen und Patienten schon im Wartebereich verringert die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens deutlich. Für den Ernstfall sollten Ordinationsteams durch entsprechende Schulungen auf Übergriffe vorbereitet sein.
Dass unzufriedene Patientinnen und Patienten aggressiv und sogar tätlich werden können, zeigt das Beispiel eines Konsiliar-Facharztes: Während er in einem Ambulanzzimmer Befunde diktierte, wurde er plötzlich von einem Patienten angegriffen. Unglücklicherweise saß der Arzt mit dem Rücken zur Tür, sodass er nicht rechtzeitig reagieren konnte. Es habe ihm zu lange gedauert, sagte der Täter im Nachhinein.
Auch wenn solche Situationen selten sind, zeigen sie, dass praktisch kein Bereich des Gesundheitswesens von aggressivem Verhalten ausgenommen ist – das gilt auch für Ordinationen. Laut einer Untersuchung des Wiener Krankenanstaltenverbundes (nunmehr Wiener Gesundheitsverbund) waren innerhalb von zwölf Monaten rund 58% der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von verbaler Aggression, rund 25% sogar von körperlicher Aggression betroffen (pflegenetz 2/20).
Als sogenannte Hotspots für aggressives Verhalten seitens Patientinnen und Patienten oder Angehörigen bzw. Besucherinnen und Besucher gelten die Bereiche Akutpsychiatrie, Langzeitpflege/Gerontopsychiatrie, aber auch Kindermedizin und Notaufnahmen. In der Pädiatrie sind es die Ängste der Eltern um ihre Kinder verbunden mit Gefühlen wie Ohnmacht und Hilflosigkeit, die zu Auslösern für aggressives Verhalten gegenüber dem Personal werden können.
Stressreduzierende Einrichtung
Klare Strukturen sind ein probates Mittel, um Stress zu reduzieren und Aggressionsausbrüche zu verhindern: Dazu gehören Transparenz bzw. Informationen in mehreren Sprachen darüber, warum wer wann bei Untersuchungen und Behandlungen an der Reihe ist. Auch die Gestaltung der Praxisräume hat Einfluss auf die Stimmungslage: Achten Sie bei der Einrichtung darauf, Lärm- und Geruchsbelästigungen gering zu halten und bieten Sie etwa Spielecken für Kinder.
Weisen Sie auf Möglichkeiten hin, wo Patientinnen und Patienten etwa telefonieren können/sollen, ohne andere zu stören (z.B. am Gang oder in einem separaten Zimmer). Generell sollten Aushänge im Eingangs- und Wartebereich mehr auf Möglichkeiten als auf Verbote hinweisen. Also lieber die Information „Wenn Sie dringend telefonieren müssen, ersuchen wir Sie, dies am Gang zu tun. Fragen Sie bitte nach der ungefähren Wartezeit, bis Sie aufgerufen werden“ anstelle des Handy-Verbots.
„Wir kümmern uns um Sie“
Das Warten auf eine Untersuchung oder Behandlung wird von Patientinnen und Patienten leicht als eine Situation persönlicher Bedrohung oder als beängstigend empfunden. Gerade Ärztinnen und Ärzte haben eine solche Situation vermutlich seit ihrem Studium selbst nicht mehr erlebt, da sie sich bei gesundheitlichen Fragen rasch kollegialen Rat holen können. Sorgen Sie in Ihrem Wartebereich dafür, dass sich jemand aus dem Praxisteam – vielleicht Studierende in der Lehrpraxis – aktiv um die Wartenden kümmert. Schon die Frage „Wie geht‘s Ihnen?“, verbunden mit einer Puls- und Blutdruckmessung, signalisiert: „Wir kümmern uns um Sie!“ Abgesehen davon wirken Berührungen wie jene bei der Puls- oder Blutdruckmessung stressmindernd. Damit verbunden sein sollte eine echte Haltung der Wertschätzung und Aufmerksamkeit gegenüber der „Kundin“ Patientin/dem „Kunden“ Patient anstelle der oft signalisierten „Abschottung“ des Personals hinter Bildschirmen.
Lassen sich aufkeimender Ärger und mögliche Aggression dennoch nicht verhindern, so gibt es meistens eindeutige Warnsignale dafür: Patientinnen und Patienten mit gerötetem Gesicht, angespannter Körperhaltung und anderen Anzeichen zunehmender Erregung sollten niemals missachtet werden. Gedanken wie „Der beruhigt sich schon wieder “ oder „Da wird sich schon wer darum kümmern“ sind durch aktives Handeln zu ersetzen: Wenn jemand aus dem Team ruhig und kompetent auf die Person zugeht, sie fragt, wie es ihr geht oder ob sie etwas braucht, kann dies zu 99% aggressive Ausbrüche verhindern. Kommunikationstechniken wie Ich-Botschaften, aktives Zuhören oder Paraphrasieren im Sinne von „Sie meinen, Sie werden bei der Wartezeit ungerecht behandelt …“ sind geeigneter, jemanden zu beruhigen, als der Aufruf: „Jetzt beruhigen Sie sich endlich!“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten daher nicht nur Kenntnisse in Kommunikation, sondern auch Zeit für solche Gespräche haben.
Notruf und Deeskalation
Reagieren Patientinnen, Patienten oder Angehörige in ihrer Situation subjektiver Bedrohung dennoch weiter aggressiv, so heißt dies für die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Niemals persönlich nehmen! Nicht Sie, sondern Ihre „Uniform“ bzw. Ihre Funktion ist das Ziel der Aggression. Wenn möglich, zeigen Sie Gesprächsbereitschaft und unterstützende Körpersprache. Nehmen Sie die Person in ihrer Bedrohung ernst und stellen Sie sich so auf, dass Sie selbst wie auch die andere Person einen Fluchtweg im Auge haben. Vermeiden Sie jeglichen verbalen „Gegenangriff“ wie „Wenn Sie sich so aufführen, …“, sondern sagen Sie etwa: „Ich sehe, Sie sind aufgebracht, ich fühle mich dadurch bedroht.“ Schaffen Sie dabei stets räumliche Distanz zwischen sich selbst und dem Aggressor.
Als besonders risikoreich gelten Patientinnen und Patienten (meist sind es Männer!) nach Alkoholkonsum; auch in den Abend- und Nachtstunden ist das Risiko für Gewaltbereitschaft höher, wobei Frauen eher von Aggressionsausbrüchen betroffen sind. Für Primärversorgungszentren mit längeren Öffnungszeiten sollte daher in der Dienstplanung berücksichtigt werden, dass Frauen abends nicht allein im Dienst sind.
Bei verbalen Grenzüberschreitungen in Form von Drohungen oder gar physischer Aggression, hat jede und jeder im Team stets die Möglichkeit, unter der Notrufnummer 133 die Polizei zu verständigen – ohne vorher den Chef/die Chefin zu fragen! Dies ist auch arbeitsrechtlich gedeckt.
Für alle Personen im Gesundheits- und Sozialbereich – und damit auch für Praxisteams – sind jedenfalls Basis-Schulungen in Aggressionsmanagement und Deeskalation zu empfehlen. Außerhalb von hochsensiblen Bereichen wie Psychiatrien kann dies ein halbtägiger Sensibilisierungs-Workshop in Kombination mit einem zwei- bis dreitägigen Training sein. Dazu braucht es – ebenso wie beim Brandschutz oder der Reanimation – regelmäßig Refresherkurse, um die erworbenen Kenntnisse für den Ernstfall parat zu haben.
Präventions- und Sicherheitskonzepte für Ordinationen
Zu einem Sicherheitskonzept für Ordinationsteams gehören räumliche und zeitliche Strukturen, die als aggressionsmindernd gelten. Kommunikations-Skills aller im Team, ein offenes Zugehen mit wertschätzender Haltung auf Patientinnen und Patienten sind ebenso geeignet, um Aggressionen zu verhindern bzw. abzubauen. Es gilt: Weg von Täter-Opfer-Zuschreibungen und hin zu einem Miteinander-verbunden mit Signalen an die Patientinnen und Patienten, die ihnen das Gefühl geben, dass sie nicht alleine gelassen werden.
Im Falle eines Übergriffes hat Selbstschutz und gegebenenfalls Notwehr Vorrang. Werden Sie von jemandem festgehalten, rufen Sie Hilfe herbei, kommunizieren Sie möglichst weiter – das lenkt den Angreifer bzw. die Angreiferin ab – und versuchen Sie durch Lösen des Daumens sich aus einem Festhaltegriff zu befreien!
Unser Gastautor Martin Schriebl, MSc, ist Dipl. Gesundheits- und Krankenpfleger und Pflegepädagoge sowie Dan-Träger in Karate. Nach beruflichen Erfahrungen in der Akut- und Hauskrankenpflege sowie im Qualitätsmanagement der nunmehrigen Landes-Gesundheitsagentur in Niederösterreich ist er heute selbstständiger Trainer und Berater für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement im Gesundheits- und Sozialbereich; seit 2023 zudem Leiter der entsprechenden Trainerausbildung, die vom Netzwerk Aggressionsmanagement im Gesundheits- und Sozialwesen (NAGS) in Kooperation mit dem Pflegenetz angeboten wird. www.nags.at; www.pflegenetz.at
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