Lernen wir Geschichte!

Der ähnlich klingende legendäre Ausspruch von Bruno Kreisky aus den 1970er- und 80er-Jahren kann uns hinführen zu einer wirksamen Form von Lebensverständnis. Ich selbst merke: Je älter ich werde, desto mehr beschäftigt mich der Holocaust und desto mehr glaube ich, dass im Versuch des Verständnisses des Holocaust der Schlüssel zum Leben besteht. Im „Versuch“ wohlgemerkt. Es ist nicht zu verstehen, es ist nicht nachzulesen, es ist nicht nachzuvollziehen. Nichts und niemand kann uns das dort Passierte so erzählen, dass wir auch nur annähernd etwas davon verstehen würden! Es bleibt die Unaussprechlichkeit, das Unverständnis – und es bleibt der dauernde Auftrag an uns, dass wir uns genau auf diese Unmöglichkeit einer Aufgabe einlassen.

Pflichtlektüre

Primo Levi fragt in seinem berühmten, uneingeschränkt empfehlenswerten Buch: „Ist das ein Mensch?“ Der Literaturnobelpreisträger von 2002, Imre Kertész, Überlebender von Auschwitz und Buchenwald, sagte in einem späten Interview: „Wenn man mich fragte, was hält Sie noch auf dieser Welt, was hält Sie am Leben, ich würde ohne zu zögern antworten: die Liebe.“ Ein anderer, der die Nazigräuel überlebt hat, Viktor Frankl, spricht von der Trotzmacht des Geistes als Überlebensmittel. Und so haben wir die Möglichkeit und, wie ich meine, letztendlich die Verpflichtung, Literatur von Menschen mit diesen Erfahrungen zu lesen, um den Versuch des Verstehenwollens wirklich ernsthaft zu betreiben! 2018 ist nicht nur das Jahr verschiedener Landtagswahlen, sondern auch ein Jahr der Jubiläen. 1918, das Ende der Monarchie, des Ersten Weltkriegs, der Beginn der Ersten Republik. Im März folgt das Gedenken an den „Anschluss“ 1938. Spätestens seit diesem Datum funktioniert die oftmals versuchte Opfertheorie der Österreicher nicht mehr. Was das alles mit uns zu tun hat, so viele Jahre danach? Sehr viel. Es gibt noch viel zu viele Liederbücher mit ekelhaften menschenverachtenden Texten – und Menschen mit dazu passenden Gedanken und Haltungen. Wir ÄrztInnen und auch Pflegepersonen werden oft als Berufe mit dem höchsten Image genannt. Menschen kommen zu uns, vertrauen uns. Deshalb: Lernen wir Geschichte, bewahren und zeigen wir Haltung!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune