16. März 2022Dr. Mykhailo Nadvirniak

“Wir hoffen alle, dass es bald vorbei ist, aber die Hoffnung wird jeden Tag weniger”

Die Straßen seiner Kindheit sind zerbombt. Diese Bilder sind für den ukrainischen Unfallchirurgen Dr. Mykhailo Nadvirniak, der seit April 2021 im AUVA-Unfallkrankenhaus Klagenfurt arbeitet, schmerzlich. Es treibt ihn aber an, seinen ehemaligen Kollegen in Kiew medizinische Güter wie Nahtmaterial, Brandverbände, Tourniquets etc. zu schicken – mit Unterstützung der Botschaft. Das nächste Ziel: Kriegsverwundete nach Österreich und andere Länder zu bringen, dafür hat er die Plattform https://www.occ-medevac.org/ gemeinsam mit dem deutschen Arzt Dr. Michael Doetzlhofer gegründet. Über die bisherige Hilfe ist er sehr froh, sagt er im Interview. Was es jetzt am dringendsten braucht.

Lemberg, Ukraine - 3. März 2022: Nachdem sie gerade einen Zug verlassen haben, gehen die Menschen mit ihrem Gepäck über die Gleise in Lemberg.
iStock/Joel Carillet

Flüchtlinge in Lviv

medonline: Herr Dr. Nadvirniak, Sie haben selbst in einem Kiewer Krankenhaus gearbeitet. Könnten Sie kurz Ihren Werdegang schildern? Und wie geht es Ihnen derzeit?

Mykhailo Nadvirniak: Ich bin in der Stadt Irpen geboren, in der Nähe von Kiew-Hostomel, ein schon bekannter Flughafen wegen der ständigen Bombardierungen. Meine Großeltern und meine Mutter sind jetzt aus der Ukraine geflüchtet – nach einer Woche im Keller, nach Straßenkämpfen usw. Zu meinem Vater habe ich seit über einer Woche keinen Kontakt mehr, ich weiß nicht, ob er noch lebt oder nicht.

Oh, das tut mir leid, hoffentlich meldet er sich bald … Wo sind Ihre Mutter und Großeltern? Sind Sie schon bei Ihnen in Österreich?

Nadvirniak: Ja, sie sind gestern in Kärnten angekommen. Mutter und Vater sind geschieden, deswegen haben sie getrennte Wohnungen. Nach dem letzten Kontakt mit meinem Vater war es schon komplett chaotisch, leider habe ich noch keine Mitteilung von ihm ... Daher lenkt mich alles, was ich mache, auch ein wenig ab. Ich habe drei Jahre im städtischen Krankenhaus Nr. 17 gearbeitet, im Polytrauma – eigentlich das Haupt-Polytrauma in Kiew und das bekannteste Polytrauma-Center in der Ukraine. Ich habe als Allgemeinchirurg auch sechs Jahre in unserem Notfallkrankenhaus gearbeitet, das ist ein ganz großes Notfallkrankenhaus in Kiew. Dann war ich sechs Jahre in Deutschland, von 2015 bis 2021, und habe noch einen Facharzt gemacht, Orthopädie und Unfallchirurgie und auch Notfallmedizin.

Wie sind Sie zur Arbeitsstelle in Österreich gekommen?

Nadvirniak: Ich habe ein Angebot bekommen im UKH Klagenfurt, mein Chef ist Prim. Priv.-Doz. Dr. Vinzenz Smekal, er ist aktuell Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Unfallchirurgie (ÖGU). Von ihm bekomme von ihm ganz viel Unterstützung. Seit April 2021 wohne ich in Klagenfurt.

Wie geht es Ihren ehemaligen Kollegen in Kiew derzeit?

Nadvirniak: Die Freunde in Kiew schicken uns immer Anfragen, was sie brauchen, wir suchen das dann überall zusammen. Ich bin offiziell Koordinator für medizinische Fragen, unterstützt vom Büro des Verteidigungsattachés von der Botschaft der Ukraine in der Republik Österreich. Parallel gibt es in unserer Gemeinde in Kärnten auch Spendenaktionen für humanitäre Güter und ich versuche über meine Netzwerke bei der Logistik usw. zu helfen. Das ist das, was ich aktuell mache – parallel zur Arbeit.

Wie es unseren Freunden geht? Schwierig, sehr schwierig. Die Kollegen operieren, während in dieser Zeit ihre Kinder zuhause im Keller sitzen. Das ist so. (Pause) Noch vor zwei Wochen hatten sie alles, was sie für die Versorgung brauchen. Jetzt leider nicht mehr und alles, was wir jeden Tag schicken, geht ganz schnell zu Ende. Wir bekommen ständig schriftliche Anfragen, immer wieder aktuelle, offizielle Listen über Medikamente, medizinische Geräte, Instrumente, Israeli-Bandagen (All-in-one-Notfall-Druckverband mit integrierter Wundauflage und Bandage, Anm. d. Red.), alles, was aktuell gebraucht wird, z.B. derzeit sterile Handschuhe und manche Positionen von Verbandsmaterial. Es gibt da und dort auch logistische Schwierigkeiten, es ist ja Kriegsgebiet, manche Positionen gibt es, manche gibt es gar nicht, z.B. Tourniquets, die IFAK-Taschen (Individual First Aid Kit) – das ist wie Gold jetzt für uns.

Sie meinen die Tourniquets zum Abbinden z.B. eines Armes, die sind Mangelware?

Nadvirniak: Ja, die Tourniquets für starke Blutungen an den Extremitäten, die sind leider überall Mangelware, man versucht, sie sogar über eBay zu kaufen, aber sie sind immer wieder zu wenig. Was es braucht, sind Israeli-Bandagen, Nalbuphin oder Opiate in Tuben. Die kann man für die IFAKs benutzen. Dann wie gesagt Nahtmaterial und alles, was man für Verbrennungen braucht. Das ist alles dringend nötig. Es gibt mehrere Initiativen parallel, auch in Österreich, die machen das Gleiche wie ich, nur dass ich versuche, das über die offizielle Schiene der Botschaft zu machen. Ich versuche aber auch, andere Gruppen mit zu koordinieren. In Deutschland habe ich ein großes Netzwerk von Freunden, was medizinische Güter für die Versorgung betrifft.

Und funktioniert es, dass die Güter wirklich in Kiew ankommen? Hilft da die Botschaft logistisch mit?

Nadvirniak: Klar. Wir haben zusammen eine Logistik aufgebaut, das funktioniert. Das ist auf allen Ebenen gelöst. Deswegen habe ich gesagt, wir bekommen volle Unterstützung von der Botschaft, aber medizinische Fragen sind nicht das Einzige, was die Botschaft koordiniert, deswegen versuche ich in diesem Bereich zu helfen, soweit ich kann.

Was war der Ausschlag für Sie als Initiator, sich so zu engagieren, wie ist die OCC-MEDEVAC-Plattform konkret entstanden, die ja laut einem ORF-Kärnten-Bericht vom 03.03.2022 auch Verwundete aus dem Kriegsgebiet in Kliniken und Trauma-Zentren in der DACH-Region und anderen Ländern in Europa und weltweit bringen soll?

Nadvirniak: Ich war zwar schon der Initiator, aber dann habe ich Dr. Michael Doetzlhofer gefunden und wir machen seither alles zusammen, beide in Deutschland und ich in Österreich. Das ist also unser gemeinsames Projekt. Er ist ein super Mensch und hilft, obwohl es nicht sein Krieg ist – aber er tut, als ob es sein Krieg wäre. Ohne ihn würde unsere Plattform nicht so funktionieren, wie sie jetzt funktioniert. Wir haben mehrere Zusagen von Krankenhäusern, die helfen wollen, wir müssen jetzt eine eigene Logistik aufbauen zusammen mit der ukrainischen Seite. Es haben sich auch schon viele Ärzte gemeldet, mit Kontakten zu Rettungsunternehmen, auch mit mobilen Einheiten, welche uns unterstützen wollen.

Wie weit ist die Initiative, Verletzte aus der Ukraine aufzunehmen, schon vorangeschritten?

Nadvirniak: Mit Stand heute (14.03.2022, Anm. d. Red.) haben wir auch schriftliche Bestätigungen von Krankenhäusern bekommen. Von manchen Krankenhäusern auch Zusagen, wie viele Betten zur Verfügung stehen. Bis jetzt hatten wir nichts Schriftliches, nur Mündliches. Ich kann ja nicht drei verletzte Kinder sozusagen in den Kofferraum packen und hierher nach Kärnten bringen. Das muss alles über die Botschaft koordiniert werden und von der Aufnahmeseite und mit der ukrainischen Seite geklärt werden – das ist viel Arbeit. Das wollen wir alles organisieren. In Deutschland gibt es große Initiativen, z.B. von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, auch zusammen mit dem Bundesheer, 620 Krankenhäuser sind da bereit.

Es haben sich tatsächlich über 600 Krankenhäuser in Deutschland gemeldet?

Nadvirniak: Ja, diese Information gibt es seit zwei Wochen, die haben sich gemeldet, aber noch sind keine Verletzten nach Deutschland transportiert worden – nach meinem Wissensstand von gestern (13.03.2022, Anm. d. Red.).

Und in Österreich, weil Sie in dem ORF-Bericht gesagt haben, dass sich das UKH in Klagenfurt auch schon bereit erklärt hat?

Nadvirniak: Eigentlich hat sich die gesamte AUVA bereit erklärt – das ist eine ganz große Struktur, aber wie gesagt, dass muss noch von ganz oben geklärt werden, wie, was, wo.

Können sich weitere Spitäler bzw. Spitalsträger einfach bei Ihnen melden?

Nadvirniak: Ja, bitte melden! Wir sind froh, je mehr Plätze wir haben, desto mehr können wir machen. Ich weiß, der Bettenstand ist immer wackelig und in manchen Krankenhäusern muss das auch von der Bundesregierung oder den Landesregierungen bzw. Spitalsträgern entschieden werden. Ich habe schon Vier-Augen-Gespräche gehabt, habe aber leider noch nichts Konkretes. Es ist so, dass es mehrere Krisenstäbe gibt, das ist alles im Laufen und für alle schwierig.

Sie meinen mit den Gesprächen die Kabeg (Kärntner Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft)?

Nadvirniak: Ja, wir sind in Kontakt und haben schon Signale von der Kabeg bekommen, dass sie mitmachen wollen, aber noch sind die Gespräche im Laufen.

Nochmals zurück zu den vielen Anfragen, sowohl von Hilfesuchenden auf der einen Seite als auch von vielen, die helfen wollen. Was können Interessierte tun, was würde den ukrainischen Kollegen und Patienten am meisten helfen, sind das eher Geldspenden, Zeitspenden, Medikamente, Übersetzerdienste etc.?

Nadvirniak: Es gibt Positionen, die wir extrem dringend brauchen, es gibt aber auch Positionen, von denen es schon genug gibt. Daher bitte immer nachfragen vor dem Schicken, weil es sonst ein Ressourcenverlust ist. In Krisensituationen gibt es immer wieder Koordinationsprobleme, deshalb muss man immer genau wissen: Was für einen Bedarf gibt es heute? Das versuche ich alles zu klären, ich bin wie gesagt mit Unterstützung der Botschaft ständig in Kontakt mit der ukrainischen Seite und direkt in Kontakt mit Kollegen, welche dort alles organisieren.

Bei den Geldspenden gibt es ein offizielles Konto der ukrainischen Regierung. In Österreich wollen wir jetzt einen Verein gründen, weil wir wegen der vielen medizinischen Anfragen mehr machen wollen. Wir bekommen für die Vereinsgründung auch ein offizielles Schreiben von der Botschaft, derzeit bin ich ja Privatperson. Als Verein können wir dann auch ein Konto aufmachen und gewisse Positionen selber kaufen. Jetzt muss ich das alles mit koordinieren, gewisse Stellen wollen etwas kaufen oder verkaufen – das ist ohne Konto zu kompliziert und braucht ganz viel Zeit. Ich bekomme immer wieder Angebote für Geld, das ist superlieb, weil ich ja Arzt und Privatperson bin und alles, was ich habe, ist schon mehr oder weniger abgegeben an die Hilfsaktionen unserer Gemeinde. Wenn Spenden, dann gerne – aber es gibt noch kein Konto, wo ich volle Kontrolle habe. Wenn ich Geld in meinem Namen nehme, muss ich Verantwortung tragen und nachweisen, wo das Geld ist. Am Anfang wollte ich das ehrlich gesagt nicht machen, aber jetzt verstehe ich das: Ich kann mehr machen, wenn ich ein Konto habe.

Für viele, die helfen wollen, aber weiter weg wohnen, sind Geldspenden oft leichter zu bewerkstelligen.

Nadvirniak: Ja genau, ich kann ein Beispiel nennen: Es gibt momentan eine große Nachfrage an leeren Taschen für IFAK, die Kits für Notfalltaschen. Wir haben z.B. Medikamente für 20.000 IFAKs vor Ort, nicht in Österreich, aber wir haben keine Bags! Wir brauchen leere Taschen, die man auch als Soldat gut tragen kann. Ich habe zwar schon Stellen gefunden, wo man sie kaufen kann, aber sie sind teuer: Für 2.000 Kits brauchen wir zirka 30.000 bis 40.000 Euro je nach Ausstattung.

Was liegt Ihnen abschließend besonders am Herzen für unsere Leser, die Ärzte und Apotheker, aber auch alle anderen, die helfen möchten?

Nadvirniak: (leise) Ich kann nur sagen, es sind sehr schwierige Zeiten für mein Land. (Pause) Es sterben viele Leute, es sterben Kinder und das alles im Jahr 2022. Wer helfen kann – die Möglichkeiten existieren. Es gibt sehr gute Menschen in Österreich, Deutschland und weltweit, welche helfen wollen. Und ich bin sehr froh, dass es solche Menschen gibt.

Wenn ich vernichtete Straßen sehe, wo ich als Kind Fahrrad gefahren und in die Schule gegangen bin, fühle ich das ganz anders mit. Ich habe auch Freunde, welche schon jemanden verloren haben. Das ist alles schwierig für uns und für die ganze Ukraine. Wir sind gemeinsam jetzt alle und wir alle unterstützen unser Land. Ich wohne schon acht Jahre in der Europäischen Union. Aber diese Schmerzen, welche ich spüre, das ist – enorm. Die Schwiegereltern und auch mein Vater z.B. haben unsere kleine Tochter noch nicht gesehen, zuerst wegen der Covid-Pandemie, jetzt wegen des Krieges. Und wir wissen nicht, ob wir uns noch treffen. Das ist jetzt vielleicht zu persönlich, aber ich erkläre damit, warum ich so motiviert bin, etwas zu machen.

Es sind ja vielleicht oft die persönlichen Geschichten wie die Ihre, die zum Helfen motivieren, weil man zu nachdenken beginnt – vorstellen kann man sich das ohnehin nicht.

Nadvirniak: Das kann sich wirklich niemand vorstellen … Ich habe selber über so etwas nur als Kind in Büchern über den Zweiten Weltkrieg gelesen. Solche Bombardierungen in meiner Hauptstadt, das hat sie nie gesehen, seit 1941. Wir hoffen alle, dass es bald vorbei ist, aber die Hoffnung wird jeden Tag weniger. Deswegen wollen wir alles aufbauen – auch für die Zukunft, damit wir keine Zeit verlieren.

Danke für das Gespräch und alles Gute!

Zur Person

Dr. Mykhailo Nadvirniak ist ukrainischer Unfallchirurg und Notarzt. Er hat sowohl in Kiew als auch in Deutschland gearbeitet und ist seit April 2021 im UKH Klagenfurt am Wörthersee, Kärnten, tätig. Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges hat er zusammen mit Dr. Michael Doetzlhofer die Plattform „OCC-MEDEVAC“ gegründet, unterstützt von der ukrainischen Botschaft in Wien.