15. Juli 2021Interview mit ÖGK-Obmann Andreas Huss

Sozialversicherung plant Erwachsenen-Impfprogramm ab 2022

Halbjährlich wechseln Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter den Vorsitz in der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Seit 1. Juli ist wieder Gewerkschafter Andreas Huss am Zug, der einiges vorhat, wie etwa ein Impfprogramm für Erwachsene – samt COVID-19-Schutzimpfung. Was die Kassenmedizin angeht, liebäugelt der ehemalige Salzburger GKK-Obmann mit dem deutschen Modell – jeder, der will, bekommt einen Kassenvertrag, alles andere ist privat. Mehr Leistungen durch andere Gesundheitsberufe wie Pflegekräfte oder Apotheker steht er wohlwollend gegenüber.

Impfstoff und Spritze auf Kalender.
iStock/Valerii Evlakhov

Herr Obmann Huss, derzeit finden Verhandlungen mit Bund und Ländern zu Impfungen statt – was hat die Sozialversicherung da vor?

Andreas Huss: Das große Ziel ist, dass wir versuchen, ab 2022 auch ein Erwachsenen-Impfprogramm mit allen vom Nationalen Impfgremium (NIG) empfohlenen Impfungen einzuführen. Wir haben ja ein niederschwelliges und kostenloses Kinder-Impfprogramm, das sehr gut funktioniert – aber nur bis zum 15. Lebensjahr geht.

Werden die Erwachsenen-Impfungen auch kostenlos sein?

Huss: Die Impfungen sollen über die Hausärzte, aber auch über Impfzentren oder Impfstraßen funktionieren. Ob die Kosten übernommen werden, ist schwer abzuschätzen. Wenn sich bei den Erwachsenen-Impfungen 70 Prozent der Zielgruppe einmal jährlich für eine empfohlene Immunisierung entscheiden, wäre das ein jährlicher Finanzierungsaufwand von 100–200 Millionen Euro. Vielleicht verlangen wir nur eine Rezeptgebühr, das sind Fragen, die wir mit Bund und Ländern diskutieren. Eine gute Aufteilung wäre, wenn der Bund so wie bei den Kinderimpfungen zwei Drittel der Kosten übernimmt, weil Impfungen langfristig eine Menge Kosten sparen, sie verhindern viele Erkrankungen und Todesfälle. Für die Grippe-Saison 2020/21 haben wir uns eine Übergangslösung überlegt: Wir als Sozialversicherung bezahlen jetzt in fünf Bundesländern den Impfstich bei den niedergelassenen Ärzten. Wir würden dafür sorgen, dass wir den Vertrag mit der Ärztekammer österreichweit ausrollen. Und nachdem es heuer wahrscheinlich schon wieder zu wenig Influenza-Impfstoff geben wird, weil die meisten Länder wieder nichts bestellt haben – außer die Stadt Wien und kürzlich auch die Steiermark –, war mein Vorschlag in der Bundeszielsteuerungskommission, dass die Länder zumindest für rezeptgebührenbefreite Menschen, die zu den Risikogruppen gehören, bezahlen sollen. Jene, die zu Risikogruppen gehören, aber nicht rezeptgebührenbefreit sind, müssen sich den Impfstoff in der Apotheke selber kaufen, bekommen aber den Impfstich bezahlt.

Bei unserem letzten Interview Ende August 2020 haben Sie gesagt: Nicht ohne Corona-Impfung ins Konzert. Jetzt sind Konzerte und Discos wieder voll – mit Genesenen, (Teil-)Geimpften oder Nicht-PCR-Getesteten. Was halten Sie von der „3G-Regel“ angesichts der Delta-Variante, da ja Antigen-Schnelltests nicht so sensitiv sind wie etwa die kostenlosen PCR-Gurgeltests in Wien? Und warum muss man in anderen Bundesländern für PCR-Tests, die doch teuer sind, zahlen?

Huss: Ja, in Salzburg kostet er 120 Euro. Das Wiener Modell „Alles gurgelt“ ist ein ganz tolles Modell. Ich würde empfehlen, die kostenlosen PCR-Tests, die in Wien beim Billa, Bipa, usw. abgegeben werden können, flächendeckend auszurollen. Den Rewe-Konzern gibt es ja in ganz Österreich. Die PCR-Tests sind die einzig sicheren und wirklich aussagekräftigen Tests. Ich bleibe daher grundsätzlich bei meiner Aussage, wobei ich relativieren möchte: Ich habe damals gesagt, wenn ausreichend Impfstoff niederschwellig zur Verfügung steht. In diese Richtung bewegen wir uns langsam, der Impfstoff ist auch nach wie vor kostenlos. Natürlich muss man Menschen, die nicht geimpft werden können, weiterhin mit Tests versorgen. Grundsätzlich bin ich aber schon der Meinung, dass Menschen, die geimpft sind, auch Vorteile haben sollen.

Sind nötige Auffrischungsimpfungen auch noch kostenlos?

Huss: Die Auffrischungsimpfung ist kostenlos. Mir ist wichtig, dass die Bundesländer nicht anfangen, ihre Impfstraßen zu schließen, weil wir bisher über 8 Millionen Impfdosen verimpft haben. Wenn ich die Zweitimpfungen und nötigen Auffrischungsimpfungen dazurechne, dann haben wir gerade mal die Hälfte von dem, was wir impfen müssen – daher brauchen wir auf alle Fälle die Impfstraßen. Dass die Auffrischungsimpfungen noch in der Organisation der Länder bleiben, ist auch in der letzten Konferenz der Länder mit dem Gesundheitsminister (Dr. Wolfgang Mückstein, Anm.) besprochen worden. Wenn wir nächstes Jahr bundesweit einen Erwachsenen-Impfplan haben, dann kann man die Corona-Impfung in diesen Impfplan übernehmen.

In der rezent erschienenen Zeitschrift für Gesundheitspolitik des LIG (Linzer Instituts für Gesundheitssystem-Forschung) haben Sie in einem Interview zur Gesundheitspartnerschaft gesagt, dass die Wirtschaftskammer die Arbeitnehmervertreter nicht mehr brauche, „weil sie von der Regierung ohnehin alles bekommt, was wie will“. Unter Türkis/Blau sei die Sozialversicherung gänzlich abgemeldet gewesen, „da wurde über die Arbeitnehmer drübergefahren“. Wie funktioniert die Sozialpartnerschaft jetzt unter Türkis/Grün?

Huss: Mit den grünen Gesundheitsministern (Rudolf Anschober vor Mückstein, Anm.) haben wir eine gute Gesprächsbasis, wir sind im laufenden Austausch. Was wir allerdings schon merken, dass die grünen Minister mit uns inhaltlich, was z.B. das Impfen oder den Ausbau der psychosozialen Versorgung betrifft, zwar sehr gut übereinstimmen, hier aber massiver Widerstand von der ÖVP kommt und der Finanzminister die Mittel nicht zur Verfügung stellt. Wir werden sehen, wie das für ein Erwachsenen-Impfprogramm funktioniert. Das heißt, man sieht in der Sozialpolitik bzw. Sozialversicherung, die Grünen wollen zwar, scheitern dann aber oft am Widerstand der ÖVP. Dasselbe beim PRIKRAF (Privatkrankenanstalten-Finanzierungsfonds): Wenn man darüber mit den Grünen diskutiert, haben sie zwar Reformvorschläge, aber nachdem die Wirtschaftskammer in der ÖVP sehr stark ist und die Wirtschaftskammer den PRIKRAF mit den Vorteilen für ihn halten möchte, ist es immer schwierig, das in der Koalition umzusetzen.

Und die Machtverschiebung in der Sozialversicherung?

Huss: Das Gesprächsklima, die Form der Zusammenarbeit ist grundsätzlich besser geworden, das muss man ganz klar sagen – wir haben uns zusammengerauft. Aber natürlich ist klar, die ÖVP hat die Mehrheit und wenn wir als Arbeitnehmer-Vertreter in der Arbeitnehmer-Versicherung etwas umsetzen wollen, dann kann das die ÖVP immer verhindern. Das ist einfach etwas, was ich nach wie vor nicht verstehe: Es ist die Versicherung der Arbeitnehmer, aber die Wirtschaft hat die Mehrheit. Man merkt die Klientel-Politik in der Sozialversicherung. Wenn es darum geht, eine Werbekampagne oder mehr Geld z.B. für die Orthopädieschuhmacher zu bekommen, die in der Wirtschaftskammer organisiert sind, dann ist es relativ einfach, Beschlüsse zusammenzubringen. Wenn es um die Interessen der Arbeitnehmer und Versicherten geht, dann ist es schwieriger.

Sie haben bereits vor einem Jahr Best-Practice-Beispiele hervorgehoben, wie etwa die Vorsorgekoloskopie in Vorarlberg oder andere Präventionsprojekte. Welche kommen noch heuer?

Huss: Naja, in einem halben Jahr geht sich natürlich nicht alles aus. Wir haben mit 1. Juli unser ArbeitnehmerInnen-Programm wieder neu aufgelegt – mit vielen Vorschlägen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Das Thema Prävention ist ein ganz wichtiges Thema. Österreich ist ein Präventionsmuffel, nur 1,4 Prozent der Gesundheitsausgaben gehen in Richtung Prävention. Das Vorsorgekoloskopie-Programm ist evaluiert: In zehn Jahren sind 700 Menschen so rechtzeitig untersucht worden, dass man befallene Polypen herausgezwickt hat. Die Ersparnis in den Spitälern alleine in Vorarlberg war rund 70 Millionen Euro. Ich habe schon in Auftrag gegeben, dass das Programm geprüft wird. Es ist aber wieder eine Verhandlungssache mit der ÖVP, ob sie bereit ist, es flächendeckend ausrollen.

Welche Präventionsprojekte gehen Sie noch an?

Huss: Die größten Probleme sind Lebensstil-Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, usw., die mit schlechter Ernährung, Übergewicht, Rauchen, zu viel Alkoholkonsum einhergehen. Mit gezielten Interventionen wie Bewegungsangeboten und Ernährungsberatung könnte man vieles verhindern. Es gibt das Programm der Sozialversicherung und des Bundes „Bewegt im Park“, aber wir müssen wesentlich mehr machen. Sitzen ist das neue Rauchen, Rückenprobleme der Menschen sind im Vormarsch. Niederschwellige, kostenlose Bewegungsprogramme in den Bundesländern, in den Bezirken sollen Menschen zu mehr Bewegung motivieren – das wäre ein ganz großes Ziel. Auch Alkohol ist ein wichtiges Thema. Wir haben in Wien ein Programm laufen, das nennt sich „Alkohol. Leben können“: Wir möchten Menschen, die schon in Richtung Alkoholkrankheit gehen, rechtzeitig finden und in ein Programm bringen, wo sie entsprechend betreut und behandelt werden. Alkoholsucht ist in Österreich ein Tabu-Thema. Keiner redet darüber und wir merken, dass der Alkohol von einem Genussmittel Richtung Problembewältigungsmittel geht.

Kürzlich hat Ärztekammer-Präsident Dr. Thomas Szekeres im Interview die langjährige Forderung nach 1.300 zusätzlichen Kassenstellen erneuert. Er hat gemeint, dass die ÖGK die Stellen „aus finanziellen Überlegungen“ nicht bewillige. Ist das so?

Huss: Nein, die Behauptung, dass viele Wahlärzte der Sozialversicherung Geld sparen, stimmt nicht. Wir zahlen zwar für die Wahlarztabrechnung nur 80 Prozent des Kassentarifs, aber der Verwaltungsaufwand ist enorm. Wir brauchen für 7 Prozent der Arztabrechnungen, die Wahlarztabrechnungen, 50 Prozent des Personals in den Abrechnungsstellen! 93 Prozent der Abrechnungen kommen von Kassenärzten, daran sieht man auch, wie wenig versorgungsrelevant Wahlärzte sind. Das für mich spannende Modell ist das deutsche Modell: Jeder Arzt, der will, kriegt einen Kassenvertrag. Alle anderen sind automatisch Privatärzte. Das wäre für mich das sauberste Modell, weil dann ÖÄK-Präsident Szekeres so viele Kassenstellen bekommt, wie er will – überhaupt kein Problem. Und wir hätten ein reines Kassenarztsystem. Wenn jemand kein Kassenarzt sein möchte, ist er Privatarzt mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Wie sieht es mit der Umsetzung dieses Modells aus?

Huss: Es steht im Arbeitnehmer-Programm und ich werde es mit der Ärztekammer verhandeln.

Hat das schon jemand probiert oder ist das Neuland?

Huss: In Österreich ist das deutsche Modell noch nicht diskutiert worden, das ist Neuland. Die Ärztekammer wird oder kann möglicherweise nicht zustimmen, weil das eine Einschränkung für die Wahlärzte, die sie ja auch vertritt, wäre. Ich stehe aber auf dem Standpunkt, jeder in Österreich ausgebildete Mediziner hat eine staatliche Ausbildung bekommen, die bis zu 600.000 Euro gekostet hat, und da kann man schon verlangen, dass sie für das öffentliche Gesundheitssystem einen Beitrag leisten. Eine Kompromissvariante, die wahrscheinlich eher zustande kommt, wäre, dass Wahlärzte stärker in die Pflicht genommen werden. Jetzt ist es oft so, dass der Wahlarzt Rosinen pickt. Er hat keine Mindestöffnungszeiten, braucht sich nicht an die ökonomische Verschreibweise halten und nicht am Bereitschaftsdienst mitarbeiten, usw. Wenn man Wahlärzte stärker in das Kassensystem einbindet, dann kann man auch diskutieren, ob man nicht auf 100 Prozent Kostenersatz erhöht.

Zum Ärztemangel, zumindest in bestimmten Fächern: Die Schere Kassenärzte – Wahlärzte geht immer mehr auseinander: 7.000 Kassenärzte stehen mehr als 10.000 Wahlärzten gegenüber. 2008 war das Verhältnis noch ausgeglichen. Mit Ende des ersten Quartals 2021 waren 200 Kassenstellen unbesetzt, vor allem für Allgemeinmedizin, Kinderheilkunde und Frauenheilkunde. Zudem geht jeder zweite Kassenarzt bis 2030 in Pension und die Jungen zieht es ins Ausland. Was macht die ÖGK, damit sich wieder mehr Ärzte niederlassen?

Huss: Ich möchte das in zwei Themen unterteilen, zuerst zu den Gebieten, die unterversorgt sind: Da werden wir mit vielen Modellen arbeiten müssen. Grundsätzlich ist mein Zugang, dass wir die Ärztinnen und Ärzte bei ihren Lebensumfeldern entsprechend abholen müssen. Junge Ärzte möchten zusammenarbeiten, wie ich aus Gesprächen mit der JAMÖ (Junge Allgemeinmedizin Österreich) weiß. Sie möchten in einer Gruppenpraxis arbeiten, in einer Primärversorgungseinheit (PVE) oder in Job-Sharing-Praxen. In manchen Bundesländern haben wir schon sehr gute Erfolge – ich komme aus Salzburg und da ist keine einzige Arztstelle unbesetzt, auch in Kärnten nicht. Zusammenarbeitsformen wie Job Sharing werden gut angenommen genauso die Gruppenpraxen oder die Anstellungsmöglichkeit von Ärzten bei Ärzten.

Dass Ärzte auch Ärzte anstellen können, ist noch nicht so lange möglich, das wird gut angenommen?

Huss: Das wird temporär gut angenommen, z.B. in Winterskigebieten, wo ein Arzt, der im Sommer alleine ist, von Krankenhausärzten bzw. einer Ärztin, die in Karenz ist, ein paar Stunden unterstützt wird. Ich merke einfach, die Ärzte, die am glücklichsten sind, sind Ärzte, die keinen Verwaltungsaufwand haben und sich auf die Medizin konzentrieren können, wie z.B. die PVE Haslach in Oberösterreich: Die Ärzte bekommen ein garantiertes Einkommen der letzten drei Jahre mit einem Aufschlag von fünf Prozent. Sie können sich wirklich auf Medizin konzentrieren und das machen, was für den Patienten das Beste ist. Sie müssen auch keine Sorge haben, dass sie weniger verdienen, wenn eine Krankenschwester Wundmanagement macht.

2021 sollte es österreichweit aber eigentlich schon 75 PVEs geben, es sind – je nach Quelle* aber nur 26 oder 27. Woran hakt es?

Huss: Es sind lange noch nicht 75, das ist richtig. Wir sind bei der Planung zu euphorisch gewesen. In Salzburg gibt es zwei, Ziel wären fünf. Das Problem: Im Gasteinertal im Pongau könnten drei niedergelassene Allgemeinmediziner eine PVE machen. Jetzt passt es aber den Bürgermeistern nicht, wenn die PVE z.B. in Bad Hofgastein ist, und nicht in Bad Gastein oder Dorfgastein. Und natürlich sagt der etablierte Arzt, der eine Praxis hat, die ganz gut läuft: Warum soll ich mich mit anderen zusammentun? Das heißt, eine PVE ist in Wirklichkeit etwas für junge Ärzte, die neu anfangen, die sich aus dem Studium kennen, befreundet sind. Und besonders unterstützend ist die Ärztekammer auch nicht dabei, weil sie eher die Interessen der etablierten Ärzte vertritt, die die Wortführer sind.

Sehen Sie da vielleicht ein wenig einen Schub durch Gesundheitsminister Mückstein, der als Pionier in Mariahilf die erste PVE Österreichs gegründet hat?

Huss: Ja! Er ist auf alle Fälle ein Befürworter und großer Unterstützer, weil er als Pionier selber weiß, wie gut eine PVE funktioniert.

Ganz grundsätzlich: Möchte die Politik lieber weiterhin selbständig tätige niedergelassene Ärzte oder eher ein System mit angestellten Ärzten?

Huss: Es soll beides geben. In Mühlbach am Hochkönig, Pongau, wo ich lange keinen Allgemeinmediziner hatte, bin ich froh, wenn ich jetzt den Arzt als freiberuflich Tätigen habe. Da wird man auch keine PVE hineinbringen mit 1.500 Einwohnern. In Ballungszentren wird es eher solche Zusammenarbeitsformen geben müssen – ob PVE, Gruppenpraxis, Job-Sharing-Praxis oder Anstellungen. Für jede Lebenssituation eines Arztes muss es ein entsprechendes Angebot der Kassenmedizin geben. Wir haben viele junge Ärzte, die Kinderbetreuungspflichten haben und z.B. nur fünf Stunden in der Woche in einer Kassenpraxis mitarbeiten, sie können zu dieser Zeit nur wenig versorgungswirksam sein, aber haben die Möglichkeit im Kassensystem zu sein. Bei der Zahl von mehr als 10.000 Wahlärzten möchte ich auch noch relativieren: Es gibt Spitalsärzte, die angestellt sind und dann zusätzlich noch ein paar Stunden in der Woche eine Wahlarztpraxis offen haben. Dann haben wir extrem viele junge Frauen als Wahlärztinnen, die Ordinationsöffnungszeiten von fünf bis zehn Stunden in der Woche haben – das ist auch nicht versorgungsrelevant. Dann gibt es extrem viele Hautärzte, die sich nur mehr aufs Botox-Spritzen konzentrieren – aber das hat ja nichts mit medizinischer Versorgung zu tun.

Sie haben vorhin beim Ärztemangel von zwei Themen gesprochen, was ist das zweite?

Ja, jetzt komme ich zu den ländlichen Regionen, wo es in der gesamten medizinischen Versorgung immer schwieriger wird –, ob das Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Hebammen oder Ärzte sind. Warum? Die Menschen studieren in der Stadt und wollen nicht mehr in den Lungau oder ins Lesachtal gehen. Eine Alternative, die zurzeit in Murau umgesetzt wird, ist die Versorgung über das Spital. Im Krankenhaus in Mittersill wollen wir ein PVE etablieren, um den Oberpinzgau damit zu versorgen, weil es schwierig ist, Ärzte dorthin zu bringen. Und wenn es wo überhaupt nicht geht: Es gibt nicht nur Ärzte, sondern viele Gesundheitsberufe und die Pflegekräfte können sehr viel von den Ärzten übernehmen. 80 Prozent von dem, was Mediziner bei Visiten machen, kann eigentlich eine Pflegekraft übernehmen, z.B. eine Community Nurse.

Wie sieht es mit einem einheitlichen Leistungskatalog aus, den die Ärztekammer kürzlich vorgestellt hat?

Huss: Der wird jetzt von uns analysiert. Wir wollen einen einheitlichen Leistungskatalog, das ist vollkommen klar. Es ist nicht einzusehen, warum es zwischen Vorarlberg und Burgenland unterschiedliche Leistungen gibt. Ich bin mir sicher, dass wir uns in Richtung eines einheitlichen Leistungskatalogs bewegen werden. Wir haben ja neun unterschiedliche Gesamtverträge und wir werden schauen, dass es in diesen neun Gesamtverträgen Leistungen, die es in manchen Bundesländern noch nicht gibt, überall gibt.

Noch zur Kassenmedizin oder auch Zweiklassenmedizin: Viele machen die Erfahrung, dass mit einer Zusatz- oder Privatversicherung vieles schneller geht, man bekommt einen Termin in zwei, drei Tagen, wo andere oft Monate warten.

Huss: Die Frage ist, wie akut ist etwas. Wenn ich eine akute MRI-Untersuchung brauche, ist vertraglich gesichert, dass ich sie innerhalb einer Woche kriege. Diesen Anspruch hat jeder Kassenpatient. Wenn ich einem Radiologen 400 Euro zahle, dann habe ich einen Termin in zwei Tagen. Aber wir leben in einem marktwirtschaftlichen System, wo sich die Menschen, die mehr Geld haben, das bessere Auto kaufen und die schönere Reise leisten können. Das macht auch vor der Medizin nicht Halt. Wenn der Scheich kommt und ein ganzes Krankenhaus mieten will, weil er dort operiert werden will, dann wird er das kriegen. Die Aufgabe im öffentlichen Gesundheitssystem ist, dieselbe medizinische Leistung zu bekommen und auch keine übergebührlichen Wartezeiten zu haben. Wenn ich einen Verdacht auf eine Krebsdiagnose habe, dann muss ich das sofort wissen – und das ist gewährleistet im öffentlichen Gesundheitssystem. Das ist mir einfach wichtig. Und wenn ich die jährliche Routine-Augenuntersuchung habe, dann mache ich das rechtzeitig aus und habe auch kein Problem, ein halbes Jahr zu warten.

Zurück zu den Impfungen: Viele empfinden es als Ärgernis, dass die Corona-Schutzimpfungen unterschiedlich umgesetzt werden. In manchen Bundesländern gibt es freie Impfstoffwahl, in anderen bieten Impfstraßen keine Kreuzimpfung an, in Wien haben noch gar nicht alle Altersgruppen ein Angebot. Wird das mit der ÖGK anders, wenn sie die Impfungen übernimmt?

Huss: Wenn sie ab dem nächsten Jahr zuständig sein sollte, was wir hoffen, wird es einen einheitlichen Impfplan, ein einheitliches Anmeldesystem, eine einheitliche Impfstrategie und einheitliche Vorgaben geben. Wir werden mit Sicherheit nicht neun unterschiedliche Impfsysteme aufbauen. Dass die Länder das Impfen übernommen haben, war okay, damit man es schnell auf die Füße bekommt, aber ideal ist es nicht. Da schütteln die Menschen nur den Kopf.

Apothekerkammer-Präsidentin Mag. Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr hat kürzlich erneut betont, dass Apotheken für weitere Leistungen zur Verfügung stehen, wie etwa eine Medikationsanalyse oder auch Impfungen. Was halten Sie davon?

Huss: Wenn es medizinisch vertretbar ist, ich hätte nichts dagegen. Was in anderen Ländern funktioniert, sollte auch in Österreich funktionieren. Aber es ist eine medizinische Frage, wo Ärzte auf der Bremse stehen. Es ist wahrscheinlich sinnvoll, dass die Ärzte bei einer neuen Impfung und bei Risikogruppen impfen, aber bei der breiten Bevölkerung z.B. bei der Influenza-Impfung können das aus meiner Sicht ohne Weiteres die Apotheker machen. Wenn die ÖGK in Zukunft die Impfprogramme aufstellt, wird das ohnehin nicht nur über die Hausärzte gehen, da brauchen wir auch andere Berufsgruppen. Die Medikationsanalyse unterstützen wir auf alle Fälle. Das Thema Polypharmazie ist ein ganz wichtiges Thema, das steht auch ganz prominent im Arbeitnehmer-Programm. Die Apotheker sind hier eine ganz wesentliche Gruppe. Wir haben mit dem Projekt GEMED in Salzburg schon ganz gute Erfahrungen mit den Pharmakologen gemacht.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

*https://www.sv-primaerversorgung.at/cdscontent/?contentid=10007.796743&portal=esvportal; https://primaerversorgung.org/versorgungskarte/ 

Zur Person – Andreas Huss

Andreas Brandl

Wie schon 2020 hat die Arbeitnehmerkurie auch heuer seit 1. Juli den Vorsitz in der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) inne. Neuer ÖGK-Obmann ist daher der bisherige stv. Obmann Andreas Huss, MBA, der den Arbeitgeberobmann Matthias Krenn bis Jahresende ablöst. Huss war vor der Kassenfusion Obmann der Salzburger Gebietskrankenkasse.