13. März 2024Tag der Rückengesundheit

Bewegung heilt die meisten Rückenschmerzen

Durch verkürzte Muskeln schlafen wir schon so, wie wir sitzen – quasi gekrümmt. Wieso Bewegung trotz und bei Rückenschmerz hilft, betonen die 3 Fachgesellschaften ÖGARI, ÖGPMR und ÖSG zum Tag der Rückengesundheit am 15. März.

Ischias oder Ischiasnerventzündung, Schmerzen im unteren Rücken. Frau mit Ischiasnervschmerzen im unteren Rücken.
Microgen/AdobeStock

Rund ein Viertel der Bevölkerung ab 15 Jahren in Österreich litt in den letzten 12 Monaten an chronischen Rückenschmerzen oder anderen Kreuzschmerzen. In Zahlen sind das 1,9 Millionen Menschen. Das ergab eine repräsentative Gesundheitsumfrage der Statistik Austria. Das Problem: Für Betroffene vergehen durchschnittlich 1,9 Jahre bis zur ersten Diagnose.

Und knapp ein Fünftel (18%) erhalte überhaupt keine richtige Diagnose, sagt Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, Leiter der Sektion Schmerz der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) sowie Generalsekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), bei einem Online-Talk im Vorfeld des Internationalen Tages der Rückengesundheit am 15. März.

Täglich mehr als 5 Stunden Sitzen

Likar, der auch eine der größten Schmerzambulanzen in Österreich und die Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee leitet, spricht ein weiteres Problem an: Im Schnitt sitzen wir 5,3 Stunden täglich. Österreich liege bekanntlich auch unter dem EU-Schnitt, was die Anzahl der gesunden Lebensjahre betrifft.

Ältere Frauen würden deutlich häufiger an Rückenschmerzen leiden, auch wenn prinzipiell alle Altersgruppen betroffen seien: Jede zweite über 65-jährige Frau vs. knapp ein Drittel der über 65-jährigen Männer berichten davon. Insgesamt hat der Befragung zufolge von den unter 60-Jährigen jeder fünfte, ab 60 mehr als jeder dritte Mensch Kreuzschmerzen.

Man müsse von der „kontraproduktiven Inaktivität“ bzw. dem „sitzenden Lifestyle“ zu einem aktiven Lifestyle überwechseln, unterstreicht dazu ÖSG-Vizepräsident Prim. Univ.-Prof. Dr. Richard Crevenna, Präsident-Elect der Österreichischen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation (ÖGPMR) sowie Leiter der Universitätsklinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin der Medizinischen Universität Wien.

„Sie haben nichts Gefährliches“

Die durch das viele Sitzen verkürzten Hüftbeuger wirken sich auch in der Nacht aus: „Wir schlafen dann auch so, wie wir sitzen“, weiß Crevenna. Die „Seitenschläfer“ im Bett mit angezogenen Beinen hätten quasi 24 Stunden lang eine Sitzhaltung. Wichtig sei – sofern es keine Red Flags gebe – eine „rekonditionierende, aufpäppelnde Therapie“, fährt Crevenna fort. Den Betroffenen müsse erklärt werden, dass sie „nichts Gefährliches“ haben.

Man sollte sie auch nicht krankschreiben, sondern zur Aktivität aufrufen – trotz der Schmerzen. Das unterstreicht auch Likar: Wenn man sich bewege, würden 70% der Rückenschmerzen spontan geheilt werden. Und umgekehrt würden sich die Schmerzen bei Inaktivität verschlimmern. Schmerzmedikamente seien bei akuten Rückenschmerzen durchaus angezeigt – aber möglichst nur kurzzeitig.

Bei chronischen Rückenschmerzen helfe am besten eine multimodale Therapie, u.a. eine Kombination von Medikamenten und psychologischer Betreuung. Seit 2012 gibt es am Klinikum Klagenfurt ein entsprechendes maßgeschneidertes 4-wöchiges Programm, die Multimodale Schmerztherapie (MMSTh) am Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin – ZISOP.

Multimodale Therapie: „Mit Genuss Gewicht verlieren“

Bisher habe man rund 1.700 Patientinnen und Patienten behandelt, die enorm profitiert hätten, berichtet Likar. Dabei werde die Therapie individuell abgestimmt – es mache z.B. einen Unterschied, ob jemand 120 oder 90kg habe. Wichtig seien kleine Schritte, dann merken die Patientinnen und Patienten, „es geht etwas weiter“. Man könne auch „mit Genuss Gewicht verlieren“, spricht Likar die ernährungsmedizinische Gruppenschulung mit kalorienarmen, aber gutschmeckenden Lebensmitteln an.

Auch den Gruppeneffekt dürfe man nicht unterschätzen, betont Likar, da die Betroffenen andere sehen, die sich in der gleichen Lage befinden. Erst kürzlich habe eine Publikation aus Deutschland gezeigt, dass die multimodale Therapie auch mit kleinen Schritten sehr viel bewirken könne: Ältere Personen, die schon in Pension sind, hätten eine „Freude“, wenn sie nach 4 Wochen wieder selbst die Schuhe zubinden können, so Likar.

Existenzsicherung und Sinn im Job

Bis ca. 60 Jahre sei das Ziel eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, sagt Crevenna. Da gehe es nicht nur um die Existenzsicherung, sondern auch um den „Sinn“ einer Beschäftigung. Wie Likar unterstreicht auch Crevenna das Commitment mit den Patientinnen und Patienten. Sie sollen das tun, was sie gerne machen. Auch die Ernährungstherapie müsse so gestaltet sein, dass sie beibehalten werden kann.

Bei Übergewicht spielen zudem degenerative Veränderungen an den Gelenken eine Rolle, die bei vermehrter Bewegung Schmerzen bereiten. Hier sei z.B. eine Wassertherapie eine gute Möglichkeit. Die Wichtigkeit der psychologischen, psychotherapeutischen Interventionen hebt Crevenna ebenfalls hervor. Denn man dürfe eines nicht vergessen: Man könne einerseits nicht geistig angespannt und andererseits körperlich entspannt sein und umgekehrt.

BMSGPK und ÖÄK: Leitlinie Kreuzschmerz 2018

Likar erkennt auch an, dass gesundheitspolitisch und fachpolitisch in der Versorgung der Menschen mit Rückenschmerzen viel weitergegangen sei – Stichwort Leitlinie Kreuzschmerz 2018, die unter dem Vorsitz des Gesundheitsministeriums (BMSGPK) gemeinsam mit der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) erarbeitet wurde. Dennoch: „Patientinnen und Patienten haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten!“

Es könne nicht sein, dass Betroffene Bewegung verweigern und erwarten, dass nur Ärztinnen und Ärzte Leistung erbringen. Crevenna unterstreicht so wie Likar ebenfalls die „Eigenverantwortung“ der Patientinnen und Patienten. Die Leitlinie sei gut, sein Wunsch wäre aber, dass sie auch flächendeckend in ganz Österreich angewendet werde – das sei bisher noch nicht der Fall.

Enorme volkswirtschaftliche Kosten

Rückenbeschwerden würden nicht nur individuelles Leid verursachen, sondern auch das Gesundheitssystem enorm belasten, betont ÖSG-Präsident ao. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Universitätsklinik für Neurochirurgie, Medizinische Universität Innsbruck. Demnach übersteigen die volkswirtschaftlichen Kosten die direkten Behandlungskosten erheblich.

„Die Ausgaben für Rückenschmerzen sind eine signifikante Belastung für die Volkswirtschaft“, gibt Eisner zu bedenken. Geeignete präventive Maßnahmen könnten diese Kosten reduzieren. Die ÖSG nennt als Schlüssel dazu die „Bewegung für alle“ und verweist auf die Kampagne „BEWEG Dich!/Move4you©“, eine Kooperation mit der Merkur Versicherung.

Eisner hebt auch die fundamentale Rolle der Haltemuskulatur und der Beckenaufrichtung hervor: „Um Rückenschmerzen effektiv zu begegnen, müssen wir die Muskulatur an den Oberschenkel-Innenseiten und die Bauchmuskulatur als Gegenspieler zu den Rückenstreckern trainieren und uns unserer ständigen Fehlhaltung bewusst werden.“ Es sei essenziell, „das Schambein nach oben zu ziehen, die Bauchmuskeln aktiv nach innen zu ziehen und den Po nach unten zu ziehen“, erklärt Eisner die Korrektur der Beckenaufrichtung.

Gekrümmte Wirbelsäule mit Folgen bis zum großen Zeh

„Wir kommen mit einer geraden Wirbelsäule auf die Welt, und im Alter wird sie immer gekrümmter“, fährt Eisner fort. Diese Krümmung sei nicht nur für Rückenschmerzen verantwortlich, sondern auch für Probleme mit den Hüften oder den Zehen bei einem Hallux valgus. Diese Fehlhaltung sei vielen nicht bewusst. Eine Korrektur könne langfristig die Lebensqualität und die Entstehung von Schmerzen verhindern.

Die ÖSG unterstreicht abschließend, wie bedeutend eine „individuell abgestimmte Behandlung“ sei, die frühzeitig ansetze und sowohl medikamentöse als auch nicht-medikamentöse Therapieansätze integriere. „Neben der Bewegung sind eine ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes, Stressmanagement und eine ausgewogene Ernährung wesentliche Säulen der Prävention und Behandlung von Rückenschmerzen“, ergänzt Crevenna und verweist auf seinen 2022 erschienenen multiprofessionellen Ratgeber „Rückenschmerzen – vorbeugen und aktiv behandeln“.

Quellen:
Online-Talk der ÖGARI und ÖGPMR, 4.3.2024
Presseaussendungen der Österreichischen Gesellschaft für Schmerzmedizin (ÖSG)